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Nr. 175

Samstag, den 30. Juli 1927

101. Jahrgang

Die deutschen Dokumente über Orchies

Die Dienstberichte sprechen die Wahrheit

TU Berlin, 29. Juli. Von deutscher amtlicher Stelle wer­den heute die ausführlichen Dokumente zur Orchiesaffäre veröffentlicht.

Bei dem ersten Dokument handelt es sich um einen Aus­zug aus dem schriftlichen Bericht des Frhr. von Stol­zingen, des Führers der bei den Vorgängen beteiligten Abteilung der freiwilligen Krankenpfleger vom 26. Septem­ber 1914. Nach diesem Bericht erhielt die Kolonne am 28. September, ungefähr 1 km von Orchies entfernt, plötzlich Feuer. Der Führer der Kolonne, Oberstabsarzt Morgen­rot, gab darauf Befehl, umzukehren. Zur Deckung des Rück­zuges nahmen die mit Karabinern bewaffneten militäri­schen Transportmannschaften und Chauffeure das Feuer auf. Die Angreifer, teils uniformiert in roten Hosen, teils Franctireurs, seien zahlreich gewesen. Von den sieben Krankentranspvrtautos seien vier zurückgekommen; bei der Rückkehr hätten sieben Sanitäter und der Oberarzt Lichten- berger, der zweite Führer der Kolonne, gefehlt. Am 25. sei dann das bayerische Festungspionierbataillon Ingolstadt nach Orchies entsandt morden. Von Gräbern habe man keine Spur gefunden. Nachfragen bei Einwohnern von Or­chies und einem dort gefundenen deutschen Verwundeten vom 24. September seien ergebnislos geblieben. Auch von den drei fehlenden Autos sei keine Spur zu entdecken ge­wesen.

Das zweite Dokument enthält in wörtlicher Uebersetzung den Bericht des französischen Krankenpflegers und Geist­lichen I. Caudon vom 26. September 1914. Caudou stellt einleitend fest, daß er die volle Wahrheit sage und gibt dann eine eingehende Schilderung seiner Erlebnisse. Danach sei dem Komitee vom Roten Kreuz in Lille am 25. September gemeldet worden, baß in Orchies infolge des Kampfes vom Tage zuvor hilflose Verwundete und auf den Feldern viel­leicht noch unbegrabene Tote seien und daß Greise mit Nah­rungsmitteln versehen werden müßten. Er habe sich darauf mit Kameraden unter Mitnahme von Lebensmitteln und ärztlichem Bedarf auf den Weg gemacht. An der Eisenbahn­linie habe man drei Leichen gefunden; an ihnen habe man zum ersten Male mit Bedauern die törichten, zwecklosen Grausamkeiten festgestellt, die an den Toten zu bemerken waren. Die Unglücklichen seien ganz ausgeraubt worden, sogar die Strümpfe habe man ihnen genommen. Später sei er vor den Kommandanten gekommen, der ihm seine Em­pörung über die begangenen Gewalttaten aussprach und ihm abgeschnittene Finger und zerstörte sowie ansgerijsene Augen zeigt.e Er, Caudon, habe dem Kommandanten sein Bedauern ausgesprochen. Caudon erklärt dann wörtlich wei­ter:Wem sind diese Taten zuzuschreiben?" Dreierlei kan» ich mit Bestimmtheit sagen:

1. Unter unseren Truppen waren Turkos und man weiß, wie viel Mühe es unseren Offizieren oft machte, diese afrika­nischen Truppen von Unmenschlichkeiten und Unvorsichtig­keiten abzuhalten. Die Leichen lagen einzeln, die Aussicht durch die Offiziere war also schwierig.

2. Die Bevölkerung von Orchies hatte sich aus dem Dorf völlig zurückgezogen und der Tag zuvor scheint also keine Rolle in der Angelegenheit gespielt zu haben.

3. Soviel ich weiß es ist mir gesagt worden haben Landstreicher, die es ja leider überall gibt, heute früh Lei­chen gestohlen."

Am Schluß seines Berichts schreibt Gaudon wörtlich: Auf Wunsch des Herrn Kommandanten füge ich folgendes hinzu: Ich habe etwa 20 Soldaten gesehen, die so verstüm­melt waren.

Ich habe Gesichter gesehen, die mit Instrumenten zerfetzt waren, die keine Kriegswaffen sind."

Bei dem dritten Dokument handelt es sich um die Nie­derschrift des französischen Pfarrers Louis Ducroquet aus Flinesles Raches. Er stellt darin fest, daß die Leich- nahme deutscher Soldaten, die er am 25. September in Or­chies gesehen habe, Spuren zahlreicher grausamer Verletzun­gen trugen.

Das vierte Dokument enthält den dienstlichen Tatbe­richt der beiden Bataillonsärzte Dr. Neu mann und Dr. Grttnfelder vom 26. September 1914. In diesem Bericht wird festgestellt, daß bei sämtlichen Toten, die bei Orchies gefunden wurden, die immer wiedcrkchrcnde Erscheinung auffiel, daß der Leichnam seiner Schuhe und Strümpfe be­raubt und sämtlicher Erkennungszeichen bar war. Der erste Tote, den man gefunden habe, sei von rückwärts niebcrge- schossen worden, habe aber auf dem Rücken gelegen und

Mund und Nasenlöcher seien mit Sägespänen vollgepropft gewesen. Nach weiteren Absuchungen des großen Feldes habe man noch zwanzig Soldaten gefunden. Ein Mann, der eine Hiebverletzung am rechten Ohr erhalten habe, habe Zeichen barbarischer Mißhandlungen aufgewiesen. Das linke Ohr sei glatt abgeschnitten gewesen; das Gesicht habe blau­rot ausgeschen, eine Folge des Erstickungstodes, an dem der Mann zngrundegegangen war, und Nase und Augen seien mit Sägespänen vollgepfropft gewesen. Am Hals seren Würgemerkmale zu sehen gewesen. Am barbarischtcn seien die Leute der Umgegend mit einem Mann umgegangen, dem die Augen ausgestochen waren. Das rechte Auge sei voll­kommen enthöhlt gewesen, das linke Auge ausgelaufen. Aus festgestellten Tatsachen habe sich ergeben, daß ein großer Teil der Leute unverwundct in die Hände der Feinde gefallen sei. D ie Feinde hätten Fluchtversuche dadurch zu verhindern gesucht, baß sie den Verwundeten die Hosenträger abschnit- ten und sämtliche Knöpfe abtrennten und sie der Schuhe be­raubten.

Das fünfte Dokument enthält die eidliche Aussage des Hauptmanns Düll vom bayerischen Pionierbataillon In­golstadt vor dem Gerichtsoffizier Leutnant d. R. Neuendorff in Wiesbaden, datiert vom 30. Dezember 1914. In dem Be­richt wird festgestellt, daß beim Absnchen des Geländes um Orchies 21 Tote vom 36. Landwehxregiment gefunden wor­den seien. Sämtliche Toten seien den in Orchies noch leben­den Eimvohnern gezeigt worden, damit diese sich selbst von dem Zustande der Leichen überzeugen könnten. Allen Leichen hätten außer der Uniform und den Strümpfen sämtliche an­deren Ausrüstungsstücke, alle Wertgegenstände, der Taschen­inhalt, die Erkennungsmarke und die Soldbücher gefehlt. Alle hätten Spuren gewaltsamer Tötung gezeigt. Bei fast allen seien die Oeffnungen des Gesichts mit Sägemehl ver­stopft gewesen. Bei einer Leiche war der Zeigefinger der linken Hand bis auf den Knöchel abgeschnitten gewesen. Man habe den Eindruck gehabt, baß den Leuten, um die Ringe zu erhalten, die Finger von den Händen abgetrennt wurden. Bei zwei anderen Leichen seien die Ohrmuscheln vom Kopf abgeschnitten worden. Bei fünf anderen Leichen seien die Schädeldecken anscheinend mit stumpfen Instru­menten, etwa mit Kartoffelhacken, anfgespalten gewesen. Die Zerstümmelungen der Hände hätten den Schluß zugelassen, daß sich der betreffende jedesmal gegen eine Anzahl von Menschen verteidigen mußte, von denen er wohl langsam zu Tode gemartert worden sei. Hauptmann Düll erklärt dann weiter, daß hinsichtlich der sämtlichen vorbeschriebenen Fälle seitens der in Orchies zurückgebliebenen etwa 50 Personen die volle und alleinige Schuld auf einen anarchistischen Teil der Ortsbevölkerung und einige nicht näher bezeichnet« Frauen geschoben wurde. Hiergegen habe jedoch völlig das Verhalten der Bevölkerung von Orchies gesprochen. Anstatt wie in sämtlichen umliegenden Ortschaften, deren'Bevölke­rung sich nichts habe zuschulden kommen kaffen, in ihren Wohnungen zu bleiben und ihrer Beschäftigung nachzugehen, sei die ganze Bevölkerung von nahezu 5000 Personen außer den genannten Zurückgebliebenen einschließlich des Pfarrers und des Bürgermeisters ausgewandert.

TU. Paris, 30. Jnli. Der nationalistische Jntransigeant knüpft an die offiziöse Berliner Darstellung über die Zer­störung von Orchies an, um Deutschland erneut der Lüge zu besichtigen. Wenn die deutsche Behauptung zutreffen würde, so schreibt das Blatt, daß Orchies wegen der fran­zösischen Brutalität zerstört worden sei, so hätte Deutsch­land die authentischen Urkunden veröffentlicht. Diese be­stünden aber nicht, dagegen gebe es Hunderte von Zeugen für die Brutalität der deutschen Soldateska, die besonders in den ersten Kriegsmvnaten die Bevölkerung der besetzten Ge­biete behandelt habe, wie man noch nie Indianer oder Kan­nibalen behandelt habe. Frankreich sei bereit, alles dies zu vergessen, oder wenigstens mit dem Schwamm darüber hin­wegzuwischen, wenn nicht Deutschland versuchen würde, aus dem französischen Schweigen einen Beweis seiner Unschuld zu machen, um seine Verantwortlichkeit mit allen ihren Fol­gen ausznlöschen.

Vor dem Abbruch in Gens?

Sondersitzung des englischen Kabinetts.

TU London, 30. Juli. Ganz unerwartet ist gestern abend das englische Kabinett zu einer Sitzung zusammengetreten. Die Minister wurden z. T. durch Kuriere zu dieser Sonder­besprechung geladen. Man nimmt an, baß in dem Kabi­nettsrat, in dem Chamberlain den Vorsitz führte, die letzte

Tages-Spiegel

Die Reichsregicrung veröffentlicht die Dokumente über Orchies.

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Gegenüber der Darstellung des Staatssekretärs Loker Lamp» son hält man in Berlin entschieden daran fest, daß Deutschland seine Entwaffnungsverpflichtungcn erfüllt habe.

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England veröffentlicht seine Vorschläge über die Flottem stärke der drei großen Seemächte. In Amerika finden diese Vorschläge keine Billigung. Die Aussichten auf eine Einigung in Genf werden sehr ungünstig beurteilt.

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Um einen Ansporn für den deutschen Ozeanslug zu geben und die Schaffung eines sicheren Flngweges Berlin-New- york zu geben, haben sich bisher unbekannte Spender ent­schlossen, dem ersten deutsche« Ozeanfliegcr eine Summe von 100 000 Mark znr Verfügung z« stellen.

*

In China find bei einer Riesenitberschrvemmung 10 000 Men­schen ertrunken.

Entscheidung der englischen Regierung über die Genfer See­abrüstungskonferenz gefallen ist.

Wachsender Pessimismus in Genf.

TU. Gens, 29. Juli. In maßgebenden Kreisen der Ab­rüstungskonferenz wird heute abend allgemein mit der Möglichkeit eines Abbruches der Konferenz am Montag ge­rechnet. Die Entscheidung liegt gegenwärtig ausschließlich bei der Washingtoner Negierung. Die japanische Delega­tion lehnt nach ihrer gestrigen Erklärung in der Führer, besprechung jeden offiziellen Vernritlungsversuch zwischen der englischen und amerikanischen Delegation ab; persönliche Vermittlungsversuche einzelner japanischer Delegierten zur Herbeiführung eines Kompromisses zwischen England und Amerika sind ohne Resultat verlaufen. Gegenüber dem Haupteinwand der amerikanischen Delegation, der dahin geht, daß die neuen englischen Abrüstungsvorschläge nur geringfügige Abweichungen gegenüber den früheren auf- weisen, wird von englischer Seite mit großem Nachdruck darauf hingewiesen, daß die Amerikaner bisher ihr eigenes Abrüstungsprogramm gar nicht bekannt gegeben haben; die Delegation hätte sich bisher darauf beschränkt, weitgehende Kritik an den englischen Vorschlägen zu üben. Die Aussich­ten für eine Einigung zwischen England und Amerika müs­sen als äußerst gering angesehen werden, falls nicht die an- gcfordcrten Instruktionen aus Washington den Wunsch für neue Verhandlungen äußern, womit jedoch von amerikani­scher Seite heute nicht gerechnet wird. Hinter den Kulisse» der Konferenz wird bereits nach einer Formel gesucht, die einen formellen Abbruch der Konferenz verschleiern soll. Im Falle einer kategorischen Ablehnung der englischen Vorschläge durch die amerikanische Regierung soll, wie ver­lautet, eine Vertagung der Konferenz auf sechs Monate in Erwägung gezogen werden.

Lampson und die deutsche Abrüstung.

TU. Berlin, 30. Juli. Die gestrige Antwort des eng­lischen Staatssekretärs Lampson auf eine UnterhauSanfragc bezüglich der deutschen Abrüstung hat in Berliner diploma­tischen Kreisen offenbares Erstaunen ausgelöst. An zustän­diger Stelle weist man darauf hin, baß die Erklärungen Loker Lampsons ungenau und sehr mißverständlich seien. Wenn der Staatssekretär dem Reuter-Auszug zufolge ge­sagt hat, daß außer der Schleifung der Ostfestungen auch noch andere Punkte der deutschen Entwaffnung offen gestan­den hätten, deren Erfüllungen die Anforderungen noch nicht befriedigt habe, so weist man demgegenüber auf dqs Genfer Protokoll vom Dezember 1926 hin, in dem durch die Ver­treter Deutschlands und der Mächte der Botschafterkonserenz mit Genugtuung festgestellt worden ist, daß über den größ­ten Teil der mehr als hundert Fragen der deutschen Ent­waffnung Verständigung erzielt worden sei und nur ?wci Fragen noch ausstünden. Diese beiden Fragen waren die der Ostfestungen und das Kriegsgerätegesetz, die inzwischen beide erledigt morden sind. Es ist bereits gestern darauf hin- gewiese» worden, daß nach Vereinbarung mit den Mächten der Botschafterkonferenz gewisse untergeordnete Punkte, zu denen die vomDaily Telegraph" beanstandeten Küstenge­schütze an der Ostsee und die Frage des Verkaufs der ehe­maligen deutschen Kasernen gehören, programmaßig abge- wickelt werden.