Begnadigungsordre werden allgemeinen Beifall finden. Sie enthält nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig. Insbesondere ist es anzuerkennen, daß die wegen Miß- Handlung oder vorschriftswidriger Behandlung auferlegten Strafen nicht unter diese Begnadigung fallen, und wir versprechen uns von dieser bei einem so feierlichen Anlaß gemachten sehr bezeichnenden Ausnahme eine außerordentlich gute Wirkung. Es bestehen schon nicht wenige Kabinettsordres, in denen die Mißhandlung Untergebener mit scharfen Strafen bedroht wird; noch niemals aber ist es durch die That so einschneidend ausgesprochen worden, daß diese Mißhandlungen Vergehen bilden, die nicht verziehen werden sollen.
— Die „Hamb. Nachr." schreiben am Schluß eines Artikels über den Geburtstag des Kaisers: „Eine weitere Erhöhung der Bedeutsamkeit des heutigen Tages wird vielfach darin erblickt, daß sie den Anlaß dazu geboten hat, den Fürsten Bismarck nach erneutem kaiserlichen Gnadenbeweise zum erstenmal wieder seit der Entlassung an den Berliner Hof zurückzuführen, um Seine Majestät persönlich zu beglückwünschen. Die Vorgänge, über die der Telegraph berichtet hat, werden das Empfinden des deutschen Volkes wohlthätig beeinflussen und mancherlei vergessen machen. Das wird immerhin als ein nicht zu unterschätzender Gewinn betrachtet werden können. Im übrigen dürfte es rötlich sein, sich bis auf weiteres der Annahme zu enthalten, daß den gestrigen Ereignissen Einfluß auf den Gang der jetzigen Politik beizumessen sei. Wenn wir auch die Stimmung, die in manchem begeisterten Zeitungsartikeln der letzten Tage zum Ausdrucke gelangt ist, sehr wohl verstehen können, so halten wir eine Mahnung zur Besonnenheit doch für nützlich."
Tages-Keuigkeiteri.
* Unterhaugstett, 27. Jan. Bei der heutigen Schultheißenwahl wurde Gememderat Adam Volle mit 47 von 52 abgegebenen Stimmen zum Ortsvorsteher gewählt.
— DieUntertürkheimer Hochzeitsgeschichte hat dem „Beobachter" folgende Zuschrift eingebracht: „Geehrte Redaktion des Beobachter! In Nro. 20 Ihres Blattes befindet sich eine Notiz, welche sich darüber lustig macht, daß mein früherer Bräutigam Gottlieb Beurer kurz vor der Hochzeit deshalb sich „gedrückt" habe, weil ich einen Brautschleier verlangt hätte. Dies entspricht den thatsächlichen Verhältnissen nicht, denn Herr Gottlieb Beurer war mit dem Brautschleier einverstanden, nur seine Eltern nicht, und diese verstanden so weit auf ihn einzuwirken, daß er vor der Hochzeit verschwand. Der Hauptgrund ist der, daß ich „kein Vermögen" besitze. Möge er mit einer „Reichen" glücklich sein. Im übrigen wird die Sache vor Gericht ihren Abschluß finden. Achtungsvoll Emilie Wolf."
Plochingen, 29. Jan. Heute nacht nach 2 Uhr wollte ein Heizer von Rottweil, welcher im hiesigen Dienstgebäude übernachtete, zu seiner Maschine gehen, um dieselbe anzuheizen. Er wurde aber, während er über die Schienen des Bahngeleises ging, von dem um 2'/, Uhr von Horb herkommenden Schnellzuge überrascht, so daß er unter denselben zu liegen kam und ihm der Kopf vom Leibe getrennt wurde. Der Leichnam wurde in das Leichenhaus des hiesigen Johanniterspitals verbracht.
Reutlingen, 28. Jan. Heute nacht 12 Uhr wurden die Feuerzeichen gegeben. Es brannte in Wannweil, wo in einem Magazin der Firma Hartmann und Seemann, wie man hört durch Selbstentzündung feuchter Wolle, ein Brand ausgebrochen war, der bis zum Morgen das Gebäude und bedeutende Vorräte an Wolle und sonstigen Rohstoffen vernichtete. Der Schaden, der nicht unbedeutend sein soll, ist durch Versicherung gedeckt.
Spaichingen, 26. Jan. (Naturalverpflegung.) Noch nie seit ihrem Bestehen hat die hiesige Verpflegungsstation seitens „armer Reisender" einen solchen Zuspruch erfahren, wie Heuer; es sinv Tage, an denen einer dem Andern die Thür in die Hand giebt und über 20 Nachtkarten ausgestellt werden müssen. Und nicht als ob infolge dessen der Häuserbettel nachließe — im Gegenteil er floriert mehr als je und nicht nur hier sondern überall. Zu der Zahl der Arbeitslosen gesellen sich in neuerer Zeit namentlich viele reisende Kommis und Schreiber, die „momentan" stellenlos geworden sind; freilich kann man manchem von ihnen im Gesicht ablesen, daß ihm das „Schnurrantentum" bester gefällt, als das Arbeiten. Wohl heißt es, man solle die Zusprechenden ab und zur Verpflegungsstation weisen. Aber wer thut das gerne, wenn er einen so durchfrorenen, ausgehungerten Kameraden sein Käppchen ziehen sieht und gar so beweglich um eine Gabe bitten hört? Wer thut es gerne in einer Zeit, in der eine einmal nicht zu leugnende Geschäftsflauheit herrscht? In einer Zeit, da man ja in jeder Zeitung liest, man solle die hungernden Vögelein füttern! Wen sollte es da nicht eines armen Menschenkindes erbarmen? Es ist ja nur zu wahr, daß Gutherzigkeit von den wandernden Gesellen oder vielmehr „Stromern" mißbraucht wird, und daß der Pfennig, den Mitleid ihnen spendet, demnächst in Schnaps aufgeht. Allein wer will diese „Böcke" herausfinden und so giebt man eben lieber auf die Gefahr hin, daß ein unwürdiger professioneller Fechtbruder unterstützt wird. — Welch ein Unterschied zwischen heute und der Zeit vor 30 Jahren! Während bei uns reisende Handwerksbursche damals zur Seltenheit gehörten, bevölkert heute ein Heer von Arbeitslosen, zum Teil aber auch nicht arbeiten wollenden Burschen im kräftigsten Alter die Straßen und das Stromertum ist zur Landplage geworden! (Anmerkung: Die im vor. Jahr seitens der Sozialdemokratie gezählten 2086 „Arbeitslose" in
Stuttgart waren meist Bauhandwerker. Nur etwa 600 waren andere Arbeiter; als man diesen Arbeit nachwies meldeten sich nur — 255. D. R.) — Wenn wir Eingangs sagten, es werden oft über 20 Nachtkarten abgegeben, so müssen wir ergänzend beifügen, daß die Karten für Mittagessen nur ganz wenig — höchstens 2 bis 3 verlangt werden! Daß auf diese Weise der löbliche Zweck der Verpflegungsstation nicht erreicht wird, ist einleuchtend.
Heidenheim, 26. Jan. Ein tragisches Geschick ereilte den in weiten Kreisen bekannten Thonwarenfabrikanten A. Authenrieth hier. Derselbe begab sich in Geschäften nach Ulm, fühlte sich aber dort plötzlich unwohl und benützte den nächsten Zug zur Rückfahrt. Zu Hause angekommen, wollte er sofort zu Bette, bevor er jedoch dies ausführen konnte, traf ihn ein Gehirnschlag, und er sank als Leiche nieder. Die Stadt verliert an ihm einen biederen fleißigen Bürger und einen tüchtigen Industriellen.
Ulm, 28. Jan. Ein größerer Gelddiebstahl wurde in der Nacht vom Freitag auf Samstag bei einem hiesigen Kaufmann verübt. Derselbe war am Freitag Abend von einer Geschäftsreise zurückgekehrt und hatte aus Versehen in der inneren Brusttasche seiner Weste seine Brieftaschen mit einem Inhalt von 1315 ^ in Banknoten stecken lassen, als er sich zu Bett legte. Die Weste war durch das Dienstmädchen in den Hausgang gehängt worden. Am andern Morgen waren die Brieftaschen nebst Inhalt aus der letzteren gestohlen. Zwei im Hause bedienstete Mädchen, von welchen die eine das Hofthor, die Hausthüre und die Vorplatzthüre nicht abgeschlossen hatte, sind als verdächtig in Haft genommen worden.
Ulm, 29. Januar. Das Loos der Ulmer Münsterbaulotterie,auf welches der erste Preis mit 75 000 fiel, soll von der Hauptagentur Karl Heintze in Berlin nach Amerika verkauft morden sein.
Ulm, 30. Jan. In einem Hause in der Krapfengasse, dessen Bewohner sich auf der Hochzeit des Sohnes des Hausbesitzers befanden, hatte die Bedienung gestern Abend 2 verschlossene Bettflaschen in den gut geheizten Ofen gestellt. Gegen 11 Uhr explodierte eine derselben und sprengte den Ofen mit einem kanonenschußartigen Krach auseinander. Die Ofenteile zertrümmerten Alles, was sich im Zimmer befand, u. a. auch die Hochzeitsgeschenke, die in das Zimmer gebracht worden waren; auch wurden in Folge der Explosion die Vorfenster aus die Straße geschleudert. Die brennenden Kohlen wurden im Zimmer herumgeworfen und nur dem raschen Eingreifen eines in der Nähe patrouillierenden Schutzmanns und eines Nachbarn ist es zu verdanken, daß nicht ein Brand ausbrach.
Hechingen, 29. Jan. Wie den „H. Bl." mitgeteilt wird, ist gestern vormittag in der Nähe des
Sie Ihren Hut und den durchnäßten Mantel ablegen. Sie würden sich in diesen feuchten Kleidungsstücken ja auf den Tod erkälten."
Er beugte sich über sie herab, um ihr behülflich zu sein, und er verfuhr dabei so zart, als eS ihm bei seiner Unerfahrenheit in solchen Ritterdiensten nur immer möglich war. Ohne Widerstreben ließ Erna ihn gewähren. Eine gewisse träumerische Mattigkeit in ihrem Blick war Beweis genug dafür, daß sie ihre Lage noch garnicht mit voller Klarheit begriff.
„Leider werde ich genötigt sein, Sie auf eine kurze Zeit ^allein zu lassen," fuhr Günther fort, nachdem er sie glücklich von der schweren, naßkalten Umhüllung befreit hatte, „denn es ist augenblicklich keiner meiner Hausgenoffen anwesend. Aber ich werde nicht länger als eine Viertelstunde au-bleiben, und es wird mir hoffentlich möglich fein, gleich einen Arzt mitzubringen."
„Nein, nein, keinen Arzt!" wehrte sie ab. „Mir fehlt nichts, und ich brauche nur Ruhe. — Aber ich leide unter einem entsetzlichen Durst. Wenn Sie mir einen Trunk Waffer gewähren könnten —"
Günther erinnerte sich, daß noch einige Flaschen alten Portweins vorhanden sein müßten, die er vor mehreren Monaten bei einer vorübergehenden Krankheit seiner Vaters als Stärkungsmittel gekauft hatte. Er beeilte sich, eine von ihnen zu öffnen und Erna das gefüllte GlaS zu reichen.
„Das wird unzweifelhaft bessere Dienste leiste« als Waffer," meint« er. „Aber Sie muffen es auch bis auf den letzten Tropfen trinken."
Sie zauderte zwar, aber als Günther fortfuhr, ihr ermutigend zuzusprechen, setzte sie das GlaS gehorsam an die Lippen. Und das feurige Rebenblut übte rasch seine belebende Wirkung auf ihre erschöpften Nerven Sie richtete sich auf, und jener erste Ausdruck der Bestürzung erschien wieder auf ihrem Gesicht.
„Sagen Sie mir nur um GottrSwillen, wie ich hierher gekommen bin," bat sie. „Mir ist ja, als wäre ich im Traum."
„Sie wurden auf der Treppe von einer Ohnmacht befallen, und ich brachte
Sie hierher in meine Wohnung, weil unS diese am nächsten war. Ich hoffe, Fräulein Erna, daß Sie sich vollkommen sicher fühlen unter meinem Schutze."
Sie strich sich mit der Hand über Stirn und Augen und blieb ihm ein paar Minuten lang die Antwort schuldig. Aber als Günther dann schüchtern fragte, ob er jetzt gehen solle, schüttelte sie mit Entschiedenheit den Kopf.
„Nein — bleiben sie noch ich bitte sie darum! — Welche Meinung müssen Sie nur nach alledem von mir gewonnen haben! — In welchem Lichte muß ich Ihnen erscheinen!"
In seiner schlichten, herzlichen Weise wollte er sie darüber beruhigen; doch Erna litt unverkennbar sehr schwer unter der Pein einer Beschämung, die nur um so niederdrückendcr wurde, je mehr ihr das Ungewöhnlich« ihrer Lage zur Erkenntnis kam.
„Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig." sagte sie, und Sie dürfen sich nicht weigern, mich anzuhörcn, denn ich würde es nicht ertragen, daß Sie schlecht von mir denken."
ES war umsonst, daß er sie zu überzeugen suchte, wie grundlos eine solche Befürchtung sei und daß er sie bat. sich noch zu schonen. Sie beharrte auf ihrem Willen, und er fügte sich, da er sah, wie sie sich quält«.
„Ich sagte Ihnen, daß ich geradeswegS von Pari» komme; aber es sind nicht die geringfügigen Strapazen der Reise, die mich in diesen kläglichen Zustand gebracht haben. Ich habe eine furchtbare Zeit durchlebt, eine Zeit ohnmächtigen, verzweifelten Kampfes gegen die Willkür und Brutalität schlechter Menschen. Das HauS, in welchem ich länger als ein Jahr gelebt hatte, mußte ich verlassen, weil mir darin eine tötliche Beschimpfung zu teil geworden war. Ich that es gegen den Willen derjenigen, die mich beleidigt hatten, und weil sie fürchten mochten, daß ich nicht schweigen würde über das, was man mir gethan, verfolgten sie mich mit ihrem Haß. O, Sie können nicht ahnen, was in Paris der Haß einflußreicher Persönlichkeiten für ein schutzloses Mädchen bedeutet, zumal, wenn es obendrein das Unglück hat, eine Deutsche zu sein. Ich selber wußte «» ja nicht, denn ich würde sonst vielleicht.