eilage zum „Calwer Wochenblatt"
Nro. 61 .
Aetticteton.
- Nachdruck vnboten.
Wojarenscherze.
Novelle von Eduard Wilde aus dem russischen Leben.
(Schluß.)
In der Schalterthüre erschien Ossip Petrowitsch. Er bebte vor Aufregung. Mit gespreizten Fingern fuhr er sich wie mit einem Kamm durch den Hängebart; es zuckte in seinem ganzen breiten Löwengesicht.
„Du bist'S Kölsa?"
„Ich bin's. Ich grüße Dich, Vater."
„Aus dem Gefängnis."
Er sagte eS mhig, beinahe gleichgültig, und schaute dem Alten mit zärtlicher Neugierde gerade in's Gesicht. Dieser geriet ei» wenig aus der errungenen Fassung.
„Gut; darüber später", brummte er, „jetzt haben wir etwas anderes zu thun, Du, Kolja, Du mußt Deinen Rat geben. . . Sieh', hier steht Fürst Anatol, in Nacht und Regen hergefahren. Wozu? Um Lenuschka mitzunehmen, zu einem Schwerverwundeten zu bringen, der nach ihr in Fieberphantasien verlangt. Jetzt milten in der Nacht, und auf's Schloß — begreifst Du mich, Kolja?"
Der Fürst trat hinter dem Rücken des Sprechenden hervor und schaute unsicheren, prüfenden Blickes Kolja Ossipowitsch an. Dieser nahm ruhig das Wort: „Ich habe schon unterwegs, auf der letzten Poststatwn, über den erschütternden Vorfall gehört; wenn es nicht so spät Nachts gewesen wäre, so hätte ich in Wol- konskje angehalten und meinen armen Freund besucht. Das Unglück soll in Folge einer thätlichen Beleidigung von Setten seines Vaters geschehen sein, er hat einen Selbstmordversuch gemacht."
Der junge Mann blickte den Fürsten durchdringend an. Dieser wich entsetzt einen Schritt zurück.
„Wa—as?" stotterte er; „die Leute erzählen — wissen es?"
„Die Leute fügen noch Verschiedenes hinzu — über die Ursachen des Streites und — na, übrigens will ich mich der Situation anpassen; Sie sind also, Durchlaucht, hergefahren, um meine Schwester auf's Schloß zu führen, weil der Patient nach ihr verlangt —"
„Ja, als Braut seines Sohnes", schaltete Ossip Petrowitsch hastig ein, dabei mü Spannung Kolja anblickend.
„Als was denn sonst?" meinte Letzterer trocken; „ah so," setzte er gleich hinzu, „als von Seiner Durchlaucht anerkannte Braut? '
„Ja," dröhnte die Stimme von Ossip Petrowitsch.
„Desto besser; ich wollte also den Vorschlag machen, daß ich mttfahre. Sie begreifen, Durchlaucht, daß eS mich sehr drängt, meinen Freund ebenfalls zu sehen; wenn Sre also die Güte hätten, auch mir einen Platz in ihrer Kalesche — ah, da ist ja schon meine Schwester angekleidet."
Wer Blicke wandten sich nach der Schalterthüre. Da stand, in Regenmantel und schwarzen Shawl gehüllt, Helena Ossipowna. Ihr Antlitz »st totenbleich, das Auge blickt starr, es scheint nur den Bruder zu sehe».
„Du bist schon bereit, Lenuschka?" fragt Kolja.
Sie nickt mechanisch.
„Es hat ihr aber Niemand etwas gesagt!" ruft Ossip Petrowitsch aus.
„Sie wird da« Gespräch hier gehört haben," bemerkt Kolja und in seinem ruhigen, kühlen Gesicht prägt sich plötzlich tiefes, inniges Mitleid aus. „Schwester, meine Lenuschka se, gegrüßt!"
Sie fliegt ihm an die Brust. Ein krampfhaftes Schluchzen wird vernehmbar, aber Lenuschka weint nicht; ihr Antlitz bleibt trocken und unbeweglich. Kolja drückt ihr Köpfchen zärtlich an sich. Dann tritt sie zurück und steht wartend da — gerade vor dem Fürsten.
Anatol Wassiljewitsch schaut sie an, schaut und schaut. . . „Gott, wie vornehm sie aussieht mit dem blassen, feinen Gesichtchen!" mag es ihm durch den Kopf zucken „und wie lieblich und w,e — unglücklich!" Es liegt etwas Durchgeistigtes, Imponierendes m ihrem stummem Schmerz, etwas, was den alten Edelmann zur Ächtung zwingt, unwillkürlich. Fürst Anatol senkt das Auge, er ist emen Moment wie ver>rrt. Mechanisch streckt er seine Hand aus und ergreift die ihre.
„Fräulein — Helena Ossipowna, ich bitte Sie innigst — kommen Sie!"
„Ich komme, Durchlaucht."
„Ich — danke. . . . Ossip Petrowitsch —" er reicht auch ihm die Hand, zum ersten Mal im Leben — „ich danke Dir!"
Kolja Ossipowitsch hat seinen Koffer geöffnet und einen grauen Studentenmantel herausgenommen, den er sich über die Schütter» wirft. Dann tritt er auf die Thüre zu mit den Worten: „Fahren wir!"
„Fahrt mit Gott!" ruft Ossip Petrowitsch und in seinen rauhen Baß mischt sich ein Heller zitternder Klang.
Die Drei verlassen das Gasthaus. Die elegante Kalesche des Fürsten Wol- konsky rollte durch das einsame schlafende Dorf, in die regenschwere und doch so müde Frühlingsnacht hinaus.
Was war das für em ernster, eigenwilliger, selbstbewußter junger Mann geworden — dieser ehemalige stille, schüchterne Jüngling. Der russische Stuvent, wie er im Buche steht — grübelnd, kämpfend, sein festes Ziel wissend, rücksichtslos darauf lossteuernd! Wie war die von Gevatter Matwel so gefürchtete Auseinandersetzung mit dem tobsüchtigen Alten ausgefallen! Wie harte er oiefen nur so durch seinen kühnen, kalten Blick, durch seine unerschütterliche Ruhe gebändigt!
„Des Zaren Gesetze sinv heilig, denn es sind Gottesgesetze und wer dagegen sündigt, sündigt gegen Gott!"
„Der Zar kann irren."
„Und somit auch Gott?"
„Es scheint so. Die Bibel erzählt es irgendwo: Als Gott die Welt erschaffen hatte, prüfte er sie und fand sie gut. Es stellte sich aber heraus, daß sie doch nicht gut war, denn er vernichtete sie selbst wieder, um sie neu und feiner Meinung nach besser erstehen zu lassen."
Der streitbare Alte hat ihn daraufhin lange angestarrt, um in die zornigen Worte auszubrcchen: „Gott kann mit seinem Händewerk thun, was er will, ebenso der Zar mit seinem Volk, denn Gott und der Zar sind weise! Was hast Du Dich aber darein zu mischen? Wolltest Du etwa auch an der Welt herumbessern?"
„Ein wenig. Jeder Mensch hat diesen Drang. Du auch. Du sündigest auch gegen Gottes und des Zaren Gesetze."
„Ich?"
„Ja. Was schimpfst Du denn fast täglich auf die Bojaren? Sind diese nicht auch eine Einrichtung Gottes und des Zaren?"
Der alte grimme Dorfpolitiker hat ein langgedehntes „So"! vernehme» lassen und hat geschwiegen. Dann hat ihm Kolja kurz und klar berichtet, wie es bei der letzten studentischen „Weltverbesserung" in Moskau zugegangen. Es hatte unter den ernsteren Studenten eine Verbindung — eigentlich keine Verbindung, sondern nur ein verabredetes Einverständnis — bestanden, demzufolge jedes Mitglied, etwa Hundert an der Zahl, die freiwillig übernommene Verpflichtung hatte, mittellosen jungen Leuten der niederen Volksklassen unentgeltlichen Privatunterricht zu erteilen: Handwerkern, Handlungsgehülfen, Subalternbeamten — wer es nur wünschte, aus Lernbegier und Wissensdurst. Und wie viele giebt es nicht solcher! In allen Wissenschaften, Jeder Student einzeln, in seinem Quartier, mit zwei bis drei Schülern, in späten Abendstunden und an Feiertagen.
„Und Fürst Wolodja — ?"
„Stand unter den Lehrern."
Diesem segensreichen Wirken hat ein ministerielles Verbot plötzlich das Ende bereitet. Protestkundgebungen und Verhaftungen der Rädelsführer —
„Und Fürst Wolodja — ?"
„Befand sich unter den Protestierenden und Verhafteten, wie auch unter dm von der Universität zeitweilig Entfernten . . ."
Da hat sich Ossip Petrowitsch hinter dem Ohr gekratzt und gelächelt, gelächelt — unverständlich, worüber?
„Und Deine fünfhundert Rubel Schulden?"
„Die hat Fürst Wolodja auf sich genommen, bevor er Moskau verließ, und ich bezahle sie ihm, wenn ich späterhin Erwerb habe. Wolodja hat Kredit — er ist Fürst."
„Wofür die Schulden aber? Prassen — wie?"
„Zum Teil. Ich bereue es. Das Schlechte im Menschen läßt sich nicht unterdrücken. Man muß auch Luft, Luft haben ... Die Hälfte der Summe habe ich verschenkt — einer armen Bcamtenwittwe mit sechs Kindern, deren Mann, well man bei ihm ein Buch über die französische Revolution fand, auf zwei Jahre verbannt worden ist."
„Kolja!'
„Was willst Du?"
„Ich kann Dir nicht zürnen — jetzt nicht mehr. Ich werde die fünfhundert Rubel bezahlen."
„Es freut mich, Vater. — Warum hast Du denn nun die Lenuschka bei Nacht und Nebel fortgesührt aus Moskau?"
„Weil ich ein atter Dummkopf bin — noch dümmer als Gevatter Matwei"...
*
* *
Es sind vier Wochen vergangen seit dieser Auseinandersetzung. Ein wunderbarer Sommermorgen mit viel Licht und Glanz und Leben. Kolja und Lenuschka lustwandelten im Obstgarten, Ossip Petrowitsch sitzt barhäuptig unter einem Birnbaum, Gevatter Matwel flickt schon wieder seine Stiefeln vor der WirtShausthüre. Da rollt ein leichtes, vornehmes Wägelchen in den Hof. Em schlanker junger Mann, feierlich in Schwarz gekleidet, steigt aus. Er ist blaß und abgemagert, trotzdem blickt eine unbändige Lebensfreude aus seinen Augen; und sein Schritt ist leicht und elastisch. Er begrüßt freundlich Matwei und läßt sich nach dem Garten weisen, wo „sie alle" seien.
Er schreitet geradewegs auf den großen schattigen Birnbaum, auf Ossip Petrowitsch zu.
„Einen Gruß von meinem Vater — er wird später kommen. Ich kam, upr mir meine Lenuschka zu sichern. Ihr gebt sie mir doch, Ossip Petrowitsch?"
„Hat sie Dich denn so gut gepflegt?"
„Sonst stände ich nicht hier."
„Dünkt Deinen Vater die Belohnung nicht zu hoch?"
„Er ist mein Nebenbuhler; er hat sie täglich dreimal geküßt. Ich muß mir Lenuschka sichern."
Ossip Petrowitsch lachte.
„Frag ihn selber — da kommt er ja schon; eS drängt ihn zu reiten, well er längstvergessene Kavaliergesühle in sich spürte. Geht er nicht selbst auf die Freie, so doch sem Sohn."
In der Thal erschien er vor dem Wirtshaus hoch zu Pferde, sprang ab und trat in den Garten. Sein Gesicht war gerötet, er sah heute jünger aus.
Die Szene, die sich dort unterm Birnbaum entwickelte — Händerriche«, Umarmen, Küssen — schien Gevater Matwei mächtig anzuziehen. Er stand da in der Garlenthüre, breitspurig, die Hände tief in die Hosentasche gesteckt, mit offenem Munde.
„Na ja, was habe ich denn anderes berichtet, als ich von Moskau kam und wie er mich erwürgen wollte?! Der Alte hat närrische Emsäüe. DaS Wer, ja das Atter"...
(Ende.)