M 76.
Amts-
und Anzeigeblatt für den Bezirk Lalw.
67. Jahrgang.
Erscheint Dt k» «tag, Donnerstag und Samitag. Die Einrückungsgebühr beträgt im Bezirk und nächster Umgebung » Pfg. dt, Zeile, sonst l2 Psg.
Donnerstag, den 30. Juni 1892.
AbonnementSprei» vierteljährlich in der Stadt Bv Pfg. «nd >0 Vfg. Trägerlohn, durch die Post bezogen Ml. 1. 1b, sonst i» ganz Württemberg Mk. 1. Sb.
Abonnement.
ment auf das Calwer Wochenblatt, worauf wir die geehrte« Leser ergebenst aufmerksam machen. Namentlich ersuchen wir die auswärtigen Abonnenten um Erneuerung ihrer Bestellung vor dem 1. ds., damit in der Zusendung keine Unterbrechung eintritt.
Amtliche Bekanntmachungen.
Bekanntmachung.
Auf Grund Erlasses des K. Ministeriums des Innern vom 17. Mai d. Js. (Minist.-Amtsbl. S. 141 ff.) wurde'nach Anhörung sämtlicher Gemeinderatskollegien des Bezirks eine Revision der Festsetzungen der ortsüblichen Taglöhne gewöhnlicher Tagearbeiter vorgenommen.
Die für den ganzen Oberamtsbezirk Calw
sestgestellten Lohnsätze sind hienach folgende: für männliche Personen über 16 Jahren 2 ^ ^
für „ „ unter 16 Jahren 1 20 ^
für weibliche Personen über 16 Jahren 1 ^ 40 für „ „ unter 16 Jahren — 90 -H.
Diese revidirten, mit den bisherigen Sätzen übereinstimmenden Lohnsätze werden hiemit unter dem Anfügen zur öffentlichen Kenntnis gebracht, daß sic vom 1. Januar 1893 — dem Tag des Inkrafttretens der Novelle zum Krankenversicherungsgesetz — ab zur Anwendung kommen.
Calw, 28. Juni 1892.
K. Oberamt.
Schönmann A.-V.
Deutsches Reich.
Bredow (Stettin), 27. Juni. Der Kaiser traf heute vormittag 10^/« Uhr mit der Dacht „Hohenzollern" hier ein und ließ die Dacht gegenüber der Werft des Vulkans anlegen. Der Kaiser verblieb an Bord bis 12 Uhr und begab sich dann auf einer Dampfbarkasse zur Landungsbrücke des Vulkans, wo er den Stapellauf an dem Aviso St. vollzog. Der Kaiser hielt folgende Rede: „Du stehst jetzt bereit, in Dein neues Element abzugleiten. Du sollst in die Reihe der kaiserlichen Kriegsschiffe eingereiht werden, dazu bestimmt, unsere Landesflagge zu tragen. Dein schlanker Bau, Dein leichtes Gefüge, welches nicht drohende Pforten, schwere Türme zur Abwehr zeigt, die die Schiffe meiner Kriegsmarine zum Kampf gegen den Feind bei sich führen, zeigt uns an, daß Du dem Friedenswerk geweiht bist. Leicht über die Meere dahin zu fliegen, vermittelnd von Land zu Land, den Arbeitsamen Ruhe und Erholung zu gönnen, den kaiserlichen Kindern und der hohen Mutter des Landes Freude zu bringen, das sei Deine Aufgabe. Mehr zum Schmuck als zum Gefecht mögest Du Deine leichte Artillerie tragen. Nun gilt es. Dir einen Namen zu geben. Du sollst den Namen führen, den jene hohe, weit in den Himmel ragende Burg führt, die, fern im schönen Schwabenland gelegen, unserm Geschlecht den Namen gab. Verbunden ist damit für Mein Vaterland Jahrhunderte lange Arbeit, ein Zusammenwirken mit dem Volke, Leben und Arbeiten für das Volk, und im Streit und Kampf einherzuschreiten vor dem Volk, das ist der Inbegriff des Namens, den Du tragen sollst. Mögest Du Deinem Namen und Deiner Flagge Ehre bringen und eingedenk bleiben des Großen Kurfürsten, der zuerst uns auf den Seeweg wies, eingedenk Meiner großen Ahnen, die teils in stiller Friedensarbeit, teils im harten Kampfe den Ruhm und die Größe unseres Vater
landes zu wahren und zu mehren wußten. Ich taufe Dich Hohenzollern." Die Kaiseryacht, die bisher „Hohenzollern" hieß, ist auf kaiserlichen Befehl in „Kaiseradler" umgetauft worden. (Das neue Schiff ist der seinerzeit viel besprochene „Aviso für größere Kommandoverbände".)
— Die kaiserlichen Prinzen reisen zu mehrwöchigem Aufenthalt nach Wilhelmshöhe bei Kassel; die ältesten Prinzen begeben sich später zu mehrwöchigem Aufenthalt nach Norderney.
— Ueber die von S. M. dem Kaiser wieder unternommene Nordlandsfahrt schreiben die Münchener N. Nachr.: 28. Juni. „Der Kaiser tritt mit dem heutigen Tage die alljährliche Reise an die norwegische Küste an, von wo er dann vermutlich nach England hinüberfahren wird. Die feindseligen Bemerkungen, womit die freisinnige Presse im Bunde mit den deutschfeindlichen Organen des Auslandes früher diese Reisen des Monarchen zu begleiten pflegte, sind nach und nach verstummt, nachdem die Wirklichkeit erwiesen, was für den vernünftig und logisch denkenden Politiker von vornherein klar war, daß weder für die Regierungsmaschinerie im Einzelnen, noch für die allgemeine Leitung der inneren und äußeren Politik aus der längeren Abwesenheit des Kaisers irgend welche bedenkliche Folgen entspringen konnten. Der Reisetrieb, der allen geistig regsamen Charakteren eigen ist, beherrscht auch den jungen Kaiser, und so wenig das römische Reich unter den jahrelangen Wanderungen litt, die Hadrian durch alle seinem Szepter unterworfenen Länder unternahm, so wenig hat Deutschland von den mannigfachen Reisen Kaiser Wilhelms II. üble Wirkungen zu verspüren gehabt. Im Gegenteil! Es sind da in Konstantinopel wie in Norwegen und England viele persönliche Beziehungen teils neu angeknüpft teils befestigt worden, die auch dem Deutschen Reiche unbestreitbar zum Vorteil gereichen.
6 ii? totO . Nachdruck verbaten.
Dolorosa.
Roman von A. Wilson. Deutsch von A. Geisel.
(Fortsetzung.)
„Ich möchte diese Frage lieber unbeantwortet lassen, hochwürdiger Herr," versetzte der Advokat emst; „ich will gern bekennen, daß ich anfänglich an dem Charakter der Dame zweifeln zu müssen glaubte, weil sie mir mitteilte, zwingende Verhältnisse hätten sie veranlaßt, ihren wahren Namen geheim zu halten — unsereins wittert unter solchen Umständen sofort Verbrechen oder Schande — oder auch beides. Die Thatsache indes, daß die Ehe der Dame von Ihnen eingesegnet worden, Herr Pfarrer, ließ mich meine günstige Meinung ändern, freilich erschien mir die Geschichte mitunter fraglich, denn sie mußte wirklich noch ein halbes Kind gewesen sein, als —"
„Das war sie," fiel der Geistliche hastig ein; „ich habe die Ehe vor elf Jahren «ingesegnet."
„Nun gut — somit steht die Wahrheit meiner Klientin außer Zweifel und was ihre Klugheit, Umsicht und scharfe Auffassung betrifft, sucht die Dame ihres Gleichen. Zudem ist sie augenblicklich unleugbar die schönste Frau New-Dork's, wenn nicht Amerika's, aber trotz der Bewunderung, welche ihr als Frau, wie als Künstlerin gezollt wird, wagt ihr schlimmer Feind noch kaum, sie gefallsüchtig zu nennen. Sie ist beständig in Gesellschaft eines ältlichen, höchst respektablen Ehepaares und Keiner kann sich rühmen, je einen Blick von Frau Orme erhascht zu haben. Frau Walter, die Gesellschafterin, verläßt Frau Orme nur, wenn dieselbe die Bühne betritt und Herr Walter begleitet die Damen zu allen Proben, wie zu den Vor
stellungen und geleitet sie nach Hause. Wann haben Sie übrigens Frau Orme zuletzt gesehen, Herr Pfarrer?"
„Vor sieben Jahren."
„So möchte ich behauvten, daß sie Regina's Mutter, sollten Sie dieselbe zufällig sehen, nicht wieder erkennen würden. Auf der Bühne »st sie einstweilen unerreicht ; ich habe große Künstlerinnen gesehen, aber keine, die Frau Orme das Wasser gereicht hätte. Die Rachel als Phädra ist fraglos noch von keiner Schauspielerin erreicht worden; wollte aber Frau Orme heute die Phädra spielen, dann würde sie den einzigen Stern des „tbsatrs kranoais" weit übertreffen. Ich hört: sie einst den Monolog der Phädra deklamieren und die Stimme hat mich wochenlang verfolgt. Und erst die Leichtigkeit, mit der sie fremde Sprachen beherrscht! Wenn sie Französisch spricht, schwört man darauf, sie sei eine Pariserin; redet sie in der Sprache Dante's, dann glaubt man, sie müsse Florentinerin sein. — Wann und wo Frau Orme eigentlich aufgetaucht ist, weiß ich nicht; als ich auf sie aufmerksam wurde, sammelte sie gerade im Westen Lorbeeren und Dollars und später kam sie nach New-Dork dort wird sie vergöttert! ... Die Beharrlichkeit, mit welcher Frau Orme einem Ziele, das sie erreichen will, zustrebt, schreckt vor keinem Hindernis zurück — sie kennt weder Ermüdung noch Zögern."
„Würden Sie Regina's Mutter eines Diebstahls fähig halten?"
„Eines wirklichen Diebstahls?" wiederholte Palma verblüfft.
„Hm — ich will Ihnen den Fall, wie derselbe sich zugetragen hat, vorlegen — Sie sollen selbst urteilen."
Und nun «zählte der Pfarrer von Minnie Merle's letztem Besuch, von ihrer flehentlichen Bitte bezüglich der Heiratslicenz und von dem späteren Verschwinden des wichtigen Dokuments, die Thatsache, daß sie volle vier Stunden Zeit gehabt.