Seeabrüstung
Seitdem Kraftwagen die Beförderung von Personen und Gütern zu Lande mit weiterem Zeitgewinn von Schienenwegen unabhängig gemacht haben n.id Flugzeuge die Luft die Schiffe das Wasser frei durchqueren können, hat der Landverkehr angefangen, den Vorsprung des Seeverkehrs rasch einzuholen. Das Zeitalter der Grvßerüraumstaaten ist angebrochen, und der Nimbus der Jnselreiche schwindet zusehends dahin. Der Begriff Seemacht hat aufgehürt, Trumpf zu sein,' die Kontinentalmacht regt überall ihre jahrhundertelang durch das seebeherrschende Albion gefesselten Kräfte. Die Völker Osteuropas und Asiens, welche die Herren der Meere von der Weltkultur solange ausschließen konnten, indem sie sie von den besten Zugängen zum Seeverkehr abzudrängen wußten, wittern Morgenluft und suchen in dem ersten Ungestüm ihres erwachten Dranges nach moderner Kultur die Säulen einer Weltordnung zu zerstören, die sie nicht mitschaffen halfen. Wer dieses neue Völkerchaos zu bändigen versteht, wird die Erde beherrschen, und daran» können nur die ungeheuren Ebenen Asiens und Osteuropas den Schauplatz für die Kämpfe abgeben, die über die künftigen Geschicke der Kulturmenschheit entscheiden werden.
Die neue Seeabrüstungsinitiative des Präsidenten Coo- libge ist nichts als die Reaktion des Selbsterhaltungstriebes der vorläufig stärksten Kontinental- und Seemacht auf die revolutionären Ereignisse in Osteuropa und Asien. Die Washingtoner Abrüstungskonferenz im Jahre 1922 war dazu bestimmt, die Ueberlegenheit der britischen Flotte gegenüber der amerikanischen zn beseitigen und die Unterlegenheit sowohl der japanischen als auch der französischen Flotte gegenüber der englischen oder amerikanischen zu erhalten. Das gelang nur soweit, als es sich um Grostkampfschiffc, Schlachtschiffe und große Kreuzer von 10 090 Tonnen an aufwärts handelte. Heute ist man sich in amerikanischen Marinefachkreisen darüber einig, daß die Entwicklung der Kriegstcchnik inzwischen den Wert der kleineren Kriegsschifftypen, vor allem der Unterseeboote, in einer Weise steigerte, und den größeren in einem Grade verminderte, daß die Ergebnisse der Washingtoner Abrüstungskonferenz völlig illusorisch geworden sind. Admiral Sims, der währenddes Weltkrieges die amerikanische Flotte in europäischen Gewässern befehligte, geht soweit, zu behaupten, daß die Union im Kriegsfälle am besten täte, ihre Schlachtschiffe und Kreuzer den Mississippi soweit aufwärts wie möglich zu schicken und sich für die Verteidigung der Küsten auf Unterseeboote und Aeroplane zu beschränken. Die großen Kriegsfahrzeuge bedeuteten nur mehr Fallen für ihre Mannschaft. Viel mächtiger aber ist der Umschwung der Machtverhältnisse auf dem amerikanischen Festlande. Was würde die Union allein oder in Gemeinschaft mit England viel gewinnen, wenn es ihr gelänge, in einem Kriege gegen Japan besten Flotte zu vernichten? Das Riesenreich China hat anfgehört, von wenigen Küstenplätzen aus in Schach gehalten zu werden. Für kriegerische Unternehmungen im Innern Chinas aber muß man entweder imstande sein, außer den Heeren Chinas und gegebenenfalls Rußlands auch denen Japans die Stirn zu bieten oder aber auf eine Herausforderung Japans überhaupt zu verzichten.
Aus dieser Sachlage ergibt sich von selbst die Aufgabe,
die für die angelsächsische» Mächte auf der Seeabrüstungs- kvnferenz, die sie am rü. Juli in Genf mit Japan eröffnen werden, zu lösen bleibt. Noch befindet sich Japan betreffs seiner Versorgung mit für seine Verteidigung so wichtigen Rohstoffen wie Baumwolle, Oel und Eisen in starker Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten. Die Drohung Wilsons, die Ausfuhr von Baumwolle und Stahl »ach Japan einzustellen, genügte seinerzeit, um Japan zu veranlassen, die Truppen zurückzuziehen, die cs entgegen den mit Amerika getroffenen Vereinbarungen zur Unterstützung des Koltschakschen Abenteuers zuviel nach Sibirien geschickt hatte Inzwischen hat Japan eine weitausschanende Vvrratswirt- schaft getrieben und sich wertvolle neue Rohstoffquellen auf dem Festlande erschlossen, aber seine Abhängigkeit von amerikanischen Zufuhren ist immer noch beträchtlich. Andererseits sind sich die Japaner ihrer strategischen Vorteile und der Abhängigkeit der angelsächsischen Mächte von ihrem Einvernehmen bei Machtkämpfen auf dem asiatischen Festland vollauf bewußt, und sie haben mit der Besetzung Tsingtaus nicht umsonst begonnen, die Politik der „21 Forderungen" neu anfznrvllen, auf die sie auf der Washingtoner Abrüstungskonferenz fast völlig verzichten mußten. Oeffentlich wird man sich demnächst in Genf über die Beschränkung des Baues von kleinen Kreuzern und Unterseebooten unterhalten, aber die Frage, inwieweit man sich darüber verstau- digen kann, wird hauptsächlich von den geheimen Fragen abhängen, die man hinter den Kulissen wegen einer gemeinsamen Kontrolle über China und einer Einheitsfront gegenüber dem „Bolschewismus" führen wird.
Frankreich und Italien haben die Einladung zur Seeab- rüstnngskonferenz abgelehut, aber Frankreich hat inzwischen zugesagt, den Chef des französischen Dienstes beim Völkerbund, Herrn Clauzel, als „stillen Beobachter" den Beratungen beiwohnen zn lassen. Der Pariser Temps legt indes großen Nachdruck auf die Feststellung, daß Clauzel sich in keiner Weise in die Erörterungen einmischen solle noch irgendwelche Verantwortlichkeit für die Entscheidungen, die getroffen werden, sei es auch nur eine moralische, auf sich nehmen dürfe. „Die Flottenkonferenz zu dreien, und die Gegenwart eines französischen Beobachters ändert in keiner Weise etwas an dem Charakter, der ihr durch die Tatsache gegeben wird, daß Frankreich und Italien sich an ihr nicht unter denselben Bedingungen wie die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Japan beteiligen werden." Die Tatsache, daß die angelsächsischen Mächte für die Seeabrüstung wohl Japan aber nicht Frankreich und Italien an den Verhandlungstisch zu bringen vermögen, ist indessen nur ein Ausdruck für die größere Dringlichkeit, die, wenigstens siir die Union, die Regelung der ostasiatischen Machtverhältnisse gegenüber der der europäischen beansprucht. Wenn es Frankreich ablehnt, die Frage der Seeabrüstung von der Landabrüstung zu trennen, so spricht auch das für den Vorrang, den kontinentale Machtfragen vor seepolitischen erlangt haben. Solange die angelsächsischen Mächte auf dem Festlande keinen Partner haben, den sie gegen Frankreich ausspielen können, werden sie mit seiner Widerspenstigkeit kaum fertig werden. Das faschistische Italien allein genügt dazu nicht. Im übrigen können die angelsächsischen Mächte auch auf dem europäischen Kontinent früher zn entscheidenden Entschlüssen gedrängt werden, als eS im Sinne ihrer Konferenzpläne liegt.
Der Schulkampf in Oberschlesien
TN. Kattorvitz, 27. Juni. Wie die polnische Presse zu be- richten weiß, hat der Schweizer Schulsachverstäudige beider gemischten Kommission, Maurer, die Prüfung der Aktenkategorie der ihm zur Verfügung zugcführteu ,..r die deutsche Minderhcitsschule angemeledten Kinder abgeschlossen und dem Präsidenten der Gemischten Kommission, Calvnder, das Ergebnis der Prüfung mitgeteilt. Von 179 geprüften Kindern sollen nur 70 der Miuderheitsschnle zugeführt werden. Der Rest hat die Prüfung nicht bestanden. Eine Bestätigung dieser Nachricht ist von zuständiger Stelle bisher nicht zu erreichen gewesen. Die endgültige Entscheidung liegt jetzt beim Präsidenten Calvnder.
Die amerikanisch-polnischen Anleihe- Verhandlungen gescheitert
TU. Warschau, 27. Juni. Wie der Vertreter der TU. aus sicherer Quelle erfährt, sind die polnischen Anleihcvcr- Handlungen mit der amerikanischen Firma Blair u. Co. endgültig ergebnislos abgebrochen morden. Wie weiter ver» lautet, will die polnische Negierung so schnell ivie möglich mit anderen amerikanischen Finanzgruppen neue Verhandlungen anknüpfen. Im Zusammenhang mit dem Abbruch der Verhandlungen trat an der Börse ein starker Kursrückgang polnischer Papiere ein.
Der Handelskammerkongreß in Stockholm
TU. Stockholm, 27. Juni. Die Teilnehmer der 4. internationalen Handelskainmcrkonferenz sind gestern fast vollzählig in Stockholm eingetroffcn. Als Delegierte sind fast 800 Teilnehmer angcmcldet. Die stärkste Zahl an Delegierten stellen die Vereinigten Staat..: mit 158- an 2. Stelle steht Deutschland mit 151 Delegierten. Alsdann folgen mit 90 Teilnehmern die Landesgruppe Schweden, mit 79 England, mit je 39 Frankreich und Italien, mit 29 Holland, mit 23 die Tschechoslowakei. Insgesamt haben von den 43 Ländern 33 Vertreter entsandt. Unter ihnen befinden sich die hervorragendsten Wirtschaftsvertreter.
Das Arbeitsprogramin des Stockholmer Kongresses grenzt, wie es sich von selbst versteht, eng an die Arbeit der Weltwirtschaftskonfcrenz, hat doch die internationale Handelskammer durch ihre Vorarbeiten ein Wesentliches zn dem Ergebnis der Weltwirtschaftskonferenz beigetragen. Eine ihrer Hauptaufgaben sieht die internationale Handelskonferenz in der Beseitigung der Handelshemmnisse.
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Dr. Stresemann nach Oslo abgcreist.
TU. Berlin, 27. Juni. Reichüaußenminister Dr. Strese- maun ist gestern morgen 9.40 Uhr von Berlin abgereist, um sich über Warnemünde-Kopenhagen nach Oslo zu begeben. Auf dem Bahnhof verabschiedeten sich von ihm der norwegische Gesandte sowie Staatssekretär von Schubert. In seiner Begleitung befindet sich außer seiner Gemahlin Geheimrat v. Baligand und Legativnsrat Reblhammer.
als er davonlief; ich rechne bestimmt darauf, daß er tot ist. Der Alte benimmt sich ja heute so sonderbar, er ist wie umgewandelt, spricht von Anatol fortwährend in entschuldigendem Ton, ängstigt sich um ihn, schickt die Magd, ihn zu suchen! Was soll das alles bedeuten? Wie leicht könnte er in solcher Stimmung ein Testament machen, in welchem er uns je mit der Hälfte seines Vermögens bedenkt. Das fehlte noch! Ich muß das ganze haben!
Um sechs Uhr abends kehrte die Magd abermals erfolglos zurück» sie hatte Anatol nirgends entdecken können, keiner wollte ihn gesehen haben, keiner konnte Aufschluß über seinen Verbleib geben. Auch auf dem Polizeibureau war bis jetzt keine Meldung eingegangen.
Während Ludolf äußerlich tief traurig sein Gesicht mit den Händen verhüllte, trocknete sich der Pfandleiher voll innerer Qual den Schweiß von der Stirn. <
„Wenn ich ihn in den Tod gejagt mit meiner Drohung, ihn in eine Besserungsanstalt bringen zu lassen, wenn ich noch eine Schuld auf meine Seele geladen hätte?"
Plötzlich stand der alte Mann auf, ging mehrmals durch die engen Zimmerchen und griff schließlich nach seinem abgetragenen Straßenrock und Filzhut.
„Woll willst du hin, Vater?" fragte Ludolf befremdet.
„Ihn suchen gehen."
„Aber Vater, es ist ja ganz dunkel draußen, wie willst du ihn denn jetzt finden?"
„Ich will selbst auf die Polizei, will eine hohe Belohnung für seine Auffindung aussetzen."
„Dein kostbares Geld willst du hinwerfen» Vater, für den ungeratenen Buben, für einen, der dir nichts als Kummer gemacht? Wenn Anatol lebt, findet er sich doch ganz allein nach Hause. Du lieber Gott, das schöne Geld!" wimmerte der Jüngling noch einmal, als solle er persönlich geschädigt werden. „Du bist doch sonst so sparsam, Vater!"
Der Pfandleiher schaute unter dem breitkrämpigen Filzhut mit einem Blick höchster Befremdung in das grämlich verzogene Gesicht des Stiefsohns.
„Du gefällst mir nicht, Knabe," sagte er plötzlich eisigkalt, „ich glaube, mein Vertrauen geht allzu weit dir gegenüber."
Ludolf wollte erschrocken schnell einzulenken versuchen, aber der Stiefvater wehrte ab und schloß die Zimmertllr hinter sich.
Langsam schritt der alte Mann Stufe für Stufe die steile Treppe hinunter; er zählte sechsundsiebenzig Jahre, da konnte man es den Gliedern nicht verdenken, wenn sie steif und un-., gejenk wurden. (Fortsetzung folgt-j./
Anatol
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(3. Fortsetzung.)
Und wenn er jetzt nicht nach Hause zurückkehrte, was wollte er dann beginnen?
Anatol schauderte — seine Schritte wurden immer schneller, nur eine knappe Straßenlänge noch trennte ihn von dem schützenden Dache.
Er wußte jetzt, wie er es machen wollte. Cr würde den Stiefvater um Verzeihung bitten, daß er sich zu respektwidrigen Aeußerungen hatte verleiten lassen, er wollte versprechen, allezeit der beste und musterhafteste Sohn zu sein» wenn derselbe davon absähe, ihn in eine Besserungsanstalt bringen zu lassen. Diese Sprache würde den Greis versöhnen, denn sein heißblütiger Kopf, ihm gegenüber, hatte ihn noch nie ein Zugeständnis, eine Abbitte aussprechen lassen.
Jetzt bog Anatol in den Torweg des Vorderhauses ein und spähte nach den kleinen Fenstern des freundlichen Häuschens, das ihm wie eine Kapelle erschien» da seine Mutter dort gelebt und dort gestorben.
Niemand war an den Fenstern zu sehen; wahrscheinlich befanden sich Vater und Bruder bei der Abendmahlzeit — die Turmuhr deutete auf halb sieben.
Jetzt konnte er unmöglich plötzlich eintreten, die spöttische Begrüßung lag so nah«: „Aha, jetzt kann er sich einfinden; wenn der Hunger sich meldet, schmeckt es ganz gut an dem Tisch des „bis zum Tode gehaßten Stiefvaters."
Hätte Anatol geahnt, daß Balldorf schon unzählige Male nach ihm gerufen, daß er die Magd schon am Vormittag ausgeschickt, ihn suchen zu lassen, daß er in größter Besorgnis um den Verbleib des Knaben war, daß er nur noch sein Wohl, sein Glück im Auge hatte — o, hätte er das gewußt — glückselig wäre er hinaufgestürmt und hätte mit zitternder Stimme gerufen: „Vergib mir, vergib mir — so viel Güte verdiene ich nicht!"
Die Fenster scheu im Auge, schlich Anatol langsam näher. Halt — er wußte, wo er blieb, wo er sich versteckte, bis es völlig dunkel geworden.
Anatol trug den Schlüssel zum Schuppen noch bei sich, aus welchem er heute morgen ein Versatzstück, welches eingelöst wurÄe, hatte holen müssen.
Der Knabe schloß leise auf, verriegelte die Tür von innen wieder und sank hier, tödlich ermüdet, auf einige Stoffballen nieder, die auf ausgebreitetem Packpapier lagen.
Trübes Licht fiel durch ein ganz kleines Fensterchen, den ungastlichen Raum nur mit einem schwachen Schimmer durchdringend.
Ein Gefühl duinpfer Schläfrigkeit bemächtigte sich seiner, immer langsamer und träger reihten sich die Gedanken aneinander, aber immer noch gruppierten sie sich um das Erlebnis am Nachmittag. Wie konnte ein Sohn es über das Herz bringen, nach dem Vater zu stechen?
Die Müdigkeit überwältigte den Knaben, er schlief ein. Dennoch glaubte Anatol vollständig munter zu sein, glaubte den weitgeöffneten Blick auf das kleine Fenster in der Schuppenwand zu richten.
Hinter der Scheibe, die ihm jetzt nicht trübe erschien, sondern glänzte und spiegelte wie geschliffenes Kristallglas, wähnte er ein schönes, jugendliches Gesicht zu sehen, dessen Augen ihn mit wehmütiger Freundlichkeit betrachteten.
Wer war denn das?
Das war ja sein Stiefvater! Wie hatte der alte Mann sich verändert — er lächelte und nickte ihm herzlich zu — im nächsten Augenblick aber verdrängte ein Ausdruck höchster Angst das Lächeln von den seltsam verwandelten Zügen und eine laute Stimme rief in beschwörendem Ton: „Anatol, Anatol. armes Kind, komm schnell zu mir, sonst ist es zu spät!"
Anatol ermunterte sich, er sprang auf und blickte umher. Es war ganz dunkel geworden» er tastete sich vorwärts bis zur Tür» während er noch immer glaubte rufen zu hören: „Anatol — Anatoll"
Er stürmte hinaus!
Doch — was war das? Ein gellender Schreckensruf. dumpfe, polternde Töne, dann schmerzliche Jammerlaute und alles war wieder still. ^
Drittes Kapitel.
Ludolf, welcher gleich dem Stiefvater heimlich glaubte, der Bruder habe sich aus Furcht vor der Anstalt ein Leid angetan, verriet seine Gedanken nicht im mindesten, sondern behauptete mit großer Sicherheit, der Hitzkopf werde schon zurückkommen, sobald er ausgetrotzt habe.
„Unbedingt ist er ins Wasser gegangen oder hat sich im .Walde erhängt," dachte der Schändliche» ^rÄar zu wütend.