M 118. Amts- und Anzeigeblatt für den Bezirk (Lalw. 66. Jahrgang.

Erscheint Dien 8 ta g , Donnerstag und SamStag. Die Einrückungsgebühr beträgt im Bezirk und nächster Um­gebung S Pfg. die Zeile, sonst 12 Pfg.

Amtliche Bekanntmachungen.

Die Ortsbehörden für die Arbeiterverlicherimg,

welche mit Einsendung der Listen über Einschätzung zu fingirten Steuerkapitalen noch im Rückstand sind, werden unter Hinweisung auf die W 38 der Min.-Verfügung vom 18. Juni 1891 (Reg.-Bl. S. 154), betreffend die Umlegung und den Einzug der Beiträge zu den landwirthschaftlichen Berufsgenossen­schaften, welche genau zu beachten sind, an deren Vor­lage bis längstens den ds. Mts. hiemit erinnert. Calw, den 3. Okt. 1891.

K. Oberamt. Supper.

Tages-Uenitzkeiteil.

* Calw, 5. Okt. Der gestern abend von Hrn. Claassen im Dreiß'schen Saale gehaltene Vortrag über das ThemaWas ist der Mensch?" war nicht sehr zahlreich besucht. Der Redner ver­breitete sich über das Wesen, Tugenden und Fehler der Menschen, über wirkliche und eingebildete Bedürf­nisse und der durch letztere bedingten Abhängigkeit und über verschiedene Rettungswege, welche den Men­schen zur Erlangung von Friede und Zufriedenheit .zu Gebot stehen. Zum Schluß bemerkte der Redner, daß er die Heilsarmee nicht hieher gerufen, wohl aber unterstützt habe, da er sie als eine Dienerin des Herrn ansehe. Die mehr theoretischen als praktischen Ausführungen wurden durch die hier ungewohnte Sprechweise des Vortragenden sehr beeinträchtigt und deshalb wohl von den meisten der Anwesenden nicht verstanden.

In Deckenpfronn hat sich am Freitag ein Mann in seines Nachbars Scheuer erhängt. Eine

Dienstag, den 6. Oktober 1891.

Abonnementspreis vierteljährlich in der Dtadt -0 Pfg. vud 20 Pfg. Trägerlohn, durch die Post bezogen Mk. 1. 1b, sonst ia ganz Württemberg Mk. 1. 35.

gedrückte Gemütsstimmung war schon lange Zeit an ihm bemerkbar.

Altenstaig, 29. Sept. Heute wurden zwei hier in Arbeit stehende junge Bursche, ein Gypser- geselle und ein Säger, ans Kgl. Amtsgericht Nagold eingeliefert. Dieselben stehen im Verdacht, in ange­heitertem Zustand am Sonntag nacht den hiesigen Nachtwächter Hummel, einen älteren Mann, an einen Wagen angebunden zu haben. Wie man hört, sollen die Bursche eingestanden haben, daß sie den Exzeß verübt.

Stuttgart, 3. Okt. Die Rückkehr Sr. Maj. des Königs von Bebenhausen ist heute Nachm. 3 Uhr 50 Min. mit Sonderzug von Tübingen er­folgt. .Die Fahrt ins kgl. Residenzschloß erfolgte vom Bahnhof über die Kronenstraße an das Portal des Wintergartens. Die Herren des Gefolges fuhren vom Bahnhofportale in der Schloßstraße aus in das kgl. Schloß.

Stuttgart, 3. Okt. Das heute früh 7'/s Uhr ausgegebene Bulletin über das Befinden Sr. Majestät lautet: Bis Mitternacht große Unruhe, anhaltende Beschwerden; nach gewährter weiterer Hilfe von Mitternacht bis morgens ziemlich ruhiger Schlaf mit erheblicher Erleichterung, vr. Fetzer.

Das im linken Seitenflügel des Res i- denzschlosses aufliegende Bulletin be­deckte sich im Laufe des Vormittags mit zahlreichen Unterschriften von Personen aller Stände, welche sich nach dem Be­finden des hohen Patienten erkundigten. Nach einer Meldung des Neuen Tagblattes soll noch eine weitere medizinische Autorität zur Konsultation aus Marburg hierher berufen werden.

Das Extrablatt desSchw. Merk." meldet:

Die bisherigen Störungen haben sich in letzter Nacht bis zur vollständigen Harn­verhaltung gesteigert, welche die Punktion der Blase notwendig gemacht hat. Darnach ist nun vorübergehend Erleichterung er­reicht, während die entzündliche Erscheinung sich noch weiter ausgebreitet hat. Kräfte­zustand unbefriedigend. Fetzer. Bruns. Burckhardt. Marc.

Heute Montag vorm, meldeten die Bulletins: Gegen morgen Steigerung der Unruhe. Heute früh sehr matt. Eine weitere Abnahme des Kräftezustandes ist nicht bemerkbar, wenn auch die örtlichen Entzündungserscheinungen stärker her­vorgetreten sind.

Stuttgart, 30. Sept. Ein hiesiger Geschäfts­mann, der sich zu den wohlhabendsten Bürgern hiesiger Stadt zählen darf, scheint kein Freund vonr Steuerzahlen zu sein, namentlich die Kapital­rentensteuer ist ihm in der Seele zuwider, da er mit seiner Haus- und Gewerbesteuer schon mehr als ge­nug für den Staat zu thun glaubt. Wegen Kapital­steuerdefraudation ist er schon vor einigen Jahren zu 80,000 ^ Strafe verurteilt worden. Offenbar in der Absicht, diese Strafe wieder hereinzubringen, fuhr er nun erst recht mit seinen Defraudationen fort um abermals erwischt zu werden. Die ihm neuerdings auferlegte Strafe soll das nette Sümm­chen von 120,000 ^ ausmachen,

Tübingen, 1. Okt. Die Unschuld des Bäckers Frank von Ottenhausen und der Wilhelm ine Mößner von Großheppach an der Blutthat hat sich herausgestellt. Beide wurden gestern vormittag auf freien Fuß gesetzt. Die wahren Thäter sind gestern nachmittag in Rottenburg verhaftet und zu Wagen hiehergebracht worden. Herr Staatsanwalt Schanz hatte sich selbst nach Rottenburg begeben, und die Verhaftung der Thäter bewirkt, die dort bei

6 ^ 1: k 1 6 1 O » Nachdruck verboten.

Flessy's Jerloöung.

Eine nächtliche Geschichte von Reinhold Ort mann.

(Fortsetzung.)

Es war eine gar traurige Wanderung durch den aufgewühlten Lehmboden der Landstraße, und die Finsternis, welche Tante Dorette wiederholt in grundlose Wasserpfützen geraten ließ, steigerte das Ungemach zu einer beinahe unerträglichen Höhe. Nach einigem Widerstreben hatte die alte Dame den Arm des Doktors an­genommen, während Nelly hinter ihnen her tastete. Als sie sich aber sehr empfind­lich an einem im Wege liegenden Stein gestoßen und unwillkürlich aufgeschrieen hatte, wandte sich der junge Mann nach ihr um und fragte, ob sie sich nicht viel­leicht ebenfalls seiner Führung bedienen wollte. Aber sie hätte sich lieber noch zwanzigmal gestoßen, ehe sie ihm ein solches Zugeständnis ihrer Schwäche gegönnt hätte, und er erhielt eine kurze, trotzige Antwort, die in ihrer Schroffheit etwas bei­nahe Verletzendes hatte.

Für den Rest des Weges bestritt dann Tante Dorette mit ihren Wehklagen allein die Kosten der Unterhaltung, und es war im vollsten Sinne des Wortes eine Erlösung, als endlich bei einer Biegung des Weges ein erleuchtetes Fenster und gleich nachher auch die Umriffe des dazu gehörigen Häuschens sichtbar wurden.

Aber welch' einen schneidenden Kontrast bot diese willkommene Zufluchtsstätte zu den glanzerfüllten prunkenden Konzertsälen, in denen sich Nelly noch vor kaum einer Stunde bewegt hatte.

Aus Lehm und Holz zusammengezimmert mit Stroh gedeckt und zu not­dürftigem Schutz gegen die Winterkälte mit aufgeschichteten Tannenreisern umgeben, bot die kleine Hütte schon von außen ein Bild jämmerlichster Armseligkeit; aber die beiden Damen verspürten ein förmliches Entsetzen, als sie nun gar erst das Elend im Innern des gebrechlichen Bauwerks wahrnahmen.

Durch eine niedrige, nur leicht angelehnte Thür, deren Versicherung durch Schloß und Riegel in der That ein höchst überflüssiger Luxus gewesen wäre, hatte sie der Doktor Fischer auf einen kleinen dunklen Vorplatz geführt, dann hatte er einen großen, vielfach geflickten Vorhang, wie es schien, eine ausgediente Pferdedecke, zur Rechten aufgehoben und ihnen den Einblick in ein schwach erleuchtetes niedriges Zimmer gestattet, das nur wegen der sehr geringen Zahl der darin befindlichen Gegenstände ziemlich groß erschien. Es enthielt nämlich außer einer wenig erhöhten Lagerstätte nichts als einen Tisch und zwei Stühle, an denen nicht nur die Politur, sondern sogar die Farbe gespart worden war, die aber ebenso wie der gedielte Fuß­boden ganz weiß und rein gescheuert waren. Auf dem Bette, dessen bunt karierte Tücher ebenfalls von tadelloser Sauberkeit waren, lag die Gestalt eines graubärtigen Mannes, der sehr ehrwürdig aussah und zu schlafen schien. Ihm gegenüber am Tische aber saß eine hagere Frau, die sich beim Scheine eines dürftigen Petroleum­lämpchens mit Stricken beschäftigte.

Während die beiden Damen draußen im Dunkeln blieben, machte der Doktor einen Schritt inS Zimmer hinein und Nelly hatte den Eindruck, als sei er in seinen Bewegungen viel geräuschloser und zarter als vorhin. Die alte Frau gewahrte ihn erst, als er unmittelbar vor ihr stand und auf ihrem hageren Gesicht, in welches Kummer und Sorge und harte Arbcü manche tiefe Furche gegraben hatten, zeigte sich weder Uebenaschung noch Schrecken. Sie warf einen flüchtigen Blick auf den