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halten, als wenn diese Bauern alle ruiniert würden durch das unglückselige Experiment einer Getreidezollbeseitigung. Von den Fabrikarbeitern und Beamten allein können wir nicht leben, wir brauchen vor allem einen gut situierten Bauernstand, welcher durch seine Kaufkraft der Konsument der Jndustrieerzeugnisse bleibt. So oft die Bauern schlechte Ernten haben, wie Heuer, so stockt sofort regelmäßig die industrielle Thätigkeit. Das ist hier in unserer Gegend, zwischen dem industriereichen Schwarzwald und dem getreidebauenden Schwaben, besonders deutlich zu spüren.
.Eine Zollsuspension wäre noch schlimmer
als die gänzliche Beseitigung der Zölle, denn nicht nur bei Aufhebung würde der Spekulant profitieren auf die von ihm auf Monate hinaus schon verkauften Quanten, für die ihm der Zoll voll und ganz in der Tasche bliebe, sondern bei der Wiederinkraftsetzung würde er nochmals eine fette Beute einheimsen durch vorherige Herbeischaffung riesiger .Masse Getreide, auf die er dann nachher den Zoll zu profitieren hoffte, der Landwirt aber vermag dann für lange Zeit für sein Produkt keine Käufer zu finden. Während die Berliner Börse vor 8 Tagen bei „wilder, stürmischer Hausse" den Getreidepreis um 2 per 100 Kilo hinaufschraubte, hatten wir an hiesiger Schranne laut offiziellem Ausweis 20 ^ Abschlag und konnten die Bauern erst nicht allen ihren Vorrat losbringen. Wir hatten an hiesiger Schranne am 28. April einen Preis von 12 56 per
50 Kilo Kernen (Spelz, kleberreichste, beste aller Getreidearten), zum 18. August dagegen, nachdem die „Teuerung" im Gehirn der Redakteure der „Franks. Zeitung" den Kulminationspunkt erreicht hatte, erzielten die 50 Kilo blos noch 12,18 also 38 weniger als im Frühjahr. Wenn der Zoll die Ursache des Brotaufschlages wäre, so müßte dieser auch überall im gleichen Verhältnis gewesen sein, dies ist aber bei weitem nicht der Fall. Wir z. B. haben am 14. Mai ein Brotpreiserhöhung eintreten lassen von 1 pr. Kilo, für Weißbrot 2 ^ pr. Kilo. Dies ist hier die einzelne Brotpreiserhöhung während der ganzen „Hungersnotperiode". Dagegen haben die Bäcker eines blos 1 Stunde von hier entfernten 7000 Einwohner zählenden Ortes, der im Reichstage durch einen demokratischen Freihändler vertreten ist, um 4 pro Kilo mit derselben Brotsorte aufgeschlagen, obwohl das Mehl in diesem Orte von hier aus geliefert wird zum gleichen Preis wie den hiesigen Bäckern. In einem Städtchen, 3 Stunden von hier, schlugen die Bäcker mit — wiederum mit ganz derselben Vrotsorte — um 2 ^ pro Kilo auf, nach 3 Tagen schlugen sie aber wieder um 1 iZ ab, weil sie inzwischen uneins wurden. Diese Differenzen, die sich in einem Umkreise von blos 3 Stunden zeigen, werfen das ganze Argument der Freihandelspresse, daß der Zoll genau im Brotpreis kalkuliert sei, über
den Haufen. Warum lassen es denn die
Börsenleute der Großstädte geschehen, daß trotz der „Teuerung" diese Städte den Oktroi auf die Lebensmittel ruhig fortbestehen lassen? Fürchten sie vielleicht, daß sie dann den Ausfall durch Erhöhung der direkten, sie treffenden Gemeindesteuer aufgeladen bekommen? Und warum erwerben denn die Vertreter „des armen Mannes" nicht Grundeigentum, anstatt Spekulationswerte des Auslandes, warum wirft kein Einziger sich auf den Getreidebau, wenn den „Agra
riern" so ungeheure Gewinne aus den Getreidezöllen in die Taschen fließen? Wenn die „Franks. Ztg." jüngst mitteilte, daß aus der zollfreien Schweiz herübergeholtes Brot per Kilogramm um 10 -jz billiger sei, als die durch den Getreidezoll verteuerten Brotpreise der Stadt Konstanz, so erwiedern wir, daß der Getreidezoll auf das Kilogramm Brot, selbst wenn der gesamte Zoll in Wirklichkeit im Brot kalkuliert sich fände, erst 3'/- pro Kilogramm Brot ausmacht; woher rühren dann die anderen,6'/s A um die das Kilogramm Brot in Konstanz noch teurer ist, als in der Schweiz? Man würde nicht fertig werden, all den zu Tag geförderten Unsinn, durch die That- sachen zu wiederlegen, wie sie sich in der Praxis ergeben. Soviel steht fest, daß das Brot erheblich billiger sein könnte, als es vielerorts ist, wenn dem Börsentreiben und der Hetzpresse rechtzeitig ein Riegel vorgeschoben worden wäre."
Tages-Neuiykeiten.
* Calw, 4. Sept. Der 2. September, der Geburtstag des geeinigten deutschen Vaterlandes, konnte Heuer aus verschiedenen Gründen nicht in der großartigen Weise wie in den vorangegangenen Jahren gefeiert werden; doch sollte der Tag nicht ohne Gedenkfeier vorübergehen. Am Abend des 1. Sept. loderte ein Helles Freudenfeuer auf dem hohen Felsen; am Festtag selbst erscholl Choralmusik vom Stadtturm und dröhnende Böllerschüsse durchhallten das Thal. Der Veteranen- und Militärverein versammelte sich bei Bierbrauer Rau, um in Wort und Lied diesen denkwürdigen Tag zu feiern. Der Vorstand des Veteranenvereins, Hr. Bäckermeister Seeger, warf einen Rückblick auf den Tag von Sedan und schloß mit einem jubelnd aufgenommenen Hoch auf Kaiser Wilhelm II. In sehr ansprechenden und begeisternden Worten toastete der Vorstand des Militärvereins, Hr. Metzgermeister Karl Essig, auf unfern in Ehrfurcht geliebten König Karl. Patriotische Gesänge verschönerten die in der gelungensten Weise verlaufene Sedanseier.
Deckenpfronn, 3. Sept. Auch in hi-siger Gemeinde wurde der Tag von Sedan festlich begonnen. Die öffentlichen Gebäude waren beflaggt. Um 7 Uhr morgens riefen die Glocken zum Festgottesdienst, an den sich dann in den einzelnen Schulen kleine Schulfeiern anschloßen und die Kinder mit Sedansbretzeln beschenkt wurden. Hierauf durften die Kinder mit ihren Lehrern kleine Ausflüge in die Umgebung machen. Nach vollbrachter Tagesarbeit versammelte sich dann eine stattliche Anzahl von hiesigen Bürgern im Gasthaus zum Lamm, um bei trefflich mundendem Bier eine kleine Feier zu veranstalten. Herr Schullehrer Frey ergriff zuerst das Wort und gedachte in längerer, kerniger Rede der Tage von anno 70, zuerst rückblickend auf die Zustände in früherer Zeit, wie sich das deutsche Reich allmählich entwickelte und seit 1870 als ein einziges Deutschland dasteht. Hieran reichten sich die meisterhaft vorgetragenen Gesänge unseres hiesigen, unter Leitung von Herrn Frey stehenden Liederkranzes, welcher in letzter Zeit wiederholt von seiner guten Schulung Zeugnis ablegte und zugleich zeigte, wie erhebend und schön es in einer Gemeinde ist, wenn daselbst auch der Volksgesang gepflegt wird. Allen, welchen zum Gelingen dieses Festes mitgewirkt haben, sei hiemit noch Dank gesagt.
Kaudwirtschaftl. Kezirksvererrr.
Am Samstag, den 5. September d. I.,. wird der landwirtschaftliche Bezirksverein Nagold sein 50jähriges Bestandsjubiläum in Altensteig feiern, und hat hiezu den landwirtschaftlichen Verein Calw eingeladen.
Hievon setze ich die Mitglieder des Vereins ergebenst in Kenntniß.
Calw, den 3. September 1891.
Vereinsvorstand:
Supper. _
Landwirt sch aftl. Kezircksverein.
In Folge Erlasses der K. Centralstelle für die Landwirtschaft vom 2. d. M., mache ich unter Bezugnahme auf die Aufforderung in Nr. 99 des Calwer Wochenblatts bekannt, daß die Anmeldungen von Vieh zu der Staatsprämierung beim landwirtsch. Hauptfest in Cannstatt unverzüglich erfolgen müssen. Die Interessenten werden daher zur alsbaldigen Anmeldung veranlaßt.
Calw, den 3. Septbr. 1891.
Vereinsvorstand:
Supper.
Landwirtschaftl. Aereirr.
Für eine Anzahl von Vereinsmitgliedern, welche das landw. Hauptsest in Cannstatt besuchen, können Abzeichen zum Eintritt in den inneren Kreis abgegeben werden.
Vereinsmitglieder, welche ein solches Abzeichen zu erhalten wünschen, wollen dies dem Unterzeichneten spätestens bis 7. September ds. I. mittheilen. Nach diesem Tag einkommende Meldungen können keine Berücksichtigung finden.
Bemerkt wird, daß diese Abzeichen nur für Vereinsmitglieder bestimmt sind und von diesen nicht an andere Personen, insbesondere auch nicht an Kinder, verabfolgt werden dürfen.
Calw, den 3. Septbr. 1891.
Vereinsvorstand:
_ Supper. _
Standesamt Kalw.
Geborene-
Paul Eugen, Sohn des Rudolf Scheuerte, Metzgermeisters hier.
Anna, Tochter des Josef Kunz, Steinhauers hier.
Emma Lilly, Tochter des Adolf Wengert, Kaufmanns hier.
Getraute:
Ernst Julius Schneider, Rechtsanwältin Backnang und Bertha Kling er hier. Gestorbene:
Christian Friedrich Beißer, Schuhmacherslehrling, Sohn des ch Christian Beißer, gewes. Schuhmachers hier, 16 Jahre alt, Christine Riexing er, ledig, 81 Jahre alt. Pauline geh. Seeger, Witwe des ch Karl Ra user, Kronenwirts hier, 48 Ja hre alt.
Gottesdienst
am Sonntag, den 6. September.
Gottesdienstliche Feier des Geburtsfestes Ihrer Majestät der Königin.
Vom Turm: 525.
Vorm.-Predigt: Herr Dekan Braun. Feier des heiligen Abendmahls.
Nachm.-Predigt: Herr Missionar Hess e.
17. Aug. 21 . „ 28. „
29. Aug.
28. Aug.
29. ..
30. „
Schwerste, das Furchtbarste gewesen wäre, das sie von ihm verlangte, — er würde in diesem Augenblick gewiß nicht die Kraft gefunden haben, cs zu verweigern.
„Wenn Sie der Fürstin verziehen, was sie gefehlt, was gäbe mir dann noch ein Recht, ihr zu zürnen!"
Er hatte es mit Rücksicht auf das schlafende Kmd in leisem Flüsterton, aber doch mit beinahe leidenschaftlicher Erregung gesprochen, und dabei hatte er, ehe sie es hindern konnte, ihre Hand ergriffen und seine Lippen auf die weiße, sammetweiche Haut gedrückt. Alice zuckte unter der stürmischen Berührung zusammen und ihr Gesicht war plötzlich wie mit Blut übergossen. Sie machte eine Bewegung, sich zu befreien ; aber noch hielt er ihre Hand mit festem Drucke fest, als hinter ihnen die Eingangsthür des Gemaches mit kaum vernehmbarem Geräusch geöffnet wurde. Eine hohe, stolze Frauengestalt stand auf der Schwelle. — die Gestalt der Fürstin Baranow! Ihren prächtigen Körper verhüllte ein leichtes, lichtfarbiges mit Spitzen besetztes Gewand, das in losen Falten auf den Boden niederfloß, ihr schimmerndes blondes Haar war aufgelöst und fiel wie eine goldige Hülle weit über Schultern und Rücken herab. Ihr Gesicht aber schien in den sechs Wochen, seitdem sie Berlin verlassen, um Jahre gealtert. Es war totenbleich, und scharfe, herbe Linien hatten sich um Mund und Augen eingezeichnet. Regungslos wie eine Statue war sie stehen geblieben, als sie den Professor erkannt hatte, und mit weit aufgerissenen, geisterhaften Augen starrte sie auf das überraschende Bild. Das Unerwartete des Augenblicks schien ihr Sekunden lang Bewegung und Sprache zu rauben. Dann aber, als ihr dieselben zmückiehrten, vergaß sie alles Andere um sich her. Sie sah nicht ihr friedlich schlummerndes Kind und sie dachte nicht mehr daran, daß sie in einem Krankenzimmer stand. Mit einer Geberdr jähen Entsetzens warf sie beide Arme empor und mit dem schrillen Aufschrei „Raimund!" brach sie bewußtlos zusammen.
Nordenfeld und Alice hatten bis dahin nichts von ihrem Eintritt wahrgenommen. Nun fuhren sie heftig erschrocken auseinander, und im nächsten Augenblick knete das junge Mädchen an der Seite der ohnmächtigen Schwester. Der Professor
aber trat vor Allem an Guido's Bettchen, und erst, nachdem er sich überzeugt hatte, daß der Schlummer des Knaben nicht gestört worden war, wendete auch er sich der Fürstin zu.
Wie es schien, legte er der Bewußtlosigkeit Asta's keine besondere Bedeutung bei.
„Oeffnen Sie mir eines der Nebenzimmer!" bat er, indem er den willenlosen Körper leicht wie den eines Kindes in seine Arme nahm. „Nicht zum zweiten Mal dürfen wir den armen Kleinen der Gefahr aussetzen, unter der Unvorsichtigkeit seiner Mutter zu leiden!"
Glücklicherweise lagen um diese Zeit alle Dienstboten der Villa bereits in festem Schlafe, so daß der befremdliche Vorgang keinen weiteren Zeugen hatte. Nordenfeld ließ die Fürstin auf die Chaiselongue eines kleinen Empfangssalons niedergleiten, und Alice entzündete die Kerzen zweier Kandelaber, die auf dem Marmorsims des Kamins standen. Ihre Hände zitterten dabei ein wenig, 'und als sie sich wieder gegen den Professor wendete, war sie sehr bleich.
„Sie hegen doch keine Besorgnis wegen ihres Zustandes?" fragte sie leise.
Noroenfeld machte eine verneinende Bewegung, die nicht ohne eine gewisse ungeduldige Heftigkeit war.
„Durchaus nicht!" gab er zurück. „Ein gewöhnlicher Nervenanfall, der ohne jedes Eingreifen binnen kürzester Zeit überstanden sein wird. Doch werde ich der größeren Sicherheit halber bei der Fürstin zurückbleiben, bis sie wieder zu sich kommt, wenn Sie sich währenddessen unseres kleinen Patienten annehmen wollen."
„Aber Sie versprechen mir, nachsichtig und milde gegen sie zu sein — nicht wahr?"
„Kaum jemals habe ich mich weniger berufen gefühlt, über einen Anderen zu Gericht zu fitzen, als in diesem Augenblicke, Fräulein Alice!"
Seine Worte klangen herbe, beinahe rauh, wie von mühsam verhaltener Erregung. Das junge Mädchen fragte nicht weiter, sondern ging, ohne den Blick noch einmal zu ihm zu erheben, zur Thür hinaus.
(Forts, folgt.)