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der „Franks. Zeitung" (ohne Quellenangabe abgedruckten Artikel über angebliche Vorgänge im Offizierskasino zu der Gefängnisstrafe von fünf Wochen verurteilt worden. Den beleidigten Offizieren wurde die Befugnis zugesprochen, di» Verurteilung des Dr. Lipp auf dessen Kosten im „Staatsanzeiger" und in der „Heilbronner Zeitung" seinerzeit bekannt zu Machen.
Künzelsau,17. Juni. Bor mehreren Jahren starb die Frau eines Söldners in Kocherstetten an den Fol«n eines durch Unvorsichtigkeit herbeigeführten Falles über die Stiege hinab. In neuester Zeit ging'jedoch dort das Gerücht, daß diese Frau von ihrem Manne im Streite die Treppe hinunter geworfen worden sei und kein Unglücksfall Vorgelegen habe. Die auf Grund dieses Gerüchts stattgefundenen Erhebungen bestätigten diesen Verdacht gegen den Söldner. Es wurde nun die Verstorbene kürzlich auf gerichtliche Anordnung ausgegraben und die Leiche einer genauen Untersuchung unterworfen, wobei ein Schädelbruch festgestellt wurde. Der Söldner wurde gestern wegen dringenden Verdachts, dieses Verbrechen verübt zu haben, in Haft genommen.
Pforzheim, 17. Juni. Wie seit Jahren fand letzten Sonntag unter allgemeiner Beteiligung der Einwohnerschaft wieder ein Kinderfest in unserem hübschen Stadtgarten statt, das allgemein sehr gefiel. Vor Beginn der verschiedenen Spiele, Reigenaufführungen rc. auf dem Festplatze bewegte sich der Zug der Kinder, an dessen Spitze die Feuerwehrmusik spielte, durch verschiedene Straßen der Stadt. Den Hauptschmuck des Festzuges bildete eine lange Reihe prächtig geschmückter Wagen init reizend kostümierten Kindern.
Berlin, 16. Juni. Letzten Donnerstag wurden bei einem vom 4. Garderegiment in Spandau veranstalteten Schießen auf Thontauben, deren Flugbewegung derjenigen der Becassine ähnelt, so daß weniger geübte Schützen beim Thontaubenschießen eine geringe Anzahl Treffer erzielen, fünf vom deutschen Schießverein gelieferte Wurfmaschinen benutzt. Dem Schießen war die Schießordnung des Vereins zugrunde gelegt. Der Kaiser erzielte hintereinander 11 Treffer, machte unter den schwierigsten Verhältnissen mehrere Doubletten und im Ganzen überhaupt nur 2 Fehlschüsse. Keiner der Offiziere brachte es über 50 Prozent Treffer. Außerdem schoß der Kaiser auch mit drei Offizieren um einen Geldeinsatz von je 50 Pfg. Der Kaiser erzielte hierbei den Gewinn von 2 und als er das Geld einstrich, äußerte er launig: „Dafür kann ich ja einem meiner Jungen in der „Goldenen 110" einen Anzug kaufen."
Ermäßigte Frachtsätze für Handlungsreisende in Oesterreich. Wie ver Minister für Handel und Gewerbe der hiesigen Handelskammer mitteilt, werden nach den Bestimmungen der k. k. General-Directionen der österreichischen Staatsbahnen vom 1. Januar d. I. ab die Musterkoffer solcher Handlungsreisenden, welche sich über diese ihre Eigenschaft durch eine besondere Legitimationskarte aus- weisen, zu dem von 0,2 auf 0,1 Kreuzer für je 10 Kilogramm und 1 Kilometer ermäßigten Satze befördert. Diese Vergünstigung wird auch den deutschen Handlungsreisenden gewährt werden, wenn sie sich
durch eine von der Ortspolizeibehörde ausgestellte Bescheinigung ausweisen können.
Das Bahnunglück bei Mönchenstein. Die Direktion der Jura-Simplon-Bahn giebt jetzt eine Darstellung oer Katastrophe; es heißt darin unter Anderm: „Das Eisenbahn-Unglück erfolgte 500 Meter vor der Station Mönchenstein infolge des aus unbekannten Gründen erfolgten Bruches der eisernen -Brücke. Die Brücke, welche eine Oeffnung von 41 Metern har, dadiert aus der Mitte der Siebziger Jahre. Die Eisenkonstruktion wurde von Eiffel in Paris geliefert. Infolge der großen Ueberschwemmung von 1881 ivurde ein unterwühltes Widerlager durch Holzmann <L Co. in Frankfurt pneumatisch neu fundiert. Schon seit längerer Zeit fanden Revisionen der Eisenkonstruktion statt, deren Querträger dann voriges Jahr nach vom Eisenbahn-Departement genehmigten Plänen verstärkt wurden; die Hauptträger hatten sich als stark genug erwiesen." Die Aufräumungsarbeiten, welche sehr gefährlich sind und deshalb mit größter Vorsicht unternommen werden müssen, damit nicht neuerdings Leute zu Schaden kommen, sind noch immer in vollem Gange. Der Personenwagen 3. Klasse, welcher mit den hintern Rädern auf der Böschung geblieben war und schief gegen die Birs hinunterneigte, wurde vermittelst zweier starken Lokomotiven hinaufgezogen. Die Maschinen wurden so fest als möglich, mit dem verunglückten Wagen verkuppelt und es gelang endlich auch, denselben unter Krachen und Knirschen auf die Höhe zu bringen. Dadurch ist im Birsbett der Raum etwas frei geworden, so daß zu hoffen ist, daß es mit der Bergung der »och im Wasser liegenden, in Wagentrümmern eingeklemmten Leichen etwas rascher vorwärts gehen werde. — Welch' herzzerreißende Szenen sich auf der Unglücksstätte abspielen, läßt sich aus folgendem Berichte der „Franks. Ztg." ersehen: Von Zeit zu Zeit trägt man eine der verstümmelten Leichen durch die vieltausendköpfige Menge, die von früh bis spät die Unglücksstätte belagert. Unter den ängstlich Harrenden befinden sich selbstverständlich viele, die darauf warten, daß man die Ihren unter den Trümmern hervorziehe, und herzzerreißende Szenen giebt es so viele, daß man Bücher damit anfüllen könnte. Hier hat ein Mann seine Gattin und ein paar Kinder verloren, dort wiro der Vater, der Sohn, der Bruder vermißt, kurz, es ist ein Leid über die Stadt Basel gekommen, wie inan sich keines ähnlichen erinnern kann. Eifrig besprochen wurde besonders das Schicksal der Familie des Dr. Vögclin, eines beliebten Baseler Arztes, der mit drei Kindern zum Sängerfest wollte. Die Frau war ihm vor einem Jahre an der Influenza gestorben, nun ist er mit seinen dret Kindern vei dem Mönchensteiner Unglück um's Leben gekommen. Man soll ihn aufgefunden haben in jedem Arme eines seiner Kinder haltend. Allein von der Familie am Leben bleibt ein 12jähriger Sohn, der, während ver Vater mit den übrigen Geschwistern nacy dem Feste fuhr, einen Ausflug in die Berge mit seiner Klasse machte. — die Aerzte haben, um die Todesart eines Jeden festzustellen, ein trauriges Geschäft; eine Obduktion folgt der anderen. Verwundete giebt es mindestens ebenso viele wie Tote, denn auch die in den auf dem Geleise stehen gebliebenen Wagen befindlich gewesenen Personen haben bei dem plötz
lichen Ruck mehr oder weniger Verletzungen erlitten." Ein sehr lebhaftes Bild von der Mönchensteiner Katastrophe giebt folgende Schilderung, welche einer der Geretteten in der „Allgemeinen Schweiz. Ztg." entwirft: „Ich befand mich mit noch vier Verwandten und anderen Passagieren im Rauchkoupe 3. Klasse des dritten Personenwagens; mein dreijähriges Töch- terchen hatte ich auf dem Schoß sitzen. Zehn Minuten ungefähr mochte die Fahrt gedauert haben, da wurde ich durch einen Ruck, der mich sofort an eine Entgleisung denken ließ, auf mein Gegenüber geworfen. Sofort zog ich meine Beine auf den Sitz und hob meine Kleine in die Höhe. Der Wagen rollte nicht mehr, sondern schien sich in Sätzen vorwärts zu bewegen; immerhin glaubte ich ein Abnehmen der Fahrgeschwindigkeit wahrzunehmen und hoffte schon, mit dem Schrecken davongekommen zu sein, als plötzlich ein markerschütternder Schrei im Vorderteil des Wagens gellte. Ich sehe, wie die vordere Wand mit der Thüre durch die Puffer des vorhergehenden Wagens krachend eingedrückt wird. Alles geht aus den Fugen, Wände und Decken verschieben sich, Fußboden und Bank weichen unter mir — ich umschlinge mein Kind mit beiden Armen, um es möglichst vor Verwundungen zu schützen . . . und befinde mich im nächsten Augenblicke unter Wasser, umgeben von fest ineinander gekeilten Trümmern und Wagenteilen. Da sah ich vor mir, daß mein letztes Stündlein geschlagen habe; ich solle mit meinem armen Kinde in der Birs ertrinken. Ich dachte an meine gute, liebe Frau, welche mit dem kleinen sechs Monat alten Kinde zu Hause zurückgeblieben war, an meine Eltern, die auch im gleichen Zuge mit mir waren, an alle meine Lieben. Wie lange ich so unter Wasser war, weiß ich nicht, ich weiß nur, daß ich nach einem letzten verzweifelten Versuche, mich durch die Trümmer durchzudrücken — einem Versuch, der meinem Kopf eine ganze Reihe von Beulen und Schrammen eintrug — mich plötzlich an der Oberfläche des Wassers befand. Auch mein Kind war noch am Leben und zu meiner unaussprechlichen Freude sah ich in geringer Entfernung meinen Vater, ebenfalls unversehrt, am Gitterwerk der zerstörten Brücke herumklettern. In zwei oder drei Zügen hatte ich in dem an dieser Stelle ziemlich reißenden Fluß mit der Kleinen im Arme schwimmend das Ufer erreicht."
Standesamt Kala».
Geborene:
7. Juni. Wilhelm Friedrich Gottlieb, Sohn des Ernst Sitz! er, Bahnhoftaglöhncr.
12. „ Luise Pauline, Tochter des Ulrich Dingler,
Fabrikarbeiter.
15. „ Johannes Paul Friedrich, Sohn des Johann
Keller, Eisenbahnschaffner.
19. Werner Friedrich Erdmann, Sohn des Gottlob
Stein, Apotheker.
Gottesdienst
am Sonntag, den 21. Juni.
Vom Turm: 270.
Lorm.-Predigt: Herr Dekan Braun. 1 Uhr Christenlehre mit den Töchtern, 2 Uhr Bibelstunde im Vereinshaus: Herr Helfer Eytel.
Mittwoch, 24. Juni.
Feiertag Johannis.
9 Uhr Predigt: Herr Helfer Eytel.
fürstlichem Luxus mit einem Rosa-Himmelbett, blauen Divans und Fauteuils und einer prachtvollen Toilette ausgestattet war.
Auch hier war Niemand zu sehen. Wohin war Paul nur verschwunden?
Sie trat vor den Spiegel der Toilette und löste das Tuch, das ihren Kopf noch umband. Sie befühlte das Pflaster, das der Arzt aufgelegt hatte, und bemerkte, daß ihr Haar an der rechten Seite noch blutig gefärbt war. Sie goß Wasser in das Lavoir, das auf der Marmorplatte des Waschtisches stand, und machte rasch ihre Toilette, so rasch, als fürchtete sie, dabei ertappt zu werden.
Dann zog sie das Rouleaux eines Fensters empor und blickte ins Freie hinaus. Sie sah die Eis- und Schneedecke der Newa vor sich, durch den Dunstnebel des Morgens blickten die Häuser des jenseitigen Users herüber.
Sie erkannte die Gegend des englischen Quar's und allmählich kehrten die Erinnerungen der gestrigen Nacht klar zurück. Die Szene der Befreiung Pugatschews stand wieder lebhaft und deutlich vor ihrem Geiste. Der Sturz aus dem Schlitten hatte ihr das Bewußtsein geraubt. Dann hatte sie sich an der Seite Pauls wieder gefundenem einem fremden Hause, in dem man die Verletzte freundlich ausgenommen hatte. Aber in welchem Haus? Und warum hatte Paul sie verlassen? Warum ließ man sie so ganz allein?
Sie trat wieder in das Bibliothekzimmer zurück. Sie musterte die Bücher in den Schränken, die Zeitungen, die auf den Tische lagen. Da lag neben den neuesten Heften der „Revue des deux Mondes" und der „Deutschen Rundschau" der „Europäische Bote" und der „Ruß", neben dem „Golois" das „Journal de. St. Peters- bourg". In der Bibliothek waren die russischen Schriftsteller nur sihr spärlich, dagegen die Werke der Heroen der westeuropäischen Kultur sehr reichhaltig vertreten und man sah, daß sie nicht bloß in schönen Einbänden zur Schau gestellt, sondern auch fleißig benützt wurden. Und dort drüben im Schlafzimmer die Eleganz eines Dandy's der vornehmen Welt. Wer war es, der in diesen Räumen hauste ?"
Sie drückte aus den Knopf eines elektrischen Apparates, den ihr umherspähendes Auge neben der Thür entdeckt hatte.
Gleich darauf öffnete sich geräuschlos die Thür und ein Diener in blauer Livree trat ein.
„Lieber Freund", fragte sie, „von Ihnen werde ich wohl erfahren, in wessen Haus ich bin?"
Der Diener sah erstaunt auf, als verstehe er die Frage nicht.
„Man hat mich gestern Abend in bewußtlosem Zustande hierher gebracht und ich weiß nicht einmal, wer die guten Menschen waren, die mich ausgenommen haben."
„Das gnädige Fräulein", sagte der Diener in fast feierlichem Tone, „befindet sich im Palais Seiner Darchlaucht des Fürsten G."
„Des Fürsten G. ?" fragte Vera erstaunt, die den Namen eines der bekanntesten Kavaliere der Residenz gehört hatte.
„So ist es."
„Der Herr Fürst hat die Güte gehabt, mich bei sich aufzunehmen?"
„Ein Freund von ihm hat uns seinen Auftrag gebracht."
„Der Fürst ist nicht zu Hause?"
„Nein. Er ist die Nacht nicht nach Hause gekommen."
„Aber seine Familie? Oder — der Herr Fürst ist nicht verheiratet?"
„Nein."
„Kann ich Niemanden von seinen Angehörigen sprechen?"
„Seine Durchlaucht leben ganz allein."
„Er bewohnt ganz allein dieses große HauS?"
„Ja, das heißt, seine hohen Gnaden belieben nur diese vier Zimmer zu bewohnen."
„Je mehr sie fragte und Bescheid erhielt, desto seltsamer kam ihr ihre Lage vor. Sie befand sich gan, allein in den Appartements eines aristokratischen Kavaliers, von dem sie als von einem flotten Lebemann viel gehört hatte, der Junggeselle war und der sie jeden Augenblick in dieser Einsamkeit treffen konnte. Was sollte er von ihr denken? Sah es nicht so auS, als ob sie auf seine Rückkehr gemattet hätte? Warum hatte sie Paul auch allein gelaffen?
(Forts, folgt.)