M 72.
Amts- und Anzeigeblatt für den Bezirk (Lalw.
66. Jahrgang
Erscheint D i en s la g , Donnerstag und SamStag. Die Einri'rckungSgebühr beträgt im Bezirk und nächster Umgebung 9 Pfg. die Zeile, sonst 12 Pfg.
Samstag» den 2V. Juni 1891.
AbonnementSpreiS vierteljährlich in der Stadt BO Pfg. und 20 Pfg. TrLgerlohn, durch d'e Post bezogen Mk. 1. IS, sonst r, ganz Württemberg Mk. 1. 85.
Amtliche Bekanntmachungen.
Die Gememdl'bklMtll, Stistlmgsbkhcirden uud amttichkn Atkllkk,
>velche das alphabetische Gesammtregister über die Jahrgänge 1882 bis 1889 des Ministerialamtsblatts zu erhalten wünschen, haben gemäß Ministerialerlaß vom 8. d. M. — Amtsblatt S. 129 — ihre Bestellungen innerhalb vier Wochen bei der Unterzeichneten Stelle unter Beifügung von 1 70 für jedes
bestellte Exemplar zu machen.
Mit Rücksicht auf die Erleichterung für die Anwendung der bestehenden Vorschriften, welche sich aus der Benützung dieses Registers ergibt, wird die Anschaffung desselben dringend empfohlen.
Dabei wird darauf aufmerksam gemacht, daß auch das frühere, die Jahrgänge 1871 bis 1881 umfassende Gesammtregister zum Preis von 1 ^ 70 bei der Redaktion ves Amtsblatts nachbezogen werden kann.
Calw, den 17. Juni 1891.
K. Oberamt.
Supper.
Tnyrs-Ueulgireiten.
s:j Calw. Am nächsten Mittwoch den 24. 1i. M. wird der Verein für vaterländische Naturkunde in Württemberg seine jährliche Hauptversammlung in unserer Stadt halten. Die uns hiemit erwiesene Ehre, welche unserer Stadt auch vor nahezu 20 Jahren zu teil geworden ist, dürfte wohl manchen, der noch nicht Mitglied dieses Vereins ist, ermuntern, es jetzt zu werden, zumal da manche Mitglieder von hier und auswärts in den letzten Jahrzehnten durch Tod oder Wegzug Lücken in unserem Verein verursacht haben. Mitglied dieses
Vereins, der immer wieder neue schätzenswerte Entdeckungen und Erkenntnisse aus dem Walten der Natur zu Tage fördert, kann jeder werden, der jährlich 5 ^ bezahlt; er erhält dafür auch die Jahresberichte mit sehr lesenswerten Abhandlungen und guten Abbildungen. Es sind übrigens auch Nichtmitglieder freundlich eingeladen, den Verhandlungen, die nach 10 Uhr vormittags im Georgenäum beginnen, und der damit verbundenen Ausstellung merkwürdiger Naturgegenstände anzuwohnen und an dem Essen im badischen Hof um 1'/- Uhr teilzunehmen. Wer hiezu Lust hat, möge sich bei Herrn Thudium melden.
— In Bern eck, OA. Nagold, sind 2 Gebäude abgebrannt. Die Bewohner des einen Hauses, Straßenwärter Appenzeller und seine Frau, welche schon in tiefem Schlafe lagen, als das Feuer ausbrach, konnten nur mit Mühe geweckt und samt ihrem Vieh gerettet werden, die übrige Habe verbrannte. Die Ursache des Brandes ist noch nicht ermittelt.
Entringen, 14. Juni. Forstwächter Fried fand in den letzten Tagen auf,dex Suche nach einem angeschossenen Rehbock in einem Tannendickicht ein menschliches Skelett in sitzender Stellung mit Gewehr, daneben lag auch der Rehbock. Die Staatsanwaltschaft stellte fest, daß das Skelett das eines vor 2 Jahren verschwundenen bekannten Wilderers aus der Umgegend war. Der Kopf, welcher fehlte, muß vom Wild verschleppt worden sein. Ob Selbstmord vorliegt, erscheint zweifelhaft bei der sitzenden Stellung des Skeletts, zwischen dessen Beine die Flinte stand, deren einer Lauf entladen war.. Das Gewehr dürfte sich, als der Wilderer im Dickicht ausruhte, entladen haben und demselben ein jähes Ende bereitet haben. — Von den ungarischen Hirschen, schreibt man von Tübingen, die Prinz Wilhelm vor Monaten im Schönbuch aussetzte, um der dortigen Hirschrasse, die unter der Inzucht leidet, neues Blut zuzuführen, ist der eine leider eingegangen. Man fand ihn am Sonntag tot im Forste.
Stuttgart, 16. Juni. Die Gewinne der internationalen Gemäldeausstellung werden nach und nach abgeholt, so daß bis jetzt von den 17 Hauptgewinnen alle bis auf 4 von den Gewinnern reklamiert worden sind; nicht gefordert wurden bis heute der dritte, der fünfte, der zwölfte und dreizehnte Gewinn. Verkauft ist der zweite, der sechste, siebte, zehnte, elfte und vierzehnte Gewinn, während der neunte und siebzehnte von den Gewinnern behalten wurden. Auf den ersten Gewinn, welcher einer unbemittelten Erzieherin zufiel, ist schon ein Angebot geinacht worden.
Reutlingen, 16. Juni. An dem Fabrik- Neubau von Ulr. Kohllöffel ereignete sich heute vormittag ein schwerer Unglücksfall, indem das Gerüst, auf welchem drei Maurer beschäftigt waren, brach, dieselben abstürzten und schwer verletzt vom Platze getragen werden mußten. Einer von den Bedauernswerten mußte sofort nach Tübingen verbracht werden, da derselbe eine schwere Kopfverletzung erlitten hat und wenig Hoffnung vorhanden sein soll, ihn am Leben zu erhalten.
Reutlingen, 18. Juni. Mit der hiesigen Bürgerschaft, welche auch diesmal wieder den Ruf der ihr stets nachgerühmten Gastfreundschaft wahren wird, wetteifern fremde Schtttzengilden in der Stiftung von Ehrengaben zum Land es sch üzen fest. Eine besonders rege Thätigkeit entwickelt unser Landsmann Gustav Heerbrandt, Redakteur in Newyork, unter den in den Vereinigten Staaten angesiedelten Schwaben, die des Heimatlandes nicht vergessen haben, und bis jetzt inehr denn 600 ^ zur Stiftung von Schießpreisen auf dem Wege der öffentlichen Sammlung zusammengebracht haben.
Heilbronn, 17. Juni. (Strafkammer des K. Landgerichts.) Heute ist der Redakteur der „Hellbrauner Zeitung" I)r. ftir. Franz Lipp hier wegen Beleidigung der Offiziere des Ulanenregiments König Karl in Stuttgart durch den mehrerwähnten, aus
H ^ ^ 6 1 <? N» Nachdruck verboten.
Die Spionin.
Roman aus dem russischen Nihilistenleben.
Nach den Aufzeichnungen eines Petersburger Polizeibeamten.
Von Willibald Mencke.
(Fortsetzung.)
„Ich denke nur. wie ich an seiner Stelle gehandelt hätte."
„Du, Paul? Ich weiß, Du bist mein treuer Kamerad." Sie reichte ihm die Hand und erhob sich etwas, indem sie den Kopf auf den rechten Arm stützte. „Aber er" — fuhr sie dann fort — „konnte er anders handeln? Er mußte Pugatschew retten. Er ist den Oberen verantwortlich."
„Zu denen er selbst gehört."
„Wie, Dmitri ist Mitglied des geheimen Komitees?"
„Ja, er ist Derjenige, der den Namen „der Andere führt".
„Der Andere? Aber das ist nickt möglich."
„Rege Dich nicht auf. Du mußt Dich so ruhig als möglich verhalten, hat der Arzt gesagt."
„Dmitri — der Andere? Woher weißt Du das ?"
„Ich weiß es."
„Oh, dann wird ihm nichts geschehen. Sie sind allmächtig!"
Der Gedanke, daß ihm nichts wiederfahren könne, wenn er von der Allmacht des Komitees beschützt werde, schien beruhigend auf ihren Zustand einzuwirken. Sie streckte sich auf dem Sopha aus und schloß die Augen wieder. „Ich bin doch sehr müde," sagte sie dann.
„Es wäre gut für Dich, wenn Du schlafen könntest."
„Ich will es versuchen."
Nach einer Pause murmelte sie, mit geschlossenen Augen, schon halb im
Schlafe: „Sonderbar! Der Andere: „Daß er mir nichts davon gesagt." Bald daraus verriet die regungslose Ruhe ihres Körpers und das regelmäßige Heben und Senken ihrer Brust, daß sie fest schlief.
Paul zündete sich > ine Cigarrette an, schraubte die Lampe kleiner und lehnte sich in den Fauteuil zurück.
So verbrachten sie die Nacht.
Vera's Erwachen.
Der Tag dämmerte bereits, als Vera nach festem und tiefem Schlafe um acht Uhr Morgens erwachte. Sie richtete ihre Blicke, sobald sie die Augen geöffnet hatte, mit dem Ausdrucke der Verwunderung auf jeden Gegenstand in dem Raume, in dem sie sich befand; dann sah sie starr vor sich hin, als besinne sie sich auf Alles, was mit ihr vorgegangenen war. „Paul!" rftf sie dann aus, indem sie sich erhob und Denjenigen mit den Augen suchte, dessen Namen sie genannt hatte. Aber Niemand gab ihr Antwort. Sie war allein.
Sie erhob sich von ihrem Ruheplatz. Bis auf eine gewisse Schwere ihres Kopfes und eine große Mattigkeit in ihren Gliedern fühlte sie keine andere Nachwirkung des Unfalls, der sie getroffen hatte. Mit Anfangs unsicheren, dann festen Schritten trat sie an die Thür des Nebenzimmers und klopfte leise an.
„Paul, bist Du hier?"
Keine Antwort. Sie öffnete die Thür und blickte in einen elegant möblierten Salon. Ueber dem Sopha hingen die Bilder eines älteren Mannes in reich gestickter Hofuniform und einer Dame von auffallender Schönheit, an der entgegengesetzten Sette nahm ein Kolossalbild des Kaisers Nikolaus einen großen Teil der Wandfläche ein.
Wo in aller Wett befand sie sich? Sie kam sich vor, als wandere sie in einem verzauberten Schlosse umher.
Sie schloß die Thür wieder und streifte auf der entgegengesetzten Sette die Portiere de» Nebenzimmers zurück. Sie sah in ein Schlafzimmer, das mit wahrhaft