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nächsten Umgebung sehen muß. Aber das Uebel sitzt noch tiefer: Der Arbeiter vermißt die persönliche Liebe. Er sieht sich bloß als eine Ware behandelt, bei den ungeheuren Spekulationen kommen nur noch Zahlen, nicht die Menschen in Be­tracht. Es fehlen darum die persönlichen Beziehungen. Mag attch durch eine wohlwollende Geschäftsleitung dieser Mangel möglichst gelindert werden, so fühlt sich der Arbeiter doch in seinem Menschenwert herab- gSdrAjckt. An all diesen Beschwerden des Arbeiters setztHie ^So-ziakdemo kratie ihre Hebel ein und erklärt die Abhilfe für ihr Monopol. Zunächst faßt sie die Besserung der materiellen Lage des Arbeiters nach allen ihren Seiten ins Auge. Aber Abhilfe in dieser Beziehung ist nicht ihr eigentlicyes letztes Ziel; sonst würde sie nicht die staatlichen Linderungsmittel und Versicherungsgesetze teils mißtrauisch aufnehmen, teils ganz ablehnen. Die Sozialdemokratie geht viel­mehr tiefer in die Lebensverhältnisse des Arbeiters hinein. Ihr Angriff richtet sich auf die Religion, die sie von ihrem materialistischen Standpunkt aus als unwissenschaftliche Geistesvergiftung" verachtet, gegen die Ehe, deren rechtliche Bande im Interesse der Freiheit möglichst gelockert oder ganz gelöst werden sollen, gegen das Vaterland, das sie seit ihrem Be­stehen in der empörendsten Weise beschimpft zugunsten einer internationalen Menschenverbrüderung (Redner führt hiefür bestimmte Beispiele an). Während also das Vermissen der Liebe der tiefste Grund der Ar­beiterklage ist, reißt die Sozialdemokratie vollends alle Liebe in Religion, Familie und Vaterland aus dem Herzen des Arbeiters. So wird durch ihre Schuld der Arbeiter geistig bettelarm und unglücklich, ärmer und unglücklicher, als ihn >e sein Geldbeutel machen könnte. Aber auch aus diesem zerstörenden Haß der Sozialdemokratie tönt der Schrei nach Liebe und zwar in der Form der Forderung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in einer neuen Gesell­schaftsordnung. Dieses Ideal führt ihr die vielen Anhänger zu. Aber hat die Soziatdemokratie die innere Kraft zu dieser idealen Liebe? Wahre Liebe läßt sich für alle Zeiten und Verhältnisse nur schöpfen aus "der alten Quelle, die Christus eröffnet hat. Wohl hat die christliche Kirche bisher manches ver­säumt in der Erfüllung dieser Liebespflicht, aber doch giebt es unzählige, meist still und verborgen bleibende Beweise dieser echten Liebe. Die Kräfte der Liebe können nur aus dem Evangelium kommen und sie müssen aus demselben kommen. Das Evangelium muß darum eine kräftige praktische Bethätigung ge­winnen in allen Ständen und Gliedern unseres Volkes. Dann werden auch mehr und mehr die Klagen ver­stummen und die wirklichen Notstände beseitigt; dann wird der Arbeiterstand ein Salz und Stolz umser es Volkes. Für diese innere Heilung der sozialen Schäden durch das Evangelium aber hat die Sozialdemokratie kein Verständnis. Darum haben wir uns zusammengefunden in evangelischen Arbeiter­vereinen, um durch Festhaltung am evangel. Glauben

und durch Pflege christlicher Liebe die Arbeiterhilfe innerlich und äußerlich auf dem alten Weg des Evange­liums ihren neuen Zielen entgegenzuführen. An diesen Vortrag, der mit großem Beifall aufgenommen wurde, knüpfte sich noch eine lebhafte Debatte mit den an­wesenden Sozialdemokraten, deren Ausführungen aber entschiedene und treffende Ablehnung auch von unseren Weingärtnern erhielten. Der Verein selbst hat durch diese Versammlung einen weiteren Wir­kungskreis und neue Mitglieder gewonnen. Dem verehrten Herrn Rektor Conz sei aber an dieser Stelle herzlich Dank gesagt.

Tübingen, 3. Juni. Die Gewerbe- Ausstellung endet, eine Seltenheit, ohne Deficit. Die höchste Besucherzahl mit 3000 wurde am letzten Sonntag erreicht.

Murrhardt, 4. Juni. In der Nacht vom 21.22. Mai wurde bei einem hies. Bauführer ein­gebrochen und ein Nivelierinstrument im Wert von 6070 gestohlen. Am Dienstag ist nun der

Hauptteil des Instruments samt Etui auf einer Holz­beuge hinter dem Rathaus und gestern morgen der andere Teil neben einer Holzbeuge an der Hauptstraße gefunden worden. Von dem Thäter, der mit dem Instrument weiter nichts anzufangen wußte, hat man noch keine Spur.

Vom unteren Neckar, 4. Juni. Inner­halb der Umfassung der chemischen Fabrik Heilbronn wird gegenwärtig ein neues Bohrloch getrieben. Der Bohrer arbeitet schon in einer bedeutenden Tiefe und wird mit 170 Meter auf Steinsalz kommen, wie dies im Salzwerk auch der Fall ist. Das hinuntersickernde Wasser löst in den Bohrlöchern immer so viel Salz auf, daß es als Sohle zu chemischen Zwecken, wie zur Sodabereitung verwendet werden kann.

Heidenheim, 3. Juni. Letzter Tage hatte ein Radfahrer einen 4 Jahre alten Knaben vor sich auf die Maschine genommen. Weil der Knabe einen Fuß ins Rad brachte, kam die Maschine zu Fall. Der Knabe brach das Nasenbein und hat sonst noch bedeutende Verletzungen erlitten.

Vom Schurwald, 4. Juni. Letzten Sonn­tag den 31. v. Mts. wollte Georg Sieder zur Oehlmühle bei Hegenlohe einem Fuchs, den es nach seinen Hühnern gelüstete, mit einer alten Flinte den Garaus machen. Das ziemlich defekte Mordinstrument ging los, der Lauf zersprang und riß dem Müller drei Finger der linken Hand ab. Diese mußte amputiert werden, und der Fuchs kam mit heiler Haut davon.

Ravensburg, 6. Juni. Ueber die projektierte Ausnützung der Wasserkräfte des Argenflusses zwischen der Gießenbrücke und Laimnau zur elektrischen Ueber- tragung von Licht und Kraft nach Ravensburg und Umgebung sind wir in der Lage folgende zuverlässige Details mitteilen zu können. Die Unternehmung be­ruht auf Ausnützung der billigen Wasserkraft der Argen, welcher Fluß dem Unternehmen 400 Pferde­kräfte zur Verfügung stellt, die durch Akkumulatoren

auf das dreifach«, also auf 1200 Pferdekräfte täglich gesteigert werden. Außerdem soll aber diese Anzahl von Pferdekräften durch weitere Ausnützung des oberen Teiles der Argen und andere technische Vorkehrungen, noch erheblich erhöht werden können. 400 Pferde­kräfte sind nach der projektierten Anlage für die Beleuchtung (67000 Glühlampen uns 200 Bogen­lampen), 700 Pferdekräfte für industrielle Zwecke auf dem Wege der Kraftübertragung zur Verfügung.. Ins Auge gefaßt ist dabei der elektrische Betrieb der Bahn Tettnang Meckenbeuren. Die Preise des elektrischen Lichtes gegenüber den anderen Beleuchtungsarten stellen sich, das Gas beispielsweise angenommen, wie folgt. Während eine Gasflamme per Jahr 30 ^ kostet, beträgt der Preis für ein Glüh licht 1315 bei großem Bedarfs10-^; für eine Bogenlampe zu 12 Glühlichtern 60 ^ jähr­lich. Dabei besitzt eine Glühlampe die Leuchtkraft von 2 Gasflammen, eine Bogenlampe die von 3040 Gasflammen. Die Kosten für Jnstallationffind gering: für eine Glühlampe 1216 für eine Bogen­lampe 100120 Die Ungefährlichkeit der An­

lage ist zweifellos. Das Projekt ist bereits soweit gediehen, daß es unbededingt zur Ausführung kommt. Alle Maschinen liefert das bekannte Eta­blissement Oerlikon nach dem bewährten Rrown'schen System, die übrigen Bauten führt die renommierte Fabrik Escher, Wyß u.Eie. dahier aus. Die württem- bergische Regierung hat bereits das Projekt genehmigt. Bei der großen Nützlichkeit des für unsere Gegend hochwichtigen Unternehmens ist an starker Beteiligung an dem nächsten Montag abend im Lamm dahier stattfindenden Vortrag über die Angelegenheit nicht zu zweifeln. Oberschw. Anz.

Petersburg, 1. Juni. In den Gouverne­ments Simbirsk und Samara hat ein Bauernaufstand infolge ökonomischer Ursachen stattgefunden, dessen Niederschlagung mit beträchtlichem Blutvergießen ver­knüpft war. Aus Moskau wird gemeldet: Die Polizei hat 12,500 Juden auf ihren Listen, davon wurden bereits über 7000 ausgewiesen. Dem Großfürsten Sergius wird der ursprüngliche Wunsch, Moskau von der hebräischen Bevölkerung zu säubern, zuge­schrieben. Er soll vor seinem Amtsantritt erklärt haben, die Judenfrage müsse vor seiner Ankunft in Moskau gelöst sein.

Madrid, 6. Juni. Ein choleraverdächtiger Todesfall wird aus Valenzia gemeldet. Die Nach­richt ruft allgemeinen Schrecken hervor.

vermischtes.

Ein Gruß aus Indien. Im Park des- Schlosses Ruhleben, so erzählt eine Berliner Lokal­korrespondenz, baute sich vor Jahren ein Storch mit seiner Gefährtin an, und beide kehrten regelmäßig

Dabei verstanden sie es, der Propaganda ihrer anarchistischen Ideen eine bewunderungswürdige Organisation zu geben. Wohin die Polizei bei ihrer Ver­folgung der Verschwörer in die Kreise der russischen Jugend griff, überall stieß sie auf Nihilisten, aber diese Anhänger des Geheimbundes, die leicht zu greifen waren- bildeten eine Wolke um den Mittelpunkt desselben, der unerreichbar erschien. Fast in jedem Bezirke St. Petersbmgs gab es einen nihilistischenZirkel", der aus Affi- liirten und wirklichen Mitgliedern bestand. Die Affiliirten hatten nur die Aufgabe, für die Verbreckung der nihilistischen Ideen zu wirken; jeder nach seiner Weise und nach dem Maße seiner Befähigung und seines Einflusses. Aus diesen rekrutierten sich die wirklichen Mitglieder, die jederzeit bere't waren, auch durch die That für die Ideen des Bundes einzustehen. Und auch diese waren nur die Werkzeuge der geheimen Vorsehung des Bundes, des Exekutivkomitees, zu dem jeder Zirkel seinen Vorsitzenden delegierte. Die einzelnen Zirkel verkehrten nur durch das Exekutiv­komitee mit einander, so daß z. B. die Mitglieder des Zirkels völlig im Unklaren darüber blieben, welche Mitglieder zum Zirkel L gehörten. Um sich einander als Angehörige des Bundes kenntlich zu machen, bedienten sie sich gewisser Zeichen, so z. B. war eine Zeit lang üblich, bei persönlichen Begegnungen, wenn man die Ge­sinnungen Desjenigen erforschen wollt?, mit dem man zum ersten Male zusammen­traf und in dem man einen Angehörigen des Bundes vermutete, sich auf eine besondere Art die Hand zu drücken. Dann kam es auf, daß man im Verlaufe der Unter­haltung ein bestimmtes Wort mit einer auffallenden Betonung gebrauchte. Reagierte der Betreffende, mit dem man es zu thun hatte, auf diese Erkennungszeichen, so konnte man sicher sein, daß man einen gleichgesinnten vor sich hatte. Außerdem teilte das Exekutivkomitee den «meinen Zirkeln ein Losungswort mit, das im gefähr­lichen Augenblicke als Erkennungszeichen diente und das in jeder Woche wechselte.

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Es war an einem der letzten kalten Winterabende, die der März noch ge­bracht hatte. Der Schnee knisterte unter den Füßen eines jungen Mädchens.', das rasch den NewSky hinab nach der Fontanka zueitte. Als sie an der Arritschkowbrücke

angekommen war. begegnete sie drei Herren, von denen sie Denjenigen schärfer ins Auge faßte, der in der Mitte ging.

Dmckri sagte sie halblaut vor sich hin, indem sie ihre wollene Kapuze etwas lüftete, so daß er sie erkennen konnte.

Der junge Mann verabschiedete sich von seinen beiden Begleitern und trat auf Diejenige zu, die seinen Namen genannt hatte.

Bist Du es, Vera?" fragte er.

Ich wollte Dich eben aufsuchen. Gut, daß ich Dir begegnet bin. Aber wie elegant Du gekleidet bist!" Sie sah auf den kostbaren Pelz, den er trug.

Maskerade, mein Kind."

Du siehst aus, als ob Du auf einen Ball gehen wolltest."

Warum nicht?"

Die Zeit ist nicht darnach angethan. Es gehen sehr ernste Dinge vor. Man bringt ihn heute Nacht auf die Festung."

Wen?"

Pugatschew.,,

Pugatschew?" O mein Gott das bedeutet Sibirien."

Und vorher die Folter. Denn sie werden versuchen, ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Warum hätten sie ihn sonst von den Uebrigen getrennt, um ihn allein auf die Festung zu führen? Sie müssen dahinter gekommen sein, daß er zu den Großen gehört. Aber er wird nichts verraten."

Woher weißt Du Alles?"

Bon Paul Zwetajeff."

Wo ist Zwetajeff?"

Er wartet auf meinem Zimmer. Ich sagte ihm, daß ich Dich benachrichtigen wollte. Er hat eine Ordre des Polizeimeisters gesehen, in der es heißt, daß Pugatschew um Mittemacht aus dem Polizeigefängnisse des zweiundzwanzigsten Bezirks unter, starker Bedeckung nach der Festung gebracht werden soll."

(Fortsetzung falzt.)