M 67. Amts- und Anzergeblatt für den Bezirk (Lcrlw. 66. Iahkgavs.

Er^chrint Dien r ia g , Donnerstag und SamStag.^ Die Einrückungsgebühr beträgt im Bezirk und nächster Um- !> gebung S Pfg. die Zeile, sonst 12 Pfg. !>

Dienstag, den 9. Zum 1891.

Abonnementspreis vierteljährlich in der Stadt BO Pfg. und SO Pfa. TrSgerlohn, durch die Post bezogen Mk. 1. 15, sonst iu ganz Württemberg Mk. 1. 35.

Amtliche Kkklilllitiiiachuilg,

betreffend den Ausbruch und das Er­löschen der Maul- uffd Klauenseuche.

Unter dem Rindvieh in der Gemeinde Aich- Halden ist die Maul- und Klauenseuche ausge­brochen.

Erloschen ist dis Seuche unter dem Rindvieh in der Gemeinde Martinsmoos.

Calw, den 6. Juni 1891.

K. Oberamt. Amtmann Bert sch.

Tnges-Deuigkeiten.

* Calw. Zum Bäckertag. Wie bekannt, hat zur Zeit der Belagerung von Wien durch die Türken (1683) ein von hier gebürtiger Bäcker die Behörde auf ein unterirdisches Geräusch aufmerksam gemacht, welches von Minenarbeiten der Türken her­rührte. Durch die Schritte, die sofort getyan wurden, soll Wien vor der drohenden Eroberung bewahrt worden sein. Zum Dank für diese Dienstleistung durfte sich der Bäckergeselle eineGnade" ausbitten, welche Gelegenheit er jedoch nicht in seinem Interesse ver­wertete, dagegen gedachte er seiner Kollegen in Calw, indem er den Wunsch äußerte, daß der hiesigen Bäcker­zunft an ihrem Jahrestage eine Stunde lang von Mittags 121 Uhr die große Glocke geläutet werden dürfe. Von diesem wohl einzig dastehenden Rechte machten die hiesigen Bäcker an ihrem Jahres-Ver- sammlungstage bis zum Jahre 1863 wo bereits bei r/sstünd. Läuten 3 jähr. Perioden eingetreten gewesen mären mit Stolz Gebrauch. Morgen Dienstag kommt nun die Württemberg. Bäckergenossenschaft hier zu­sammen und in solchen Fällen kramt man immer

nach alten verbrieften Rechten was hier zwar nicht'der Fall ist immer aber nach garnierenden Zuthaten und warum sollte diese geschichtlich festge­stellte Thatsache bei dieser Gelegenheit nicht wieder in Erinnerung gebracht werden. Die hiesige Ein­wohnerschaft erwartet jedenfalls in ihrer großen Mehr­heit, daß die Bäcker von ihrem alten Rechte Gebrauch machen und wir glauben, daß im Gestattungsfalle den Bäckerlehrlingen eine große Freude bereitet wäre, dürsten sie an diesem selten wiederkehrenden Tage zu Ehren des Wiener Kollegen die große Glocke läuten.

* Calw. Bei dem gestern stattgehabten Preis­turnen der Wilh. Reichert'schen Stiftung sind fol­gende Turnschüler mit Preisen bedacht worden: Guß­mann, Holzer, Rath, Fehleisen, Stoz, Rühle, Wackeithuth, W o l lme r s h ä user, Seeger, Zoeppritz, Martius, Schiler, Zeile, Herion, Dölker, Schlatterer; ferner die Turnzöglinge: Wendel, Josenhans, Belz, Beutler, Bastian, Laun, Müller, Eisen­hardt, Schaible.

Stuttgart, 5. Juni. Bei Valzacchi sind heute die ersten Bananen eingetroffen. Diese der Piscmpflanze (Llusa xaraäisioa) entstammende Frucht, welche ein Hauptnahrungsmittel der Bewohner der heißen Zone bildet, bürgert sich immer mehr bei uns ein.

Fellbach, 1. Juni. Gestern hielt der hiesige evangelische Arbeiterverein bei K. Seibold z. Rebstock seine Monatsversammlung ab, die von hies. Arbeitern, Handwerkern und Weingärtnern, sowie von sonstigen hiesigen und Cannstatter Freunden wohl besucht war. Auch einige Sozialdemokraten hatten sich eingestellt. Den Mittelpunkt bildete der überaus

klare und warme Vortrag von Herrn Rektor Conz aus Cannstatt über das Thema:Arbeiterhilfe, ein alter Weg zu neuen Zielen". Redner ging davon aus, daß die soziale Frage nicht bloß die Arbeiter, sondern das ganze Volk bewege, daß es sich ferner dabei nicht bloß um Fragen handle, die nur der Nationalökonom zu lösen verstehe, sondern um eine das Volksleben in den tiefsten Gründen erfassende Bewegung, über die jeder Volksfreund sich besinnen müsse. Die soziale Frage ist in unserer Zeit aller­dings wesentlich eine Arbeiterfrage: der Arbeiter ver­langt nach Hilfe und er bedarf einer Hilfe. Wo aber fehlt es? Bloß am Geldbeutel? Ist die soziale Frage bloß eine Magenfrage? Dann wäre die Ab­hilfe nicht so schwer. Aber im Vergleich mit den ländlichen Lebens- und Lohnverhältnissen ist die materielle Bedrängnis des Arbeiters bei uns keine unbedingt dringende. Vielmehr erreicht bei uns die Agitation ihren Gipfelpunkt gerade in den günstigeren Lohnverhältnissen. Viel drückender als die materielle Einschränkung wird vom Arbeiter der Mangel an Freiheit empfunden. Während er im politischen Leben vollberechtigter Bürger ist, ist er in seinen sozialen Verhältnissen mit seiner ganzen Existenz von der Per­son und dem Betrieb des Arbeitgebers abhängig; er ist selbst wie ein Rad in den Betrieb der Fabrik ein­gespannt. Daran trägt nicht die Willkür einzelner Arbeitgeber die Schuld, vielmehr ist dies die Folge der großartigen Umwälzung der Produktionsweise, wie sie aus der rastlos fortschreitenden Technik und den großen kapitalistischen Anlagen herausgewachsen ist. Zum Schmerz über jene Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit kommt dann noch hinzu das bittere Gefühl beim Anblick der frevelhaften Ueppig- keit und Leichtfertigkeit, die der Arbeiter oft in sein r

^ 6 ^ ^ 1 6 1 O Nachdruck verboten.

Die Spionin.

Roman aus dem russischen Nihilistenleben.

Nach den Aufzeichnungen eines Petersburger Polizeibeamten.

Von Willibald Mencke.

(Fortsetzung.)

Pugatschew.

In jenem Winter von 1878 auf 1879 hatte sich der Gemüter der Petersburger Studenten eine Bewegung bemächtigt, die der Regierung bald ernstliche Sorge machte. Man verglich die hergebrachte Norm, welche den Studenten der russischen Jugend -verzeichnet war, mit dem freien Dienste der Wissenschaft, wie er an den Universitäten des Auslandes üblich war. Man lehnte sich gegen ein System der Bevormundung auf, welches, wie es hieß, der Jugend einer großen Nation nicht würdig war, die wieder einmal in den Welthändeln eine große Rolle gespielt hatte, und diefreie Entfaltung des individuellen Geistes" war nach dem Ausdruck eines liberalen Blattes die Losung, unter der man in den Kampf gegen die Schablone und das System dermilitärischen Uniformierung" trat.

Anfangs im Spätherbst 1878 hielt sich diele Bewegung in streng ge­setzlichen Schranken. Man verteidigte die Wissenschaft mit den Waffen der Wissen­schaft, und man faßte endlich die Wünsche der Petersburg« Studierenden, deren Reformbestrebungen übrigens auch auf anderen Hochschulen, besonders in Moskau und Charkow, ein lebhaftes Echo fanden, in effie Adresse zusammen, die eine Depu­tation dem Großfürsten-Thronfolgcr überreichen sollte. Aber diese Adresse wurde nicht angenommen und von da an nahm die Propaganda der liberalen Reformideen den Charakter einer revolutionären Agitation an. Man beriet sich in geheimen Konventikeln, man streute aufrührerische Schriften unter die russische Jugend und bald bildeten sich geheime Verbindungen, die dm Grundsatz vertraten, daß eine

liberale Reform der russischen Universitäten nur durch eine Umwälzung des Staats­wesens zu erreichen sei.

Eine Maßregel, welche die Regierung zu treffen für gut fand, verschärfte den Unmut zur Erbitterung. In der Nacht vom 30. November auf den 1. Dezember wurden mehr als zweihundert Studenten aus ihren Wohnungen ausgehoben und in das Gefängnis geworfen; einige, die man der Regierung als Anführer der Be­wegung denunziert hatte, wurden ohne wettere gerichtliche Prozedur auf Befehl der dritten Abteilung, die damals noch existierte, NLch Sibirien geschickt. Diese Maßregel, statt die Flamme zu löschen, die drohend emporzüngelte, verbrettete nur das Feuer der revolutionären Leidenschaft, und nun erst bemächtigten sich die Nihilisten der Schule Bakunin's und Netschajew's dieser Bewegung, um sie ihren auf den Sturz alles Bestehenden gerichteten Bestrebungen dienstbar zu machen.

Die Saat, welche zur Ernte blusiger Thaten reisen sollte, die ganz Europa in Erstaunen versetzten und den heiligen Thron deS Zars erschütterten, in jenem Winter wurde sie gestreut. Vom Standpunkt« der Moral und des Gesetzes aus be­ttachtet, warm es fluchwürdige Unternehmungen, die man plante und zur Ausführ­ung brachte, aber die Verschwörer rechneten darauf, daß der endliche Sieg ihrer Ideen ihr blusiges Werk gleichsam heiligen werde; je nach dem Ausgang des Kampfes warm Diejenigen, die sich an die Spitze desselben stellten, Schurken oder Helden, Verbrecher oder Märtyrer. Diese Männer, denen man vorwarf, daß sie an nichts glaubten und daß ihnen nichts heilig sei, sie hatten doch ebenso gut ihren Fanatis­mus, wie die schwärmerischen Anhänger eines religiösen Glaubens oder eines politischen Prinzips. Sie gingen mit derselben unerschütterlichen Entschlossenheit, ja mit der­selben Freudigkeit in den Tod, wie einst die Märtyrer des Christentums oder di« Vorkämpfer der Reformation; aber während diese von einem zukünftigen Lebm, an das sie glaubten, den Lohn ihrer Thaten und ihres Leidens erwarteten, sahen diese kühn und furchtlos dem Nichts entgegen, das sie für das Ende aller Dinge hielten und nach dem man sie bmannt hatte.