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Nr. 234

Donnerstag den 9. Oktober 1919

93. Jahrgang

Die PslM der DMA MchMÄeMg.

Am Diensuig stellte sich in der Nationalver­sammlung das erweiterte Kabinett den Volksvertretern vor. Reichskanzler Bauer stielt eine große Rede über die Politik der neuen Reichsregierung. Er machte zunächst Mitteilung von der Erweiterung der Reichsregierung durch den Eintritt der Demokraten in das Kabinett und erklärte dann u. a.: So stellt sich Ihnen das Kabinett heute in seiner neuen Gestaltung vor, ein Kabinett, das die über­große Mehrheit dieses Hauses und damit unseres Volkes repräsentiert. Ob dieses Stärkeverhältnis immer noch der parteipolitischen Schichtung Deutschlands entspricht, sollen die Neuwahlen zum ersten Reichstag der Republik zeigen, die nicht vor dem Frühjahr angesetzt werden können. Die Regierung wird in dem von mir gezeichneten Rahmen mit dem frühesten Termin einverstanden sein. Das Programm des Kabinetts ist das gleiche geblieben. Eines darf ich freudig und dankbar seststellen: Es geht wieder ein Zug nach Arbeit, nach Konsolidierung durch das Volk, be­sonders durch die Arbeiter. Gewiß, es wird immer noch zu viel gestreikt in Deutschland, viel zu viel; doch die wllde, stets bereite, unbedenkliche Streiklust ist verraucht. Eine Regierung, der vorzusitzen ich die Ehre habe, wird nie an dem Streikrecht als wirtschaftlichem Kampfmittel zu rühren wagen. Aber die andere zerstörende Erbschaft des Krieges steht noch in voller Blüte: die Korruption. Eine moralische Erkrankung ohnegleichen, gilt es hier in allen Schichten zu bekämpfen, mit aller Erbarmungslosigkeit, ohne irgend ein Ansehen der Person. Auch die parlamen­tarische Tätigkeit dieses Winters wird in großem Umfang in der Feststellung der Rechte der wirtschaftlich Schwächeren, vor allem der Arbeiter bestehen. Rechte und Pflichten verlangt die Arbeiterschaft in dem Umfang, wie es ihrer Bedeutung für das Bolksaanze zukommt. Die Regierung ist fest entschlossen, diesen Rechtsanspruch zu erfüllen. Der Ausdruck dieses Entschlusses ist vor allem der Gesetzentwurf über die Betriebsräte. Der Entwurf eines Gesetzes über die Wirtschastsräte soll Ihnen sobald als möglich vorgelegt werden. Die Wahlen zu den Betriebsräten sollen möglichst schon zu Anfang des nächsten Jahres stattfinden können und die Wahlen zu den Wirtschaftsräten vielleicht schon einige Wochen später. Die Reichsregierung ist mit dem Zentralrat darin einig, daß das je eher, desto besser ge­schieht. Wir wünschen, mit dem Gesetz die Rechte der Ar­beiter mit den Pflichten gegenüber der Allgemeinheit in Einklang zu bringen. Es muß eine Schlichtungsordnung, deren Entwurf im Reichsministerium bereits oorliegt, Rechts­garantien für ordnungsmäßige Besetzung der Schlichtungs- ausschüsse und für ein geregeltes Verfahren festlegen. Das letzte Ziel dieser Entwicklung ist das obligatorische Schieds­gericht, das die Streiks auf das äußerste Maß und die schwersten Fälle beschränkt. Ein Gesetz über den Einstellungs­zwang der Kriegsbeschädigten soll gerade den Schwerbe­schädigten Arbeit und Auskommen sichern. Daneben geht das große Werk der Neuregelung der Militär­rentenversorgung. Ein dritter Weg, den Opfern des Krieges vor allem zu helfen, wird das ReichsHeim­stätte ngesetz sein, das Ihnen voraussichtlich in Bälde zugehen wird. Auf dem Gebiete des allgemeinen Arbei­terschutzes ist ein Arbeitszeitgesetz in Vorbereitung, das den Achtstundentag sicherstellen soll.

Die gewerkschaftlichen Grundsätze und nicht minder die finanziellen Mißverhältnisse des Reiches verlangen eine Um­gestaltung der vielfach mißbrauchten Arbeitslosenfürsorge. Den endgültigen Abbau der heutigen Zustände soll uns die Arbeitslosenversicherung bringen. Wenn uns nicht eine Steigerung der Arbeit, »or allem in den Eisen­dahnwerkstätten gelingt, dann können wir Kohle und In­dustrie nicht in einen fruchtbaren Zusammenhang bringen. Fast überall in der Welt außerhalb unseren Grenzen ist wieder eine Propaganda gegen uns im Werke, die uns den Friedenswillen abspricht und immer Iiuperialmus und Ver­tragsbruch in unseren Handlungen u. Einrichtungen wittert. Den meisten Mißdeutungen ist die militärische Institution der Republik ausgesetzt, die Reichswehr. Wir brauchen heute die Truppen noch zu zwei Zwecken. I) Um die innere staatliche Ordnung und Ruhe gegen Gewalt aufrecht zu erhalten, und 2.) gegen die Vorwegnahme von Ent­scheidungen die nach dem Friedensvertrage in freier und un­beeinflußter Volksabstimmung über das Schicksal deutscher Landesteile erzielt werden sollen. Bor dem Inkrafttreten des Friedensvertrages ist die Herabminderung des Heeres aus die vorgeschriedene Mindeststärke nicht' mög­

lich. So haben wir heute noch im Innern rund 200000 Mann und fast ebenso viel an den östlichen Grenzen stehen. Wie alle unsere Einrichtungen, so befindet sich auch die Reichswehr in einem Zustand der Umbildung, der Anpas­sung an die junge Republik. Wer seine Pflicht tut und seine Stellung nicht einseitig parteipolitisch mißbraucht, der ist in der Reichswehr der Republik willkommen. Ein Bolksheer, das ist unser Ziel. Und auf was stützt sich nun das Märchen von dem angeblichen deutschen Militarismus? Das Ausland kann sich nicht so schnell hineindenken in die Tatsache, daß die immer vorhanden gewesene pazifistische Gesinnung in Deutschland die Führung an sich gerissen hat. Aber das Schlimmere ist, daß von Deutschland selbst, von rechts und von links, das Bild der Republik gefälscht wird, daß von den Deutsch-Nationalen neuerlich der Ein­druck des Erstarkens des Nationalismus angestrebt wird, während die Unabhängigen sich nicht genug m» können in Ver­dächtigungen der Regierung. Ich erkläre aber mit aller Deutlichkeit und mit allem Nachdruck, es i st unser B e- st reden den Friedensvertrag mit Kräften und in allen Teilen zu halten und zu erfüllen. In ganz be­sonderem Maße gilt das aber von den militärischen Be­dingungen des Vertrages. Zwei Monate nach der Rati­fizierung soll das deutsche Heer nur noch 200 000 betragen, also wird es nur 200 000 Mann betragen und nicht einen Mann mehr. Hinaus wollen wir aus dem Baltikum mit allen Mitteln. Der Aufruf der Regierung an die Truppen im Baltikum hat, so denke ich, eine deutliche Sprache ge­sprochen. Ich bin überzeugt, unsere Maßnahmen werden zu einem Erfolge führen, um so schneller, wenn die En­tente unseren Vorschlag annimmt, eine Kommission mit uns zu bilden, deren Ausgabe es wäre, nach Prüfung der Sach­lage die Maßnahmen zu treffen, zu überwachen und durch­zusetzen.

Drei Tage vor Eintreffen des Ultimatums harte die Reichsregierung bereits die entscheidenden Maßnahmen ge­troffen und sie der Entente mitgeteilt i dennoch kam das Ultimatum mit der fürchterlichen Drohung. Die Reichsre­gierung hat die schärfste Verwahrung dagegen eingelegt, daß aufs neue solche unmenschlichen Maßnahmen gegen die Zivilbevölkerung angewandt werden sollen. Bon dieser Stelle aus nehme ich diesen Protest noch einmal auf um den einfache!'. Tatbestand festzustellen. Weil außerhalb des Machtbereiches der Republik, die mit allen Mitteln militärisch ohnmächtig gemacht wurde, Söldner ihren egoisti­schen Plänen nachgegangen sind, soll aufs neue der deut­schen Frau und dem deutschen Kinde das bißchen Fett und Milch abgedrosselt werden, das unser Vaterland außerhalb der Grenzen kaufen kann. So haben wir uns die Aera des Völkerbundes nicht gedacht! Der von dem ganzen Volke so lange ersehnte Rücktransport unser erKriegs- gefangenen hat endlich begonnen. Außerordentlich schmerzlich ist es uns, daß er erst so geringe Fortschritte gemacht hat, daß, zahlreiche Volksgenossen von uns gerissen und daß andere verhindert werden, uns anzugehören. Auch das muß ertragen werden; denn wir wollen den Friedens­oertrag loyal durchführen. Was uns aber kein Friedens­vertrag nehmen kann ist das Gefühl der nationalen Zu­sammengehörigkeit und unsere deutschen Stammesgenoffen, die künftig von uns getrennt sind und bleiben, sollen wissen, daß wir auf den Gebieten, die uns der Friedensvertrag übrig läßt, für sie sorgen.

Ich muß zum Schluß aus den Anteil zurückkommen, den die Deutsch-Nationalen an der Weltvergiftung haben, die uns aus jedem Tritt hemmt und schädigt. Im Aus­lande hat man sich jahrzehntelang daran gewöhnt, in den Aeußerungen der Rechten die für die Reichspolitik maßge­bende Stimme zu hören. Das macht ihre Aeußerungen, so bedeutungslos sie für den Kurs der Republik auch sind, so überaus gefährlich. Ich frage die Herren von der Rech­ten: Können und wollen Sie die Verantwortung für den gefährlichen Wahnsinn übernehmen? Ist es überhaupt noch Politik oder Irrenhaus? Eine angebliche Vaterlandsliebe, die sich so äußert, die dem Gegner s,lche Waffen in die Hand drückt, die darf man nicht frei herum laufen lassen! Wir dulden nicht, daß anonyme Schmierfinken das deutsche Volk in neue Fährlichkeiten bringen, und seinen Leumund vor der ganzen Welt aufs neue untergraben! Wer sich zu diesen Artikelschreibern und vor sie stellt, der ist für uns ein Feind des deutschen Volkes! Ich möchte sehen, wer sich ausschließt von der ungeheuren Mehrheit der Deutschen, wenn die Reichsregierung getreu ihrem außenpolitischen Programm den Ruf ergehen läßt für den freien Aufbau, für die Völkerverständigung gegen die gewissenlosen Brun-! nenvergifter des Chauvinismus.

TageS-Nemgkeiten.

Keine Räumungslust der Baltentruppeu.

Königsberg i. Pr, 7. Okt. Nach einer telegraphischen Meldung aus Miau ooni 6. 10. >9 ist dort von Major Bischofs an die Soldaten der Eisernen Division ein Aufruf ergangen, in dem es heißt:Wir wollen das von uns und nur von uns eroberte Land unter russische Flagge stellen. Wir wollen den Russen helfen, ihre Heimat von der Geisel der Menschheit zu befreien. Ihr wißt, daß ich deutsch bin und deutsch bleibe bis zum letzten Blutstropfen. So wer­det Ihr mir glauben, daß Ihr mir auch auf diesem Wege unbedenklich folgen könnt, daß ich auch hier für Deutschland arbeiten will, indem ich unseren Freunden helfe. An der Sette des Korps Graf Keller wollen wir unser Recht ver­teidigen und wenn es sein muß, noch einmal kämpfen. Wird die Entente uns auch noch daran hindern, so zeigt das nur zu deutlich ihre wahre Gesinnung. Ihre Drohung gegen uns ist mir ein Vorwand, um das deutsche Volk zu treffen. Darum bleibt fest, Soldaten der Eisernen Division! Wenn der Engländer Letten und Esthen ans uns hetzt, dann wollen wir zeigen, daß wir unseren Namen mtt Recht tragen." Hierzu wird von zuständiger Stelle bemerkt: Auch aus dieser Kundgebung spricht die völlige Verkennung der Lage und der Kräfteverhältnisse wie ans dem Ausruf der baltischen Führer. Besonders groß tritt aus den Aus­führungen hervor, wie stark sich ein Banden führerwesen auf eigene Faust ausgebildet hat, welches das direkteste Gegen­teil soldatischer Disziplin ist. Daß der Major Bischofs die Ententenote leichtsinnig als leere Drohung bezeichnet, ohne aus dem letzten Jahre gelernt zu haben, wie lebens­gefährlich für das deutsche Volk solche Drohungen sind, zeigt die erschreckende Urteilslosigkeit dieser kleinen Söldner­führer, die. in die.Politik eines großen Volkes hineinpfu- schen. Daß eine rechtsstehende Zeitung eine dieser Kund­gebungen der Auflehnung mit der Ueberschrift versiehtDie Baltenkämpfer halten Stand'' mutz als Bestärkung der irregeleiteten Truppen aufs schärfste verurteilt werden.

Versailles, 8. Okt. Wie derTemps" mitteilt, hat der Fünferrat die deutsche Note betreffend sofortige Räu­mung der baltischen Provinzen für ungenügend befunden. Sic stehe in Widerspruch mit den Nachrichten, die er aus Kurland und Litauen erhielt. Marschall Foch wurde be­auftragt, eine Antwort auf die deutsche Note vorzubereiten. Die in der ersten Note im Falle der Nichtausführung vor­gesehenen Maßnahmen sollen aufrecht erhalten und effektiv werden, namentlich was die Einstellung der Nahrungs- und Nohstoffzufuhr betrifft. In der heutigen Sitzung soll auch in betreff der Ueberwachungskommission, die vie deutsche Regierung »orgeschlagen hat, entschieden werden.

Berlin, 8. Oktober. Zur beschleunigten Räumung des Baltikums erfährt dieDeutsche Allgemeine Zeitung", daß General v. d. Goltz auf die Truppen durchaus im Sinne der Befolgung' der Befehle des Reichswehrmmisters wirkte. Der besonnene Teil der Truppen und gerade diejenigen Formationen, die sich am tüchtigsten bewährten, seien zur Heimkehr geneigt. (Abwarten!)

Englands Schaden durch den Streik.

Amsterdam, 8. Okt. DerTelegraaf" meldet aus London, der frühere Arbeitsminister Clynes, der Mitglied der ersten Arbeiterabordnung wer, die im Eisenbahnerstreik zu vermitteln versuchte, habe erklärt, daß die Eisenbahner durch ihren Streik viel Sympathie verloren hätten, was wahrscheinlich bei der Ersatzwahl in Nußholme (?) zum Ausdruck gebracht werde. Man schätze den Verlust, des England durch den Streik erlitten habe, auf 54 Millionen Pfund Sterling.

Frankreich nnd das neue tiirkische Kabinett.

Versailles, 8. Okt. Die Pariser Morgenpresse nennt das neue türkische Kabinett nationalistisch. Es lasse eine auffallende Konzession an die chauvinistische und revolutio­näre Meinung erkennen, sagt dasEcho de Paris". Der Sultan habe offenbar sein Prestige nnd seine Autorität bei den nationalistischen Elementen, die einen Aufstand in Ana­tolien vorbereiteten, wiederherstellen wollen. Die Entente werde nunmehr einen merkbaren Widerstand in der Türkei finden. Der Großwefir und der Außenminister seien ehe­malige Mitarbeiter von Tewfik Pascha, der Mann der Engländer. Auch derMatin" nennt den Kriegsminister Kemal Pascha, Kemal den Kleinen, die Hauptpersönlichkett des neuen Kabinetts. Das neue Ministerium werde den Grundsatz der territorialen Integrität der Türkei vertreten. Auch derGaulois" hält den Regierungswechsel in der Tüickei als einen Beweis dafür, daß Frankreich in der Türkei eine falsche Politik getrieben habe.