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herigen Mitglieder, neu tritt hinzu Hr. Chr. Gengen- bach. Der bisherige Kassier hatte eine Wiederwahl dringend abgelehnt. Nachdem noch einige weitere Vereinsangelegenheiten besprochen und die Sänger mehrere Lieder vorgetragen hatten, schloß der Vor­sitzende die in schönster Harmonie verlaufene und all­gemein befriedigende Generalversammlung.

Z Calw, 25. April. Die auf gestern Nach­mittag ausgeschriebene Versammlung, in welcher Hr. Agster aus Stuttgart überDie Bestrebungen der Sozialdemokratie" sprach, war sehr gut besucht. Der Referent kam nach der Einleitung zunächst darauf zu sprechen, aus welchen Gründen die Sozialdemokratie eine Verstärkung aus so vielen Ständen erfahren habe. Wie in der Industrie der Kleingewerbetreibende von den großen Etablissements in seinem Erwerb be­einträchtigt werde, woran das Kapital die Schuld trage, so gehe es in der Landwirtschaft; da werde der Besitz unter mehrere Kinder verteilt, wodurch deren Auskommen allein schon erschwert sei und zu­dem produziere der Großbauer billiger. In kleineren Städten werde es mit Freuden begrüßt, wenn sich ein neues Etablissement gründe, wodurch die ländliche Bevölkerung Brot finde; die Bebauung des Bodens nehme ab, weil unlohnend. Durch dieses Zuströmen dieser ländlichen Arbeiter, welche billiger arbeiten als die städtischen, seien die letzteren, welche nur auf ihrer Hände Arbeit angewiesen seien, beeinträchtigt. Auch das Beamten-Proletariat, die Subalternbeamten liefern Anhänger der Sozialdemokratie. Diese seien bei außerordentlichen Ansprüchen an ihre Leistung oft schlechter bezahlt als ein einfacher gewöhnlicher Arbeiter. Ihnen verdanke die Sozialdemokratie viele Stimmen bei der letzten Wahl in den Reichstag. Der Besitz vermöge alles an sich zu reißen, teilen will aber Agster nicht; davon seien die Sozialisten abgekommen und nun kam Redner auf Produktiv­genossenschaften mit Staatshilfe zu sprechen. Die Geldmacht könne ihren Besitz immer vergrößern und da fließe immer noch mehr hin. Dieser Zustand müsse geändert werden, indem die Gesamtheit an dem Profit" teil habe. Der Arbeiter erhalte aber nur so viel um leben zu können. Der Arbeiter müsse ge­rechtere Verteilung des Arbeitsertrags verlangen, da er selbst es trotz Sparsamkeit zu nichts mehr bringe, weil er auch nicht mehr selbständig zu werden ver­möge. Das Proletariat stehe den Arbeitern auf wirtschaftlichem Weg feindselig gegenüber und müssen sich die Arbeiter selbst helfen, jedoch nicht mit Ge­walt; sie wollen die Religion als Privatsache betrachtet wissen, aber nicht abschaffen. Es sei ein Massen­austritt aus der Kirche geplant gewesen, jedoch seien sie hievon wieder abgekommen. Ueber Nacht sei die Ueberführung in den sozialistischen Zukunftsstaat nicht zuwege zu bringen. Mit Gewaltakten wäre die Partei bald niedergeschmettert, so dumm seien die Sozialdemokraten nicht. Redner schließt mit den Worten: Die Sozialdemokratie wird siegen, die Sozial­demokratie muß siegen. Da freie Diskussion für Jedermann angezeigt war, fanden diese Ausführungen sofortige Entgegnung durch Hrn. Schrempf, Re­

dakteur der Reichspost. Die Annahme des Hrn. Agster, daß man sich vielfach einen Sozialisten in einer Tasche eine Dynamitpatrone, in der andern die Petroleumflasche vorzustellen gewöhnt habe, seie eine irrige, man wäre in diesem Falle doch nicht in die Versammlung gekommen, wenn man sich einer Gefahr aussetzen würde. Es freue ihn die Versicherung des Hrn. Agster, daß die Lösung der soz. Frage stur auf friedlichem Wege erreicht werden solle, er erinnere jedoch an das Zusammenkommen unserer Sozialisten mit den Parisern, an die Gräuelthaten der Kommüne. Er erinnere an das Sprichwort: Sage mir, mit wem du umgehst, und ich will dir sagen, wer du> bist. Daß es nach den Ansichten der Sozialisten möglich sei, den Besitzenden ihr Eigentum zu expropriiren, um ein gesamtes Staatseigentum herzustellen, das glaube er nicht; wer von den Anwesenden lasse, selbst seinen geringen Besitz, willig Staatseigentum werden. Agster sage, das Kapital fresse die kleinen Leute aus. Hier­auf entgegne er, daß man dies vom Hause Fugger und auch z. B. von der Calwer Handelskompagnie, dem Zehnbund, nicht sagen könne. Fugger habe, so sage man, 70 Schiffe zur See gehabt, die Nachkommen seien wohl auch noch reiche Leute, aber daß das Haus die kleinen Leute aufgefressen hätten, davon wüßte er nichts. Reiche Leute sollten wir noch mehr haben. Ein reicher Mann sei wie ein großer Baum zu betrachten, der seinen Schatten weit ausbreite. Unsre Zustände seien schlechter geworden, behaupte Agster, er (Redner) sei gegenteiliger Ansicht, man frage einmal einen älteren Arbeiter, ob dieselben gegen früher nicht besser geworden seien. Die Löhne richten sich nach Angebot und Nachfrage; im soz. Zukunftsstaat werden wohl mehr Kinder geboren als jetzt und das führe z. B. auch zur Erhöhung des Angebots. Die Spartheorie betreffend, so sei er über­zeugt, daß es älteren Arbeitern oft schwer werde, etwas auf die Seite zu legen, aber die jüngeren ledigen, deren Auslagen geringere seien, dächten eben gar nicht ans Sparen. Durch die Wahlen glaube die Sozialdemokratie ihre Interessen zu fördern, aber schon oft sei ein politischer Agitator wie ein brüllender Löwe in den Reichstag gekommen und dort wie ein Lamm geworden. Solche Fälle erlebe man auch in einem Gemeinwesen, da heiße es am Biertische, den wählen wir in den Bürgerausschuß und später in den Ge­meinderat, aber es sei merkwürdig, wenn der Mann am grünen Tische sitze, sei er auf einmal gar nicht mehr so gescheidt wie früher. Da heiße es eben mitsorgen. Es würde zu weit führen, wollten wir hier alle zwischen Agster und Schrempf gewechselten Entgegnungen, welche übrigens und namentlich von letzterem in jovialster, zum Teil humoristischer Weise gegeben wurden, wieder­geben. Hr. Schrempf hatte lobend erwähnt, daß in sozialdemokratischen Versammlungen stets auf freie Meinungsäußerung gehalten werde, er besuche diese Versammlungen gerner als die der demokratischen oder Volkspartei, da in einer solchen einmal der Holz­komment eingeführt worden sei und er besorgt sein mußte, mit heiler Haut davon zu kommen. Diese Aeußerung konnte von den vielen anwesenden, der Volkspartei

angehörenden, nicht unerwidert bleiben. Hr. Fehl-- eisen forderte denn auch Hrn. Schrempf auf, ihm mit­zuteilen, wo ihm in dieser Weise begegnet wurde. Wenn man in einem Glashause sitze, so soll man nicht mit Steinen um sich werfen. Er erinnere an ein unliebsames Vorkommnis in Stuttgart mit der deutschen Partei, er verlange sofortige Rechtfertigung. Hr. Schrempf entgegnete, daß er von der konservativen Partei gesprochen habe, zu welcher er gehöre und nicht von. der deutschen Partei; dieser Fall sei thatsächlich ihm in Lausten passiert und so unüberlegt passiere ihnr keine Aeußerung, daß er keine Beweise zu seiner Rechtfertigung zu bringen vermöchte. Hr. Feh leisen bedauerte seinen Angriff und nahm seine Worte zurück. Außer den genannten Herrn sprach noch ein Herr Claassen, hier wohnhaft, etwa folgendes: Die Sozialdemokratie wolle die ganze Welt reformieren und verspricht große Dinge. Demgegenüber sei hinzuweisen auf drei geschichtliche Naturgesetze der Menschheit, die man nicht ungestraft außer Acht lassen könne. Das erste lautet: Wer Großes ausrichten will, muß klein anfangen; das zweite: wer bei andern etwas ausrichten will, muß bei sich selbst anfangen; das dritte: Wer das Aeußere bessern will, muß zu­erst das Innere bessern, mit dem Zentrum anfangen, nicht umgekehrt! Ja, man muß die Leute unzu­frieden machen, aber womit? Mit diesen äußeren Umständen ist jedermann schon unzufrieden genug. Aber mit sich selbst unzufrieden werden das ist der Weg zum Frieden. Man muß sich selbst und die Menschen kennen, sonst kann man nichts bessern. Wir haben nicht nur einen äußeren, sondern auch einen inneren Menschen, und der lebt nicht vom Brot allein. Es gibt Geister zur Rechten und zur Linken. Da gilt es sich hüten vor dem bösen und sich zuwenden dem guten Geist. Den Prüfstein dazu hat jeder in seinem Gewissen." Durch die Bemerkung des Herrn Schrempf, die Enteignung des Besitzes durch den Staat, indem die Eigentümer entschädigt werden, schaffe doch ebenfalls wieder reiche Leute, sah sich Hr. Agster genötigt, in der Sache etwas ausführlicher zu sein. Was man aber hier zu hören bekam, war die lakonische Bemerkung, daß das Aequivalent nicht in Münze, sondern in Genuß­mitteln bestehen müßte!? Hierüber sei sich die Sozialdemokratie nicht klar. Es ist bedauerlich, daß Hr. Agster sich hierüber noch kein klares Bild geschaffen hat, es wäre doch besser ge­wesen, er hätte seine hiesigen Anhänger, den neuge­gründeten Arbeiterverein, nicht im Nebel darüber gelassen. Vielleicht kennen dieselben übrigens die stillen Hoffnungen ihrer Führer genau.

Bei der Ziehung der Stuttgarter Pferde­marktlotterie fielen die 25 Hauptgewinne auf folgende Nummern: 1. Gewinn auf Nr. 34421, 2. Gew. 21221, 3. Gew. 43193, 4. Gew. 13476, 5. Gew. 27989, 6. Gew. 45053, 7. Gew. 6355, 8. Gew. 50 133, 9. Gew. 29462, 10. Gew. 54979, 11. Gew. 21687, 12. Gew. 2007, 13. Gew. 49996, 14.Gew.51076, 15.Gew.13158,16.Gew.59365, 17. Gew. 57645,18. Gew. 14672, 19. Gew. 8118, 20. Gew. 53986, 21. Gew. 40467, 22. Gew.

und freiere Institutionen zu verleihen. Diese Ideen fallen in Ihrem Geiste auf fruchtbaren Boden, und von einem jungen Mädchen gewonnen, mit dem Sie eine innige Freundschaft verbindet, treten Sie als Mitglied in diesen geheimen Bund ein. Sie werden bald auf einen wichtigen Posten gestellt und Sie dienen der Sache der Verschwörer mit einer Hingebung, die einer besseren Sache würdig märe. Und doch Paul Zwetajeff, frage ich, was hatten Sie, ein so kluger und praktischer Kopf, bei diesen unklaren Phantasten zu suchen, die sich in der Rolle der Verschwörer gefallen? Glauben Sie mir, für das Gesunde in ihren Ideen ist das russische Volk noch nicht reif, das erst durch die Bildung zur Freiheit geführt werden muß und unmöglich den umgekehrten Weg machen kann, ohne daß wir ins Chaos geraten; das Phan­tastische aber in ihren Bestrebungen und das Abenteuerliche in ihren Umtrieben kann Ihrem klaren Blicke doch unmöglich verborgen bleiben. Und wenn Sie den Ehrgeiz haben, eine Rolle in dieser Gesellschaft zu spielen, zu deren stolzen Palästen Sie so lange mit Neid im Herzen ewporgesehen haben, gut, so spielen Sie die Rolle die Ihnen dieses Dekret zumeist. Dienen Sie uns als ein brauchbares und wert­volles Werkzeug gegen diese verbrecherische Agitation, beteckigen Sie sich an der Arbeit einer Aera nützlicher und heilsamer Reformen, die nicht lange auf sich warten lasten wird, und gründen Sie sich an der Seite einer Frau, die Sie lieben, eine bürgerliche Existenz, die Ihnen mehr behagen wird, als das abenteuerliche Leben eines Konspirators. Und da kommt Anna Sergejewna!"

Anna Sergejewna," sagte ich, indem ich mich erhob und eine feierliche Miene annahm,Paul Zwetajeff läßt Sie durch mich um Ihre Hand bitten. Willigen Sie ein?"

Wir sind schon einig," erwiederte sie und mit einem bezaubernden Lächeln, das dem jungen Manne wieder das Blut in die bleichen Wangen trieb, reichte sie ihm die Hand.

Alles, was ich bisher erzählt habe, ist am Ende nur der Prolog zu dem Drama, das sich im Winter 1878 auf 1879 in Petersburg abspielte und in dessen verworrenes Fadengewirre erst die Bekenntnisse meines ehemaligen Sekretärs, die ich noch in derselben Nacht bei einem Glase Grog in meiner Wohnung von ihm empfing, einen klaren Einblick eröffncten. Wenn ich cs unternahm, dieses dramatische Gemälde aus dem sozialen Leben der Newastadt, das so interessante Streiflichter auf die nihilistische Bewegung fallen läßt, vor den Augen des Lesers zu entrollen, so muß ich auch meiner Phantasie einen gewissen Spielraum lassen, aber was in dieser Hinsicht als Zuthat meiner Erfindungsgabe erscheinen mag, ist in Wahrheit nur eine Ergänzung der Lücken, die das Geständnis meines Sekretärs und das Tagebuch der unglücklichen Vera noch übrig gelaffen haben. Auf die Ausschmückung meiner Erzählung mit den bekannten, ihre Wirkung niemals verfehlenden Mitteln des professionellen Romanschreibers verzichte ich. Ich bin kein Novellist, der mit den Erzeugnissen seiner Phantasie den Leser über eine Stunde der Langeweile hinweg­täuscht. Ich bin ein Beamter, der in einer langjährigen und bewegten Thätigkeit der bestehenden Ordnung der Dinge gedient hat, ohne viel über die Berechtigung derselben nachzudenken, und der, nachdem das Schifflein seines Lebens in den er­sehnten Hafen des Ruhestandes eingelaufen ist, das Bedürfnis fühlt, das Denk­würdigste aus seiner Vergangenheit auszuzeichnen; und andererseits ist die Geschichte, die ich zu erzählm habe, schon durch ihren Inhalt viel zu interessant, als daß sie der romanhaften Ausschmückung bedürftig wäre, um der Teilnahme des Lesers sicher zu sein.

Ich bemerke noch, daß ich in meinen Mitteilungen einige Monate zurückgreifen! muß, um das Geheimnis deS Mordes von Jelagin vollständig zu enträtseln.

(Fortsetzung folgt).