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Tages Neuigkeiten.
* Calw, 13. Febr. Gestern abend hat sich im Hörsaale des Georgenäums eine ungemein zahlreiche Zuhörerschaft einaefunden, um mit gespanntester Aufmerksamkeit dem Vortrag des Kapitäns Bade über seine Nordpolfahrt zu lauschen. Der Redner hat es verstanden, in anschaulichen, packenden und lebenstreuen Schilderungen ein klares Bild zu geben von dem Untergang der „Hansa" und seiner darauf folgenden 237tägigen Eisschollenfahrt. Die Expedition fand in den Jahren 1870/71 statt. Zweck derselben war die Erforschung des unbekannten Polargebiets; zunächst sollte der Nordpol erreicht werden, dabei aber die Expedition auch wissenschaftlichen Zwecken dienen. Von den 3 ausgerüsteten Schiffen hatte nur die Germania eine glückliche Fahrt; die „Hansa" auf der Bade als 2. Offizier angestellt war, hatte ein trauriges Schicksal; sie fand ihren Untergang auf den Eisschollen, 1000 Seemeilen vom Lande entfernt. Die Fahrt ging Mitte Juni von Bremen aus und bald gelangte die Hansa in die Eisgeaend, 75° nördlicher Breite. Der Versuch, die Ostlüste Grönlands zu erreichen, scheiterte 2 mal; Ende August näherte sich das Schiff zwar der Küste Grönlands, wurde aber auf das Eis verschlagen und lag nun auf einer Eisscholle, die 7 Seemeilen im Umfang und 100 Fuß dick war. Die Expedition sah sich deshalb gezwungen hier zu überwintern; als Obdach auf dem großen Eisfelde wurde eine Wohnung von Steinkohlen und Briquettes gebaut; dieselbe war nur 20" lang, 14" breit, 5" hoch und sollte Raum für 40 Personen gewähren. In dieses Haus wurde Proviant §mf 2 Monate, ebenso der übrige Proviant auf das Verdeck des Schiffes geschafft. Am 19. Okt. sollte das Winterquartier bezogen werden. Das Schiff krachte aber in allen Fugen, Eismassen drängten sich heran, welche dasselbe zu ruinieren drohten; plötzlich wurde es gegen eine Scholle gedrängt und in wenigen Augenblicken zusammengedrückt; durch eine 2. Pressung des Eises wurde es 20" in die Höhe gehoben; sofort wurden die Maste abgehauen, damit Brennmaterial gewonnen würde und der Proviantaeborgen, in kurzer Zeit sank das Schiff auf den Meeresgrund 4000" tief. In trostlosester Lage befand sich nun die Mannschaft auf der Eisscholle, angesichts des arktischen Winters, ohne Aussicht auf Rettung, viele 100 Meilen vom Lande entfernt, in tiefster Verzweiflung bei dem Gedanken, daß eine Rückkehr vor '/-> Jahr unmöglich erfolgen könne, die Lage war deshalb entsetzlich. Aber mit Mut und Entschlossenheit ging die Mannschaft an die Einrichtung des Hauses; der Proviant wurde in das Wohnhaus gebracht, rings herum Schneehäuser für Holzvorräte angelegt, Hallen um das Haus herumgeführt und am Eingang ein Löwe aufgestellt, der die Eisbären von den Vorräten abhalten sollte. Die Zeiteinteilung geschah nach dem Glockenschlag ; täglich wurden große Märsche ausgeführt, das Ziel waren die hohen Eisberge, denen Namen wie Sinai, Brandenburger Thor, die beiden Zwillinge und der Teufelsdaumen beigelegt wurden. Die Scenerie der Landschaft glich einem Hügelland; es wechselten Ebenen und Hügel ab; die Eisberge waren 1000—2000" hoch. Die Märsche wurden bei gutem Wetter ausgeführt, bei schlechtem dagegen wurde geturnt und Freiübungen in den Gängen gemacht, bei noch schlechterem Wetter
aber, bei Schneesturm mußte man sich ins Haus zurückziehen, was bei dem kleinen Raum eine wahre Qual war. Der Schnee kommt dort nicht in Gestalt von Flocken, sondern von Staub und Mehl und durchdringt jedes Gewebe, Stiefel, Taschen, Uhren u. s. w. Zu dieser ernsten, traurigen Lage kam noch die Einwirkung der langen Polarnacht, die Sonne vergaß wieder aufzugehen, sodaß ewige Nacht herrschte. Dieser Mangel an Sonnenlicht übt auf Körper und Geist einen ungemein deprimierenden Eindruck aus, der Geist wird umnachtet, die Sinne nehmen keinen Eindruck in sich auf, das Ohr hört nichts als das Brausen und Toben des Eises, Melancholie und Schwermut befällt das Gemüt, alle Scherze hören auf. Die Zeit verging langsam, nur das Weihnachtsfest brachte etwas Leben in das Haus. Mit ergreifenden Worten schilderte Redner nun die Vorbereitungen und das Weihnachtsfest selbst. Das Haus wurde immer mehr vom Schnee begraben; die Verbindung mit der Oberwelt wurde durch eine Schneetreppe von 24 Stufen bewerkstelligt; nach Weihnachten, mit Beginn des neuen Jahres brach aber eine furchtbare Zeit für die Expedition an. Waren die 3 ersten Monate verhältnismäßig ordentlich, so unsäglich gefahrvoll und aller menschlichen Beschreibung spottend waren dagegen die übrigen 6 Monate. Es ist nur als ein Wunder Gottes anzusehen, daß die Leute nicht alle zu Grunde gingen. Am 3. Januar entstand ein Entsetzen erregender Orkan; zu dem Tosen des Sturmes kam noch ein donnerähnliches Getöse, das das Blut erstarren machte, die Eisscholle war in Zertrümmerung, die Eisberge in Bewegung gekommen. Nur der größten Wachsamkeit konnte es /gelingen einem plötzlich eintretenden Unglücksfall zu begegnen; die Boote „Hoffnung", „König Wilhelm" und „Bismarck" wurden in Bereitschaft gesetzt. Am 11. Januar war der Zustand geradezu entsetzlich, ein grausiger Anblick bot sich der Mannschaft, der Schnee wurde lawinenartig fortgeführt; der Sturm war so gewaltig, daß er den einzelnen Mann fortzuwehen drohte, es war ein Zustand zum Wahnsinnigwerden. Aber das Maß der Leiden war noch lange' nicht voll, eine haarsträubende Katastrophe trat am 15. Januar ein. Wie der Blitz aus heiterem Himmel erhob sich ein donnerartiges Getöse, der Eisschollen war entzwei geborsten, quer durch das Haus hindurch. Wie durch ein Wunder wurden alle Leute gerettet. Da die Mannschaft sich nun oben auf dem Eisfelde aufhalten mußte, so fror es sie entsetzlich; die Kälte war so stark, daß der Kaffee unten im Kessel kochte und oben gefror. Nur mit Aufbietung aller Kräfte konnten sich die Leute warm halten; nun trat auch noch Mangel an Nahrung ein, das das Allerschlimmste befürchten lassen mußte. Hier mußte der Redner in seiner Schilderung leider abbrechen, da der Vortrag schon zwei Stunden gedauert hatte; er berührte aber noch kurz die Rettung, die Landung an der grönländischen Küste, den Aufenthalt bei den Eskimos, die Rückkehr nach dem sehnlichst gewünschten Vaterland und die freudige Aufnahme in Deutschland. Sämtliche Mitglieder der Nordpolexpedition kehrten lebend in die Heimat zurück. Dem liebenswürdigen Redner, der je nach Umständen einen 2. Vortrag in Aussicht stellte, wurde zum Schluß rauschender Beifall zu Teil. Der Vortrag war von 284 Personen besucht.
Calw. Dem Vernehmen nach liegen gegen Abhaltung des Viehmarktes in Calw, am nächsten Mittwoch, keine Hindernisse vor. Eine bestimmte Mitteilung wird im Dienstagblatt erfolgen können.
Calw. (Eingesendet). In nächster Woche werden, voraussichtlich am Dienstag, die Schüler der oberen Klassen des Reallyceums im Saale des Badischen Hofes Szenen aus Göz von Ber- lichingen von Goethe zur Aufführung bringen. Dieselben sind so ausgewählt und in 4 Akte gebracht, daß der Zusammenhang des Ganzen gewahrt bleibt. Der rege Eifer der Mitwirkenden verspricht das Gelingen des Unternehmens und es darf wohl die Hoffnung und Bitte ausgesprochen werden, daß auch die werte Einwohnerschaft Calws diesem Schülerversuche ein warmes Interesse entgegenbringen und mit reger Teilnahme, aber auch mit billiger Nachsicht, sich von den Leistungen der strebsamen Jugend unserer höheren Lehranstalt überzeugen möge. Da die Kosten der Aufführung nicht unbeträchtlich find, so erlaubt man sich auch aus diesem Grunde um ein zahlreiches Er- fcheinen zu bitten. Etwaige Ueberschüffe würden zu mildthätigen Zwecken verwendet werden. Näheres im nächsten Blatt.
Calw, 11. Febr. In dem gestern zu Grabe getragenen Bankier G. Dörtenbach in Stuttgart betrauert die Stadt Calw einen ihrer hervorragendsten Mitbürger. Hier geboren und aufgewachsen, bewahrte der Verstorbene eine große Anhänglichkeit an seine Vaterstadt, in der er öfters seine Sommerfrische verlebte, wo ihm auch wegen seines milden, freundlichen Karakters, seiner edlen Gesinnung und seiner großen Wohlthätigkeit stets große Liebe und Achtung entgegengebracht wurde. Ein bleibendes Denkmal hat er sich durch Stiftung eines prachtvollen gemalten, auf verfl. Weihnachten in unsere Stadtkirche eingesetzten Chorfensters (Geburt Christi und Kindersegnung) gesetzt. In unserer Stadt wird dem edlen Manne stets ein vankbares Andenken bewahrt bleiben. Schw. M.
Ulm, 10. Febr. Ein frecher Einbruchdiebstahl wurde gestern nacht 10 Uhr im Hause des Schlossermeisters D. ausgeführt. Der Dieb überstieg nach dem „Ulmer Tagblatt"" eine Winkelthüre, drang durch die Hofthüre in die Werkstatt, wo er sich ein Brecheisen holte; mit diesem hob er die Zimmerthüre aus und öffnete mit Sperrzeug den Sekretär, wo er sich 70 herausnahm. Der Hausbesitzer war mit feiner Frau während dieser Zeit in der Armbrust» fchützengesellschaft.
Standesamt Kalw.
Geborene:
6. Febr. Elsa, Tochter des Otto Stikel, Kaufmanns.
7. „ Helene Klara, Tochter des Gottlieb Kär» cher, Briefträgers.
Gestorbene:
Johann Daniel Rau, gew. Müller, 77'/r Jahre alt.
Gottesdienst
am Sonntag, den 15. Februar.
Vom Turm: 290.
Vorm.-Predigt: Herr Dekan Braun. Feier des h. Abendmahls. (Vor dem Vormittagsgottesdienst, um 9'/4 Uhr, Beichte in der Sakristei.)
5 Uhr Abeudpredigt: Herr Helfer Eytel. Das Opfer ist für die Heizung der Kirche bestimmt.
11. Febr.
Nachdem Taubert dem Herrn für seine Auskunft gedankt, und dessen besorgte Frage, ob mit Herrn Matthias nicht Alles in Ordnung sei, in befriedigendster Weise beantwortet hatte, begab er sich in ein Restaurant und schrieb hier einen langen Brief an die Firma Cone, Bravlau und Co. in San Franzisko, Kalifornien.
„So, mein lieber Matthias", murmelte er vergnügt vor sich hin, während er den Brief zum nächsten Postschalter trug und dort einschreiben ließ, „jetzt wollen wir sehen, ob Du für mich noch länger ein Buch mü sieben Siegeln bleibst. Es ist zwar nicht gerade der nächste Weg, Nachrichten über meinen Zimmernachbar aus Kalifornien zu beziehen, aber allem Anschein nach der sicherste."
Taubert mußte sich ziemlich lange Zeit gedulden, bevor er die ersehnte Antwort erhielt, dafür war dieselbe auch sehr ausführlich und brachte ganz unerwartete Aufschlüsse.
Herr I. Cone schrieb Folgendes:
„10. Oktober 1 . .
Sehr geehrter Herr!
In Beantwortung Ihres werten Brieses vom 5. dieses Monats teile ich Ihnen mit, daß Herr P. Matthias lange Jahre hindurch General-Agent unserer Firma war und wir seine geschätzte Arbeitskraft nur verloren, weil das kalifornische Klima sich für ihn als zu ungesund erwies. Herr Matthias leidet beständig Rheumatismus und wurde in Folge dessen fast zum Krüppel. Sein Charakter war ein stets achtbarer; was Sie, geehrter Herr, von seiner Verschlossenheit und kühlen Zurückhaltung schreiben, traf damals nicht zu, und dürsten diese Eigenschaften wohl eine Folge seiner zunehmenden Kränklichkeit sein. Hier war Herr Matthias trotz seines Leidens stets guter Laune und die Seele hellerer Gesellschaften. Es hat Zellen gegebm, wo Matthias sich nicht ohne Hilfe im Bette herumdrehen konnte und doch machte er dabei immer noch seine Scherze. Was sein Aeußeres betrifft, so bin ich in der Lage, dasselbe sehr genau zu schildern, denn wir kannten uns von Jugend auf und waren Schulgenoffen. Von Natur nicht groß, schrumpfte sein Körper in
Folge seines rheumatischen Leidens sehr zusammen und sein schmales, bartloses Gesicht, wie seine zarte Gestalt und sein lockiges, blondes Haar ließen ihn eher wie einen hübschen Knaben erscheinen. — Ein einziges, freilich nicht zu übersehendes besonderes Kennzeichen besitzt Matthias und zwar in negativer Weise, indem ihm die linke Hand fehlt — dieselbe wurde ihm in seiner Jugend in einer Mühle abge- qustscht. Verwandte hat Matthias hier nicht mehr — ein entfernter Vetter Namens Jenkins, der Schaubudenbesitzer war, kam seiner Zeit hierher nach San Franzisko, und in Begleitung dieses Vetters trat Matthias damals die Reise nach dem Norden an. Das wäre so ziemlich Alles, was ich über Matthias weiß und möchte ich nur noch beifügen, daß es mich befremdet hat, nie mehr von ihm zu hören. Sollten Sie ihn sehen, wie ich nach Ihrem Briefe wohl annehmen darf, dann sagen Sie ihm, daß ich mich sehr freuen werde, wenn er mir Nachricht geben will — sollten seine äußeren Umstände ungünstig sein, dann werde ich mich freuen, ihm werkthätig unter die Arme greifen zu dürfen.
Inzwischen zeichne ich hochachtend
I. Cone, Firma: Cone, Bradlau und Co.,
San Franzisko, Kalifornien.
„Aha — so also hängen die Glocken, Freund Matthias", schmunzelte Taubert, indem er den Brief zusammenfaltete und einsteckte.
„Du bist eine große, wandelnde Lüge, lieber Matthias, und der Umstand, daß Du im Besitz Deiner beiden Hände bist, liefert Dich mir rettungslos ins Netz Auch Deine lange Gestalt stimmt nicht zu dem Bilde, welches Dein Freund Cone von Dir entwirft — jetzt spielst Du eine falsche Rolle. Und jetzt kommt die zweite, wichtigere Frage — da Du nicht der von der Firma Cone der Firma Filting empfohlene Matthias bist, mußt Du eine andere Persönlichkeit sein und zwar aller Wahrscheinlichkeit nach eine Persönlichkeit, welche Grund hat, sich zu verbergen — wer also bist Du?"
(Fortsetzung folgt.)