Amts- und Anzeigeblatt für den Bezirk (Lalw
65. Jahrgang.
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EHchilni Di-nrr-lg, D-nn-rrtaz und SamrtLg. s Die EinrückungSgebühr b-träql im Bezirk und nächster Um- j Hebung » Pfg- die Heile, sonst 12 Psg. l
Dienstag, den 8. Zuli 1890.
AbvnnrmentSpreir vierteljährlich in der Stadt Psg. und so Pfg. Trägerlohn, durch d'e Post bezogen Mk» 1. 15, sonst iu ganz Württemberg Mk. l. 35.
Deutsches Reich.
— In der 31. Sitzung des Reichstags entspann sich bei den Wahlprüfungen und bezügl. des Antisemiten Pickenbach, welche vorerst beanstandet wurde, zwischen Böckel-Rickert-Liebermann folgende „Judendebatte", welche bekannt zu werden verdient: Böckel (Antis.) ist für Giltigerklärung. Redner macht Mitteilungen über Wahlvorgänge und beklagt sich, daß die hessische Regierung dem freisinnigen Gegenkandidaten allen Vorschub geleistet habe. Es habe sich da gezeigt, daß wenn die Freisinnigen erst die Regierung haben würden, sie nicht toleranter sein würden, als die andern Regierungen bisher gewesen. Rickert: (freis.) Mit welchen Waffen die Antisemiten gearbeitet haben, beweist ein illustriertes Flugblatt, welches in diesem Kreise verbreitet worden ist und welches eine lange Proskriptionsliste von 63 -angeblich jüdischen Güterschlächtern (Zurufe bei den Antisemiten: „Thatsachen!") und einigen 90 Bauern enthält- die angeblich von Haus und Hof getrieben sind. (Zuruf: „Thalsachen!") Es heißt da, im Kreise Gelnhausen seien nach amtlichen Ermittlungen in acht Jahren nahezu 400 Bauerngüter von Juden ausgeschlachtet worden. In verhältnismäßig kurzer Zeit ist von einigen Männern festgestellt worden, daß in den Wucherlisten 14 doppelt genannt und 3 darunter Christen sind. Bei 30 von 25 Fällen ist heute durch Akten gerichtlich nachgewieseu, daß die gehässigen Behauptungen dieses gemeinen und erbärmlichen Flugblattes vollständig aus der Luft gegriffen sind. Redner zitiert einige Spezialfälle: Von den Bauern sind 44, soweit bis jetzt ermittelt, nicht durch jüdische Güterschlächter aus ihrem Erbe vertrieben. Ein Teil der Bauern existiert überhaupt nicht (Heiterkeit), der andere lebt noch heute unaus- geschlachtet und ungestört auf-seinem Gute. Böckel:
Es ist nur wunderbar, daß niemand von diesen Güterschlächtern wegen der Veröffentlichung dieser Liste eine Klage erhoben hat. Die angeblich Gekränkten hätten doch dazu alle Veranlassung gehabt. Lieber- mannv. Sonnenberg (Antis.): Was der Abg. Rickert gegen die Liste vorgebracht hat, sind nichts als Behauptungen, für die ein Beweis nicht erbracht ist. Rickert hat uns Namen genannt, von denen feststehen soll, daß die gemachten Angaben nicht zutreffen. Die Namen sind bereits acht Jahre lang durch die Presse gegangen und vor drei Jahren bei der Wahl zum ersten Mal in Form dieser Proskriptionsliste — ich will nicht sagen, wie die Bauern es neiinen — zusammengestellt worden. Die Behauptung, die Rickert unvorsichtigerweise mit vorgelesen hat, daß im Kreise Gelnhausen in acht Jahren 400 Güter ausgeschlachtet worden sind, befinden sich in dem Bericht der Kommission zur Untersuchung des Wuchers auf dem Lande, ist also amtlich festgestellt. Ich weiß nicht, ob Herr Rickert wirklich selbst meint, daß die Mehrzahl der Güterausschlächter Christen — wir würden „Deutsche" sagen — und nicht Juden sind; Herr Rickert mag nur nach Hessen reisen, ich will ihn gern begleiten (Heiterkeit) und ihm den Gegenbeweis liefern. Herr Rickert hat gemeint, heute wieder seine ungeheure Freundlichkeit für die Juden beweisen zu müssen. Der Ausdruck Jude ist für Sie immer ein Alarmsignal. Da heißt es bei Ihnen, wie bei der Wiß- mannschen Schutztruppe: „Sie setzen sich Hörner auf wie die Büffel, brüllen wie die Büffel, nehmen den Kopf zwischen die Beine und stürmen an." So stürmt auch die Schutztruppe des Judentums, wenn das Alarmsignal „Jude" ertönt. (Heiterkeit.) Wir werden dem Abg. Rickert sehr dankbar sein, wenn er uns neues Material beibringt. Sie wollten ja auch Anträge auf eine Reichsexekution gegen Sachsen zur gewaltsamen Einführung jüdischer Referendare und
auf Zulassung der Juden in das Offizierkorps stellen. Wir warten darauf. Will Herr Rickert mit uns ein Tänzchen wagen, möge er's nur sagen, wir spielen ihm auf. (Große Heiterkeit und Beifall rechts.)
Berlin, 4. Juli. Ueber die Erkrankung des Majors v. Wißmann schreibt die Kreuzzeitung: „Die heftigere Erscheinung der Erkrankung scheint ganz spontan mitten in der Nacht eingetreten zu sein, da das Telegramm nach Köln morgens um 3 Uhr angekommen ist. In Berlin hatte sich das Gerücht verbreitet, daß Major v. Witzmann erkankt sei infolge von Aufregung über Vorschläge seiner späteren Afrika- thätigkeit, welche ihm von berufener Seite gemacht worden seien. Das ist aber dem Vernehmen nach durchaus nicht der Fall gewesen. Vielmehr sind bei ihm dieselben Erscheinungen eingetreten, welche man bei den meisten Tropenreisenden auch oft lange Zeit nach ihrer Heimkehr zu beobachten Gelegenheit hat. Das ganze ist nicht gefährlich und dürfte nach Einhaltung einer gewiss^ Zcst andauernder Ruhe bald eine volle Genesung erwarten lassen."
Berlin, 5. Juni. Das Gerücht, Major v. Wißmann habe sein Entlassungsgesuch eingereicht, ist eingezogenen genauen Erkundigungen zufolge unzutreffend. Frkf. I.
— Die „Hamb. Nachr." schreiben: „In der Presse werden vielfach Erörterungen über eine Kandidatur des Fürsten Bismarck im Wahlkreise Kaiserslautern angestellt. Dieselben sind gegen st andslos. Fürst Bismarck beabsichtigt nicht, das ihm angetragene Mandat anzunehmen. Er dürfte sich überhaupt erst dann entschließen, in den Reichstag zu gehen, wenn niit Sicherheit abzusehen ist, daß er nicht in eine prinzipielle Oppositionsstellung zur jetzigen Regierung geraten würde.
Jeinlleton.
Das Totenschiff.
Bericht über eine Kreuz- und Quersahrt auf jenem „Der fliegende Holländer" -genannten Seegespenst; gesammelt aus den Papieren des seligen Obermatrosen Geoffroy Fenton aus Poplar
von ZS. Kkark Musselt.
(Fortsetzung.)
Wie bereits erwähnt, hatte ich seit meiner ersten Seefahrt fest an die Existenz des Gespensterschiffes geglaubt, und alle Matrosen, mit denen ich je zusammen gesegelt, fürchteten nichts mehr als ein Zusammentreffen mit ihm. Doch waren mir so verschiedene phantastische Geschichten darüber zu Ohren gekommen — so glaubten zum Beispiel Einige, und dazu gehörte unser Zimmermann — daß es ein mit Gespenstern gefülltes und von ihnen gesteuertes Totenschiff sei, Andere, daß es eine geisterhafte, mit Seelen beladene Barke wäre, denen die Pforten des Fegefeuers verschlossen seien; wieder Andere hielten es für ein Schiff, das für immer und ewig gegen Stürme ankämpfte, das manchmal von einem Orkan umrast sei, wenn der übrige Ozean ganz ruhig läge, oder zuweilen aus den Wogen emporsteige, um ein anderes Mal in den Wolken zu segeln, — ich sage, ich hatte so viele darauf bezügliche Geschichten vernommen, daß ich mir darüber bald meinen eigenen Glauben bildete, der dahin lautete: Das Phantomschiff ist, seinem wahren Namen gemäß, ein luftiges, unkörperliches Etwas, eine Vision, die Einem in diesen Gegenden, wenn auch nur selten, begegnet, eine Art Seegeist, der im Laufe der Jahre zu oft geschaut worden, als daß man seine Existenz leugnen könnte, und sicherlich in seiner Art eine ebenso wahre Erscheinung als irgend eine, von der wir in der heiligen Schrift lesen oder die an die Lagerstätten von Männern und Frauen getreten ist, um ihnen Botschaften aus der fernen Zukunft zu bringen.
Auf Grund dieser Meinung, die ich mir gebildet, konnte ich, obgleich durch
I die altertümliche Bauart des Schiffes, durch das Geheimnis seines Inhalts und durch I das Schweigen und die Dunkelheit, die es umgab, mächtig erschreckt, schwer glauben» daß es das wahre, von den Seeleuten so gescheute Gespensterfahrzeug sei, denn eS war ebenso materiell als unser Schiff selbst, was ebenso gut aus seiner schaukelnden Bewegung als aus den dumpfen Tönen abzuleiten war, die ich dann und wann aus dem Takelwerk oben aufgefangen hatte und die von den an die Mastbäume klatschenden Segeltüchern herrührten.
„Was halten sie von ihm, Fenton?" frug Mister Hall mit leiser Stimme, die aber ruhiger und weniger erregt schien. „Aehnelt cs der Barke, die — wie Kapitän Skevington erzählte — der Kommandant der Schnarre hier herum gesehen haben will?"
„Wahrhaftig; ja, ich glaube es!" antwortete ich; „aber daraus folgt noch nicht, daß es notwendigerweise das Gespensterschiff ist. Die Geschichte des SchnauschifferS schmeckte sehr nach Angst und Schrecken, und daß sie dann das Gehirn eines Verrückten passirte, was der arme Skevington leider war, hat sicherlich nicht zu ihrer Abschwächung beigetragen."
„Es hat ein sehr solides Aussehen, es ist ein wirkliches Schiff, aber ich habe nie zuvor ein ihm ähnliches gesehen, ausgenommen in allen Folianten. Schaum Sie jene schwachen feurigen Streifen und Spiralen an seinen Wänden. Ich begreife das nicht. Holz, das so flimmert, muß mürbe wie Zunder und porös wie Schwamm sein. Es könnte unmöglich schwimmen."
Mittlerweile war das geheimnisvolle Fahrzeug um ungefähr seine eigen« Länge vorwärts geschwankt, es sei denn, daß sich unser eigenes Schiff etwas gedreht und uns so einen günstigeren Auslug auf jenes verschafft hatte. Außer den an seinem Rumpf züngelnden Flämmchen war kein Licht bemerkbar, kein Laut einer Stimme zu vernehmen, keine Bewegung von Gestalten noch irgend ein Umriß, der einer menschlichen Form ähnelte, zu unterscheiden. Plötzlich wurde mein Auge durch ein Helles Licht über uns geblendet, das einen Schein verbreitete, der stark genug war, Mister Hall's Gesicht vollständig zu erleuchten. Aufblickend in der Meinung, daß einer unserer Leute mit einer Laterne nach oben geklettert sei, sah ich an der