M 64 . Amts- und Anzeigeblatt für den Bezirk Calw. 63. Jahrgang.
Erschein! Dien i ta g , Donneriing nnd Samstag. Die Einrücknngrqebiihr b-trSgt im Bezirk nnd nächster Umgebung S Psg. die .steile, sonst 12 Psg.
Donnerstag, den 5. Juni 1890.
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Deutsches Reich.
Berlin, 3. Juni. Der „Reichsanzeiger« meldet: DerKaiser unternahm gestern seinen ersten Ausritt. Die Besserung schreitet auf das erfreulichste fort. Der Kaiser arbeitete heute mit dem Staatssekretär des Marineamts und anderen höheren Militärs und empfing den Oberpostrat Kraetke, den bisherigen Landeshauptmann Neuguineas, sowie eine Deputation des Kongresses der deutschen Jnnungs- Handwerkerverbände.
Berlin, 3. Juni. Soviel man hört, hat der Kaiser als Standpunkt des Reiterdenkmals, das er seinem Vater in der Reichshauptstadt errichten will, die Spitze der Museumsinsel in Aussicht genommen und zwar in dem Kreuzungspunkte, wo sich die beiden neu zu errichtenden Brücken treffen sollen, -welche von der Insel aus einerseits nach dem Monbijougarten und anderseits nach der Garde-Artillerie- Kaserne hin über die Spree und den Kupfergraben gebaut werden sollen. Das Denkmal würde dann vor dem neu zu erbauenden Renaissance-Museum stehen, das eins der dringendsten Vermächtnisse Kaiser Friedrichs ist.
Zulassung zum einjährig-frei- milligen Dien sie. An unterrichteter Seite will man von einer Erschwerung des einjährig-freiwilligen Dienstes, von welcher mehrfach in der Presse die Rede war, selbst nichts wissen, dagegen giebt man zu, daß ein früher bereits besprochener Plan, wonach das Abiturienten-Examen an einem Gymnasium oder einer Realschule erster Ordnung als Vorbedingung gefordert werden sollte, noch keineswegs aufgegeben sei. Doch scheinen Beschlüsse auch darüber noch Vorbehalten zu sein.
Die neueHofkleidung. Mit der Beschaffung der neuen Kniehosen, Strümpfe und Schuhe
muß die Hofgesellschaft sich sehr beeilen. Bei der am 4. Juni stattfindenden Taufe der Tochter des Prinzen Friedrich Leopold im Stadtschloß zu Potsdam soll zum erstenmal das Kniehosenkostüm in die Erscheinung treten. Die amtliche Ansage des Hofmarschalls Grafen Kanitz lautet: Die Herren vom Zivil erscheinen in Galla (weiße Beinkleider, resp. Schuhe und Strümpfe). Frkf. I.
Hamburg, 1. Juni. Eine Anzahl chinesischer Artillerieoffiziere, an deren Spize der Oberst Schnell, ein Deutscher, steht, weilt nach der Magd. Ztg. seit einigen Tagen in unserer Stadt. Die Herren haben einen Schießkursus auf dem Schießplätze bei.Essen mit Kruppschen Kanonen u. s. w. beendet und befinden sich auf der Reise nach Kiel, um die dortigen Marineanlagen, Schiffe rc. zu besichtigen. Die chinesische Regierung hat bekanntlich eine Anzahl Geschüze bei Krupp in Essen bestellt, um mit denselben die chinesische Artillerie auszurüsten. Die jüngeren Offiziere, 6 an der Zahl, waren im Ganzen 11 Monate in Deutschland, um unsere militärischen Verhältnisse kennen zu lernen. In Hamburg haben die Offiziere hauptsächlich Einkäufe gemacht. Von Kiel aus werden sich dieselben zu Schiff in ihre Heimat begeben.
Ausland.
Petersburg, 31. Mai. Der Kronprinz von Italien ist gestern Nachmittag um 3 Uhr auf dem reichgeschmückten Moskauer Bahnhofe eingetroffen und vom Kaiser, der die große Generalsuniform mit dem Bande des Annunziatenordens trug, empfangen worden. Außerdem waren zur Begrüßung anwesend sämtliche zur Zeit hier weilende Großfürsten, die Generäle, die Mitglieder der italienischen Botschaft und die Gesandten von Portugal und von Dänemark.
Der Empfang war sehr herzlich; der Kaiser küßte wiederholt den Kronprinzen. Nach der Vorstellnng des gegenseitigen Gefolges und dem Abschreiten der Ehrenkompagnie bestiegen der Kaiser und der Kronprinz einen offenen Wagen und begaben sich durch die Newski-Perspektive, die reich mit italienischen und russischen Flaggen geschmückt war, nach dem Winterpalais, wo der Kronprinz von der Kaiserin begrüßt wurde. Um 10 Uhr abends fand im Anitschkow- palaste ein Familienmahl statt. — Im Beisein des Kaisers und des Prinzen von Neapel fand heute der Stapellauf der kaiserlichen Pacht „Poljamia Swesda« und des Panzerkanonenbootes „Großjäschtschi«, sowie die Kiellegung für das Panzerschiff „Navarin« und den Panzerkreuzer „Rjurik« statt.
— Die Bewegung der Bevölkerung in Deutschland und Frankreich. Eine vergleichende Uebersicht über die Bewegung der Bevölkerung in Deutschland und in Frankreich während des Jahres 1888 zeigt, daß auch in diesem Zeiträume das Verhältnis des Bevölkerungszuwachses zwischen den beiden Ländern sich wesentlich zu Un- aunsten Frankreichs verschoben hat. Es fanden im Jahre 1888 statt: nach den Veröffentlichungen des Kaiserlichen Statistischen Azntes im Deutschen Reiche 376,654 Eheschließungen, 1,828,379 Geburten und 1,209,798 Todesfälle; nach dem im „Journal offiziel« veröffentlichen Rapport in Frankreich 276,848 Eheschließungen, 882,639 Geburten und 837,867 Todesfälle. Während demnach der Ueberschuß der Geburten über die Sterbefälle in Deutschland 618,581 gegen 605,155 im Jahre 1887 betrug, berechnet sich derselbe für Frankreich nur auf 44,772 gegen 56,536 im Jahre 1887. Im Deutschen Reich übertrafen die Eheschließungen des Jahres 1888 diejenigen des Jahres 1887 um 5,995 und diejenigen des Jahres
Nachdruck nerboien.
Dev Geschworene.
Erzählung vonIerdiuaudKerrnarrn.
(Fortsetzung.)
Unter den angesehenen und ehrenwerten Männern, welche für die diesmalige Session des Schwurgerichts zu dem ernsten und verantwortungsreichen Amte eines Geschworenen in die nahe Kreisstadt berufen waren, befand sich auch Jakob Reinhardt, der Bühlhofbauer. Seit der Ermordung Peter Studt's waren erst drei Wochen vergangen, und doch sollte die Anklage gegen den Jeetzemüller, der nicht wieder aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, schon jetzt zur Verhandlung gelangen. Seine Schuld schien ja auch so klar erwiesen, daß ungeachtet seines beharrlichen Leugnen? ein längeres Hinausschieben der Verhandlungen ganz zwecklos gewesen wäre. Wenn schon die alte bittere Feindschaft zwischen ihm und dem Erschlagenen und die Drohung, welche er einst im Wittshause gegen den Thalmüller ausgestoßen, für die Beurteilung des Falles sehr schwer ins Gewicht fielen, so mußten die in der Voruntersuchung abgegebenen Aussagen mehrerer Zeugen, welche Philipp in der fraglichen Nacht zum Teil unter sehr verdächtigen Umständen im Dorfe und sogar in der Nähe des Thatortes gesehen haben wollten, für seine Ueberführung den Ausschlag geben. Diejenigen, die den Jeetzemüller näher gekannt, schüttelten freilich noch immer die Köpfe, und es fehlte auch nicht an solchen, welche offen für ihn eintraten und ihn für unschuldig erklärten, aber sie waren doch bei Weitem in der Minderzahl und da sie keine andere Grundlage für ihre Behauptung hatten, als ihre Ueberzeugrmg von Philipp's wackerem und rechtschaffenem Karakter, so blieb ihre persönliche Meinung ohne jede Einwirkung auf den weiteren Gang der Ereignisse.
Schon früh am Morgen hatte der Bühlhofbauer an dem bedeutsamen Tage der Schwurgerichtssitzung sein leichtes Korbwägelchen anspannen lassen. Heinrich Langhöfner, der ein Hauptbelastungszeuge war, hatte sich mit wenigen anderen
Bauern, welche ebenfalls Vorladungen erhalten hatten, schon beim Tagesanbruch auf den Weg gemacht, denn es waren ja Wittshäuser genug an der Landstraße, in denen man sich auf einer tüchtigen Fußwanderung ausruhen und stärken konnte. Der Eine oder der Andere wäre wohl gerne auf dem bequemen Wagen des reichen Bühlhofbauern mitgefahren; aber Keiner hatte den Mut gehabt, eine solche Bitte an ihn zu richten, die er in seinem hoffähttigen Stolze auch wohl schwerlich gewährt haben würde. War er doch in den letzten Wochen noch finsterer und unzugänglicher geworden, als er es vordem gewesen war. Käthen's schwere Krankheit war wohl als die vornehmlichste Ursache dazu anzusehen, so wenig er auch zu irgend Jemandem von seiner Sorge um ihr Leben sprach. In der That waren die Aussichten für Käthens Wiederherstellung noch immer sehr gering. Während der drei Wochen ihres Darniederliegens war sie nur selten auf eine kurze Zeit zu klarer Besinnung gekommen, und sie hatte sich dann jedesmal in einem Zustande so hochgradiger Ermattung befunden, daß sie nicht im Stande gewesen war, eine Bewegung zu machen oder auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Der Arzt, welcher täglich herüberkam, pflegte ziemlich ratlos neben ihrem Bette zu stehen und einmal über das andere zu versichern, daß ihm ein solcher Fall in seiner Praxis noch gar nicht vorgekommen wäre, — im klebrigen aber vermochte er bislang nicht viel tröstliche Aussichten zu eröffnen.
So war es denn gar wohl zu begreifen, daß der Bühlhofbauer ein wenig zusammenfuhr, als ihm just in dem Augenblick, da er den Korbwagen besteigen wollte, die alte Lene nachstürzte mit den Worten:
„Die Käthe hat zum ersten Mal gesprochen, und sie hat darnach verlangt. Euch zu sehen: Ihr müßt zu Ihr hinein und wäre eS auch nur ein paar Augenblicke.«
Der Bauer zögerte; denn er hatte nicht mehr viel Zeit zu verlieren, und er empfand überdies — ohne sich's selber einzugestehen, eine gewisse Scheu vor diesem ersten Gespräch mit seiner unglücklichen Tochter. Aber er gab doch endlich dem Drängen der alten Lene nach und begab sich in das Krankenzimmer. Er hätte ein Stein sein müssen, wenn ihm der Anblick seines armen Kindes, dessen schöne Augen jetzt unheimlich groß und glänzend aus dem geisterbleichen Antlitz hervorleuchteten.