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den Wagen des Fürsten, unbekümmert um die einher sprengenden berittenen Schutzleute, die dem Wagen freie Bahn zu schaffen suchten. Der Berichterstatter der Allg. Ztg. sagt, er habe in Berlin nie dergleichen gesehen. Bon den Fenstern und aus der Menge heraus wurden Blumensträuße in den Wagen geworfen und unaufhörlich donnerten die Hurrahrufe. Man sah viele Leute weinen, man hörte oft rufen: „Auf Wiedersehen!" So ging es durchs Brandenburger Thor hinaus zum Lehrter Bahnhof, immer durch dichte Spaliere von Menschen. Auf dem Bahnhofe erreichte die Bewegung ihren Höhepunkt. Es ist unmöglich, alles, was sich hier abspielte, genau zu schildern. Die Menge hatte alle Plätze in der Umgebung des Bahnhofes und diesen selbst besetzt. Ein kleiner Raum des Bahnsteiges war abgesperrt. Hier hatte auf Befehl des Kaisers eine Schwadron Kürassiere Aufstellung genommen. Zwei Mann standen als Ehrenposten an der Treppe des Wagens. Fürst Bismarck selbst schien durch die Auszeichnung, die ihm so durch den Kaiser zuteil geworden, überrascht zu sein. Während er die Front abschritt, spielte die Regimentskapelle eine Fanfare. Plötzlich trat feierliche Stille ein, und die Klänge der Wacht am Rhein von allen Anwesenden gesungen, erbrausten durch die Halle. Hochaufgerichter stand Fürst Bismarck da, und mit tiefernstem Ausdruck vernahm er diesen Abschiedsgruß, der alle Herzen bewegte. Auf Befehl des Kaisers waren sämtliche Flügeladjutanten auf dem Bahnhof erschienen; ebenso waren der Reichskanzler v. Caprrvi, Herr v. Bötticher mit Gemahlin und viele Generale, Botschafter, Gesandte und andere Diplomaten anwesend. Als das vorletzte Abfahrtssignal gegeben wurde, begann sich der Fürst von jedem Einzelnen zu verabschieden. Als er die Treppe zum Coupö hinanschritt, sang die Menge: „Deutschland, Deutschland, über Alles." Mit immer neuer Kraft erschollen die Rufe: Hoch Bismarck, auf Wiedersehen, Wiederkommen! Die Regimentskapelle setzte wieder ein. Fürst Bismarck erschien am Fenster des Wagens und dankte mit Kopfnicken und Handbewegungen fortwährend, dann setzte sich der Zug in Bewegung und führte den Scheidenden auf seinen einsamen Landsitz nach Friedrichsruh. Der Kaiser hatte dem Scheidenden ein prächtiges Veilchenkissen übersandt, auf dem ein grüner Lorbeerkranz mit goldenen Früchten ruhte, von dem Kranz hing eine Schleife in schwarz-weiß- roten Farben herab. In den Ecken des duftigen Kissens prangten Tuffs von Marschall-Niel-Rosen. Der Fürstin hatte der Kaiser einen prächtigen Blumenkorb mit Flieder und Rosen geschickt, dessen Fuß rote Azaleen umrankten.
Tages-Neuigkeiten.
(Reichstagswahl.) Zuverlässigen Nachrichten zufolge steht unserem (VII.) Wahlkreis in der nächsten Zeit eine Reichstagsabgeordneten-Neuwahl nicht bevor.
H Calw, 2. April. Das war ein schönes Fest, gestern abend auf dem Bahnhof, gehoben und getragen von der begeisterungs- und weihevollen Stimmung, wie sie dieses Geburtsfest und das Scheiden des mächtigsten Staatsmannes, des Fürsten von Bismarck, in unserem deutschen Volke erzeugen mußte. Eine sehr zahlreiche Versammlung von Männern aus
allen Ständen hielt es für heilige Pflicht, dem eisernen Kanzler eine aus treuen Schwarzwälder Herzen kommende Huldigung darzubringen für die lange, harte, gottgesegnete Arbeit, die er aus Liebe zum Kaiser, aus Liebe zur deutschen Nation gethan hat. Nachdem Hr. E. Staelin die Anwesenden begrüßt und kurz den Zweck der Feier dargelegt hatte, ergriff Hr. Dr. Weizsäcker das Wort, um in kräftigen markanten Zügen und mit treffenden Vergleichen die persönliche und politische Gestalt des Fürsten als den Baumeister des deutschen Reiches, als die höchste Verkörperung deutscher Vaterlandsliebe und als den Hort und Erhalter des Friedens zu feiern. Redner schloß seine warme und lebendige Rede mit dem Wunsche: Möge uns Fürst Bismarck noch lange Jahre erhalten bleiben und möge Gott den Lebensabend des ruhmreichen Einsiedlers im Sachsenwalde segnen und behüten. Machtvoll erklangen hierauf die Hochrufe durch den Saal, ausgenommen durch den allgemeinen Gesang von „Deutschland, Deutschland über alles". Auf Vorschlag des Vorsitzenden wurde an den Gefeierten ein Telegramm abgesandt, das folgenden Wortlaut hat: Sr. Durchlaucht dem Fürsten von Bismarck, dem ruhmreichen Begründer deutscher Einheit, Macht und Größe, dem gewaltigen Kanzler des deutschen Reiches, dem unvergleichlichen Vorbild deutscher Pflichterfüllung und Vaterlandsliebe, dem Mutigsten der Helden, dem Treuesten der Treuen, dem Hort des Friedens, dem Wächter deutscher Ehre, dem Stolz und der Liebe des deutschen Volkes senden ehrerbietigsten Glückwunsch zum Geburtsfest und das Gelöbnis unauslöschlichen Dankes die am 1. April versammelten Bürger von Calw. Auf das deutsche Volk toastete sodann Hr. Helfer Eytel, ein weiterer Trinkspruch von Hr. Professor Haug galt dem Banner Deutschlands und Hr. Oberamtsarzt I)r. Müller lenkte die Aufmerksamkeit der Versammlung auf den neuen Reichskanzler v. Caprivi. Die Pausen zwischen den Reden wurden mit sehr ansprechenden und dankbar aufgenommenen Vorträgen des Liederkranzes in angenehmster Weise ausgefüllt. Die echt patriotische Feier fand ihren würdigen Abschluß durch den Gesang des feurigen deutschen Nationalliedes „Es braust ein Ruf wie Donnerhall".
x. Würzbacher Torfstich. Veranlaßt durch die seit einiger Zeit eingetretene erhebliche Steigerung der Steinkohlen- und Holzpreise hat der Gemeinderat Calw an die K. Forstdirektion die Bitte gerichtet, daß dieselbe den Torfstich bei Würzbach, welcher ein anerkannt vorzügliches Brennmaterial liefert, wieder in Betrieb setze. Hierauf hat die K. Forstdirektion erwidert, daß sie Bedenken trage dem angebrachten Gesuche zu entsprechen, weil nach den früheren Erfahrungen ein nachhaltiger Betrieb, wenn auch mit mäßigem Ertrag, nicht zu erwarten, Heuer überdies ausnahmsweise viel Brennholz infolge der Januarstürme in der Umgegend angefallen sei und überdies der Betrieb mit einem beträchtlichen Kostenaufwand erst wieder neu eingerichtet werden müßte. Zur Torfstreugewinnung eigne sich das fragliche Material erfahrungsgeinäß ohnehin wenig und scheine ein Bedürfnis nach Streu insolange, als das anfallende Reis, statt zu Streuzwecken verwendet zu werden, in der Hauptsache noch verbrannt werde, nicht nachgewiesen. Wenn hienach für die Staatsforstverwaltung die Verhältnisse zur Zeit noch so liegen, daß sie nach
den früheren Erfahrungen Anstand nehmen müsse, den Betrieb für eigene Rechnung wieder zu eröffnen, so wäre sie doch bereit, den geltend gemachten Interessen der Einwohner von Calw dadurch Rechnung zu tragen, daß sie der Stadtgemeinde einen entsprechenden Teil des Torffeldes zur Einführung eines rationellen. Betriebs aus angemessene Zeit in Pacht geben würde.
Calw, 1. April. Die gewerbliche Fortbildungsschule wurde in diesem Winter von 109 Schülern besucht. Ilnterrichtsgegenstände waren Deutsch, Rechnen, Naturlehre, Geschichte, Geometrie Englisch, Französisch, Freihand-und technisches Zeichnen. Der Schluß des Wintersemesters fand am Montag abend im Hörsaal des Georgenäums statt. Der Schulvorstand, Hr. Professor Haug, warf einen Rückblick auf die Leistungen der Schule im verflossenen. Jahr, sprach den fleißigen und treuen Schülern seine Anerkennung aus und forderte sodann insbesondere: die nichtprämierten mit beherzigenswerten Worten, auf, im nächsten Jahre sich ebenfalls einer Auszeichnung würdig zu machen. An wohlgeordnete lind fortgeschrittene Schüler konnten aus der Stiftung vom Hrn. Generalkonsul v. Georgii, sowie aus den von dem Gewerbeverein und der Stadt bewilligten. Mitteln und aus dem dankenswerten Beitrag eines hiesigen Fabrikanten 102 verteilt werden; die Prämien wurden in Geld, Büchern und Werkzeugen verabfolgt. Außerdem wurden noch Schüler mit Be-- lobungskarten bedacht. Bedenkt man, daß unbemittelte Schüler nicht nur ganz oder teilweise vom Schulgeld befreit, sondern auch noch Prämien erhalten können, so ist gewiß der Beweis erbracht, daß jedem Lehrling, der Besuch der Schule möglich ist. Erfreulicherweise bringt die weitaus größere Zahl der Meister der Fortbildungsschule ein reges Interesse entgegen und dies mit vollem Recht. Denn wie Herr Direktor Spöhrer und Hr. Rektor Dr. Müller in ihren Ansprachen bemerkten, zeigte sich bei der am gleichen Tage abgehaltenen Lehrlingsprttfung ein sehr großer Unterschied zwischen den Schülern der Fortbildungsschule und solchen, die die Schule nicht besuchten. Elftere waren sowohl in den wissenschaftlichen Fächern als auch in der technischen Ausbildung an Schlagfertigkeit im Antworten und in ihrem ganzen Auftreten den letzteren weit überlegen. Möchten daher Eltern und Meister dringend darauf halten, daß ihre Söhne und Lehrlinge die Fortbildungsschule nicht versäumen. Bei den gegenwärtigen Geschäftsverhält- nifsen ist ein guter Schulsack doppelt notwendig.
* Am Dienstag morgen flog einem hier-1m „Waldhorn" übernachtenden Herrn ein seltener Vogel in's Zimmer, es war ein Wendehals, ein den Spechten nahestehender, einer Haubenlerche täuschend ähnlicher Vogel. Die Unterscheidungszeichen von letzterer sind das fortwährende Drehen des Kopfes, die Kletterfüße und em gerader, nicht zangenförmig geformter Schnabel. Derselbe hatte sich, wie es schien, vor einem Raubvogel zu flüchten und zeigte sich mehrere Stunden recht hinfällig. Die Wendehälse
kommen gewöhnlich erst Ende Mai, sie lassen sich zähmen, sind aber still und träge. Der dem Too Entronnene flog am Nachmittag gesund und wohl in's Scheerwäldle.
Stuttgart. Der Staatsanz. meldet den Zusammentritt beider Kammern am 15> Ani-il
Jeuilleton.
Nach hartem Ringen.
Roman von L. Dohrmarm.
(Fortsetzung.)
„Mein Glaube an Deine bisherige Unwiderstehlichkeit hat einen starken Stoß erlitten, mein Herr Neffe!" hörte Helene Frau von Born mit unaussprechlichem Hohn sagen. „Statt dies halsstarrige, herzlose Geschöpf an Dich zu fesseln, in der Weise, wie es unsere Verabredung betraf, bist Du der Gefangene ihrer schönen Larve geworden und zappelst nun wie ein ängstlicher Vogel in ihrem Netze. Aber ich sage Dir," fuhr sie auf und ihre Stimme nahm einen drohenden Ausdruck an, „Du handelst fortan, wie Du es mir zugesagt hast, oder Du zwingst mich, meine Pläne mit anderer Hilfe als der Deinen zur Ausführung zu bringen!"
„Das wirst Du nicht thun!" tönte jetzt die aufgeregte Stimme des jungen Lieutenants dagegen. „Ich gestehe, daß ich Deinen Vorschlag, meine Unbesiegbarkeit an diesem Mädchen zu erproben, längst bereut habe, denn ich liebte sie, wie ich noch Keine je geliebt habe, und mein muß und soll sie werden und wenn ich auf den Knien um ihre Liebe betteln soll. Ich werde sie vor Deinen Jntriguen zu schützen wissen!"
„Glaubst Du?' höhnte Frau van Born. „Ich fürchte, daß eS noch sehr zweifelhaft ist, wem sie mehr glauben und verträum wird. Dir oder mir. Du magst davon überzeugt sein, daß Deine Annäherungen, trotz meiner Hilfe, bisher nm ihre entschiedene Abneigung hervorgerufen haben, die sie sich nicht einmal Mühe giebt zu verbergen."
Helene zitterte heftig; eine furchtbare Angst schnürte ihr da» Herz zusammm. Wer konnte Diejenige sein, von welcher di« Frau, der sie so viel verdankte, in einem solch gehässigen Tone sprach?
„Tante," fragte der junge Offizier wit mühsam unterdrückter Aufregung. „Du versagst mir Deine Hilfe? Weshalb verfolgst Du denn Fräulein von Arnheim mit einem gradezu unauslöschlichen Haß? Was that sie Dir?"
Helene schwankte; die Ueberraschung kam zu jäh; sie hatte genug gehört - nur noch wie ein Murmeln schlug die Antwort der Tante an ihr Ohr. Wie ein? Verfolgte floh sie durch die Zimmer, bis sie das ihrige erreicht hatte.
Mit zitternden Händen verschloß sie die Thür und sank dann, noch an allen Gliedern bebend, auf einen Sessel nieder, entsetzt vor sich hinstarrend. Plötzlich sprang sie wieder empor und durchmaß mit aufgeregten Schritten das Gemach.
„O, Tante, wa» habe ich Dir gethan?" rief sie laut aus, um im selben Moment vor dem heiseren, fremden Klang ihrer eigenen Stimme zurückzuschrecken. Wieder warf sie sich auf einen Stuhl und versank in ein finstere» Sinnen.
Wie lange sie so gesessen, sie wußte es selber nicht. Als sie, durch ein Klopfen aufgestört, sich erhob, erfüllte schon tiefes Dunkel das Gemach; nur die bleiche Mondsichel sandte ihr ungewisses Licht durch die Scheiben. Sie öffnete die Thür; draußen stand eine Dienerin, welche im Aufträge von Frau Vom kam, um. sie zum Tbee zu bitten.
„Sagen Sie meiner Tante, ich ließe mich entschuldigen, mir wäre nicht ganz wohl," sprach Helene müden Tones.
Die Dienerin entfernte sich und Helene trat in das dunkle Zimmer zurück.. Gedankenverworren sah sie durch das Fenster auf die flimmernden Gaslaternen und' hörte mechanisch auf das verworrene Geräusch, welches von draußen hereinschallte. Nach wenigen Minuten wurde die Thür geöffnet; Frau von Vom erschien auf der Schwelle.
„Noch im Dunkeln, mein Kind? Kamst Du erst soeben zurück?" fragte sie- erstaunt, schon zu gleicher Zeit nach Licht klingelnd.
„Ich war nicht fort," entgegnet« Helene.
(Fortsetzung folgt.)