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Schwäb. Landwirt.
55
Kienslais, dm 7. März
1911
Reichstag, Regierung und Presse.
Eine Skizze.
Selten ist das verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen Reichstag und Regierung so im Vordergrund des Tages- kampses gewesen, wie in unserer Zeit. Wir wollen uns in unseren kurzen Betrachtungen auf diesen Tagesstreit selbst nicht einlassen, aber in das Getriebe des In- und Mitein- anderarbeitens der drei bedeutsamen Faktoren hiebei: Reichstag. Regierung und Presse einmal hineinleuchten, scheint uns für das Verständnis mancher Vorgänge im Parlament nicht unwesentlich zu sein.
Nach ß 5 der Verfassung ist zu einem Reichsgesetze die Uebereinstimmung des Bundesrats und des Reichstags in ihren Mehrheiten erforderlich. Beide Teile sind also gleichberechtigte gesetzgeberische Faktoren. Die Maschine der Gesetzgebung steht still, wenn nicht zwei Mehrheiten geschaffen werden.
Wie wenig Gesetze würden trotz endloser Debatten im Plenum des Reichstages zustande gekommen sein, wenn die Gesetzentwürfe der Regierung in den Kommissionen dem Reichstage nicht erst schinackhaft gemacht worden wären. Reichstag und Regierung lebten in einem ewigen Konflikt.
Fast jedes größere Gesetz wird von der Regierung dem Reichstage durch eine feierliche Einführungsrede des Ressort- chess zur Beratung übergeben. In den meisten Fällen wird dann in der ersten Lesung von der Mehrheit des Hauses scharfe Kritik geübt. Ein Parteiführer nach dem andern gebt zur Tribüne, um die feierliche Erklärung abzugeben: „In dieser Gestalt ist für uns das Gesetz unannehmbar." Den Minister am Bundesratstisch lassen diese Erklärungen kühl bis ans Herz hinan. Er weiß, es kommt ganz anders.
Die Kommissionsberatungen beginnen. Ohne Rücksicht ans den Standpunkt der Regierung sucht die Mehrheit der Kommission, das Gesetz ganz nach ihrem Willen umzuformen. Der Regierungsvertreier warnt und stellt mit feierlichem Ernst das Scheitern der Vorlage in Aussicht.
Nun beginnen die Verhandlungen hinter den Kulissen. Die Regierung bittet Vertreter der Parteien, die auf ihrem Standpunkt stehen, zu sich und teilt ihnen vertraulich mit, wie weit sie geneigt ist, der Mehrheit der Kommission entgegenzukommen. Wohl informiert, laden diese Vertrauensmänner der Regierung die ihnen befreundeten Parteien im Reichstage zu einer vertraulichen Besprechung ein. Es wird hin und hergehandelt. Oft wiederholen sich die vertraulichen Beratungen, und. in der Presse liest man während dieses vertraulichen Hinüber und Herüber: „Die Entscheidung aus des Messers Schneide!"
Die zweite Lesung in der Kommission gibt gewöhnlich schon ein klares Bild. In wenigen Fällen hat der „Kuhhandel", der solange es Parlamente geben wird, geschmäht und doch als wichtige Institution erhalten werden wird, Erfolge gehabt. Nur in ganz seltenen Fällen lassen es Parlament und Regierung auf eine Machtprobe, also einen Konflikt ankommen. Erinnert sei an die Erbschaftssteuer.
Da wir kein parlamentarisches Regierungssystem haben, wird fast immer bei einem Konflikt zwischen der Mehrheit des Reichstages und der Mehrheit des Bundesratcs das Pa lament den Kürzeren ziehen. Der Reichskanzler ist du ch das Vertrauen des Kaisers in sein Amt eingesetzt. Ei-' Konflikt zwischen Kanzler und Parlament kann den Kanzler nicht stürzen. Der Kanzler braucht nicht zu gehen, er > ann aber mit Einwilligung des Kaisers den bösen Reichstag nach Hause schicken. Und die Geschichte der Auflösung des Reichstages hat gelehrt, daß die Regierung schließlich doch einen ihr gefügigen Reichstag bekommt.
Während die Regierung nur dann im Reichstag anwesend sein braucht, wenn es ihr gutdünkt, kann der Reichstag auf dem Wege der Interpellation die Regierung zur Rede stellen.
„Interpellationen gehen von Oppositionsparteien aus, die der Regierung eine kleine oder große Verlegenheit beleben wollen, denkt man fast allgemein im Volk. Dem ist durchaus nicht so, Interpellationen sind schon sehr oft durch die Regierung selbst veranlaßt worden, wenn sie das Bedürfnis hat, besonders in Angelegenheiten, die Unruhen im Auslande Hervorrufen können, ihre Meinung Klipp und klar zuni Ausdruck zu bringen. Eine befreundete Partei wird mn das „Sprungbrett" gebeten.
Es ist nach dem heutigen Stand der Dinge gar nicht möglich, der Regierung auch durch eine ihr noch so peinliche Anfrage eine Schlappe zu bereiten. Die Interpellanten können sich entrüsten so viel sie wollen, ein Beschluß darf nicht gefaßt werden, und in den meisten Fällen gehen die heftigen Debatten aus wie das Homberger Schießen.
Die mit einem großen Formenapparat in Szene gesetzten Interpellationsdebatten haben allerdings insofern große Bedeutung, als sie sich als Beruhigungsmittel ersten Ranges erweisen. Nach einem Eisenbahnunglück, nach einer Grubenkatastrophe sind durch Interpellationen die erregten Gemüter sehr oft besänftigt worden. Da ein gut Teil der Verhandlungen im Reichstage der Agitation draußen im Lande dienstbar gemacht wird, ist es kein Wunder, daß viele Interpellationen aus rein agitatorischen Gründen das Forum des Reichstages beschäftigen.
Der Reichstag hat also ein schweres und ein leichtes Geschütz, das er gegen die Regierung auffahren kann : die Ablehnung von Gesetzentwürfen und die Interpellation. Erfreut sich der Kanzler des kaiserlichen Panzerschutzes, dann treffen ihn beide Geschütze nicht.
Bon einem Recht des Reichstages der Negierung gegenüber wird so gut wie gar nicht mehr Gebrauch gemacht, ebenso von dem Recht der Adressen und Deputationen an den Kaiser. Da man im Volke von diesem Recht fast gar nichts weiß, seien die tzß 67 und 68 hier wiedergegeben, wie sie in der Geschäftsordnung des deutschen Reichstages sestgelegt sind.
Wird beantragt, eine Adresse an den Kaiser zu richten, und haben der oder die Antragsteller dem Reichstage einen formulierten Entwurf zu der Adresse überreicht, so findet die weitere Behandlung in derselben Art wie bei allen anderen Anträgen statt. Beschließt der Reichstag, die Vorberatung des Entwurfs einer Kommission zu übertragen, so wird diese aus dem Präsidenten — bei dessen Behinderung dem Vizepräsidenten — des Reichstages als Vorsitzenden und 21 von den Abteilungen zu wählenden Mitgliedern gebildet. Liegt ein Entwurf zu einer Adresse nicht vor, so ist dieser von einer in gleicher Weise zusammenzusetzenden Kommission zu fertigen und ohne weiteren Bericht dem Reichstage zu überreichen.
Soll die Adresse durch eine Deputation überreicht werden, so bestimmt der Reichstag auf den Vorschlag des Präsidenten die Zahl der Mitglieder: das Los bezeichnet sie. Der Präsident ist jedesmal Mitglied der Deputation und führt allein das Wort.
Alter, parlamentarischer Brauch, Reichstag und Regierung „menschlich näher zu bringen", sind die parlamentarischen Abende beim Reichskanzler und den Ministern. Bei einem guten Happen und einem wohlbekömmlichen Trunk wird hier in den behaglichen Gemächern der Minister politisiert. Die Weinlaune läßt des Krieges Stürme schweigen, und freundlich drückt man dem Minister die Hand, — natürlich ganz unverbindlich!! — den man noch wenige Tage vorher von der Tribüne des Reichstages heftig bekämpft hat. Die Sozialdemokraten lehnen diese Besuche ab, die trotz ihres unpolitischen Charakters ein kleines Spiegelbild der politischen Situation sind. Das Zentrum schnitt seinerzeit den Fürsten Bülow, und die Freisinnigen sind heute von einer Einladung Bethmann Hollweqs nicht sehr entzückt.
Zum Schlüsse ein Wort über die Presse im Reichstag. Wenn man die Reichstagsjournalisten im „Entenpfuhl", dem für sie im Obergeschoß hergerichteten Ersrischungsraum, lustig plaudernd um die Tische geschart sieht, dann ahnt man nicht, wie anstrengend, wie nervenzerrütend ihr Saisonberuf ist. Gewiß — der Reichstag hat nicht immer große Tage. Aber der Journalist, der allein seine Aufgabe darin erblickt, von der Tribüne des Reichstages herab sich die Reden da unten im Sitzungssaale anzuhören, der wird seinen Posten wohl schwach aussüllen. Er muß stets Fühlung mit den Abgeordneten haben, und kann auch mit gutem Recht verlangen, daß der Abgeordnete der seiner Zeitung befreundeten Partei sich ab und zu mit ihm darüber ausspricht, wie man in Parteikreisen über die politische Lage denkt, ob große Ereignisse, die man im politischen Leben nun einmal täglich zu erwarten hat, in Aussicht stehen.
Reichstagsabgeordnctc und Presse sind aufeinander angewiesen. Die Presse kann allenfalls eine Zeitlang auch ohne Reichslagsberichte auskommen. Jene Zeit hals gelehrt, als Herr Gröber es wagte, die Presse im Reichstag gröblich zu beleidigen. Jene Zeit hat aber auch deutlich bewiesen, daß der Parlamentarismus, da die Reden im Reichstag vor allen Dingen doch von Leuten gehört werden sollen, ohne Presse zur Unfruchtbarkeit verdammt ist.
Die Abgeordneten sind nicht zuletzt durch die Hilfe ihrer Parteipresse in den Reichstag hineingewählt worden. Sie brauchen die Presse aber auch sehr während ihrer parlamentarischen Tätigkeit. Der Wahlkreis will genau wissen, was der Abgeordnete im Reichstage gesprochen hat, und er wendet sich mit dem stenographischen Bericht an die ihm bekannte Presse.
Kurzum Reichstag und Presse sind eng Verbündete —, oder sollten es wenigstens sein. Diesem Zusammengehörig
keitsgefühl haben die meisten Parteien im Reichstage bereits äußerlich Ausdruck gegeben, daß sie mindestens einen Abend während der parlamentarischen Sitzungsperiode gemütlich mit den Vertretern der Presse zusammen sind.
Reichskanzler von Bethmann-Hollweg ist der Presse weniger zugänglich, als sein Vorgänger Fürst Bülow, der immer ein paar Journalisten um sich chatte. Das Preß- bureau der Regierung unter Leitung eines Geheimrats steht aber dem Reichskanzler so nahe, daß man dort ohne große Mühe wichtige Dinge erfahren kann, die man erfahren soll. Auch die Presse hat die Ehre, zu den parlamentarischen Bierabenden des Reichskanzlers und des Ministers geladen zu werden.
Wie unten im Saale die Abgeordneten persönlich höflich und freundlich verkehren, so auch oben in ihrem Wirkungskreis die journalistischen Kollegen der verschiedenen Parteirichtungen. Unter den 200 Reichstagsjournalisten des In- und Auslandes kann man eine musterhafte kollegiale Solidarität beobachten. Einig ist man auch in fröhlichen Stunden darüber, ob man aus der Iournalistentribüne etwas zu versäumen hat oder nicht. Wenn Stadthagen zu einer Dreistunden-Rede anhebt, dann hält man gemeinsam Einkehr im „Entenpfuhl". Seine Rede erlaubt nicht nur, daß man ungestört Kaffee trinken kann — die Zahl der „Kaffeeredner" ist nicht gering —, sondem man kann auch mit aller Seelenruhe sein Mittagmahl einnehmen. Stadthagen ist ein „Menuredner".
Politische Ueberficht.
Die Petitionskommission des Reichstags hat
eine Petition des Vereins deutscher Kaffeegroßhändler, die dahin geht, die Bezeichnung der Kaffeesurrogate mit dem Namen „Kaffee" zu verbieten und auf die Kaffeeersatzmittel eine Steuer zu legen, verworfen, weil eine solche Steuer die ärmeren Klassen der Bevölkerung neu belasten würde.
In Bayern bröckeln die jungliberalen Vereine mehr und mehr von der nationalliberalen Partei ab. Auch der Münchener jungliberale Verein hat nunmehr den Ueber- gang zur Fortschrittlichen Bolkspartei beschlossen. Am 26, d. M. soll in Schwabach über die endgültige Auflösung des jungliberalen Landesverbands beschlossen werden. In Schwabach findet am 25. und 26. d. M. auch der zweite Delegiertentag der Arbeitsgemeinschaft der liberalen Kreisverbände Bayerns statt. Die Tagung soll vor allem den Aufmarsch des Liberalismus in Bayern zu den Reichstagswahlen oor- bereiten und das Signal zum Eintritt in den Wahlkampf geben.
Zwischen Spanien und dem Vatikan dürfte es doch noch zu einem völligen Bruch kommen. Der Ministerrat, der sich mit der letzten Note des Vatikans befaßte, hat die in dieser Note gestellten Bedingungen für die Wiederaufnahme der Verhandlungen nicht angenommen. Vielmehr billigte er den Beschluß, das Vereinsgesetz noch im Lauf des Monats März dem Parlament vorzulegen. Der Ministerrat stand unter dem Vorsitz des Königs, der mit dem Vorgehen der Regierung in allen Punkten einverstanden ist.
Die türkische Regierung hat sich zu den Schiffen, die sie dem Nordd. Lloyd in Bremen abkauste, auch einen Kapitän, einen ersten Offizier und zwei Maschinisten vom Nordd. Lloyd verschrieben. Sie sind zunächst auf ^ Jahr beurlaubt. — Seit etwa zwei Wochen vergeht kaum ein Tag, an dem sich an der türkisch-griechischen Grenze nicht blutige Zusammenstöße ereigneten. In Athen und Konstantinopel zeigt man den guten Willen, Ruhe zu schaffen. — Am Donnerstag hat General Izzet Pascha in Gegenwart hoher Beamten und der fremden Konsuln in Hodeida den ersten Spatenstich zum Bau der Bahn Ho- deida—Saana getan.
An der türkisch-griechischen Grenze dauern die
Plänkeleien an. Es werden auf beiden Seiten täglich einige Tote und Verwundete verzeichnet. — Ein Kriegsgericht in Konstantinopel hat beschlossen, die sich auf 130000 Pfund belaufenden Veruntreuungen in der militärischen Fezsabrik aus dem Vermögen des Kriegsministers des alten Regimes Risa Pascha zu begleichen.
Nach Meldungen aus Persien erschien am
Samstag der Regent im Parlament zur Eidesleistung. Er verlas eine längere Rede, in der er darlegte, was ihn bisher gehindert habe, die Regentschaft anzunehmen. Die Eidesleistung sei gegen seine Ueberzeugung, da die Verfassung ihn verantwortlich mache, ihm aber keine Macht in die Hand gebe. Er werde zurücktretcn, sobald ersehe, daß kein Fortschritt zu erreichen sei.
Nach Meldungen aus Marokko haben sich
einige weitere Stämme dem in der Umgegend von Fez angeblich infolge unerträglichen Steuerdrucks ausgebrochenen Aufstand angeschlossen.