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Viktoria während ihrer diesjährigen Anwesenheit in Osborne besuchen, aber nicht nach London kommen. Auf der Rhede von Spithead werde ihm zu Ehren eine große Flottenschau stattfinden. Dazu bemerkt der „Hamburger Korrespondent", daß die Londoner Nachricht aus denselben Regionen stammt, in welchen man einen privaten Besuch des Kaisers bei seiner königl. Großmutter als opportun bezeichnete. Erfreulicherweise sind die in jenen Regionen herrschenden Gesinnungen Deutschland gegenüber weder für die Wünsche noch für das politische Verständnis des englischen Volkes maßgebend.
Berlin, 11. April. Die zweite Beratung des Alters, und Jnvaliditätsgesetzes im Reichstag hat sich über Erwarten in die Länge gezogen; sie ist mit einer fast beispiellosen Gründlichkeit geführt worden, zur offenbaren Widerlegung der deutsch-freisinnigen Behauptung, daß ein innerlich unreifes Gesetz mit überstürzender Hast durchgepeitscht werden solle. Wir halten an der Hoffnung fest, daß bald nach Ostern ein positives Endergebnis erzielt werden wird. Eine Vertagung des Abschusses bis auf den Herbst würde das Gesetz allzu vielen Fährlichkeiten aussetzen. Es wird jetzt vielfach von gegnerischer Seite die Behauptung verbreitet, das Gesetz begegne im Volk und in der Acbeiterwelt einer tiefgehenden Abneigung. Die Abgeordneten werden in der Ferienpause Zeit und Gelegenheit haben, sich mit ihren Wählern auszusprechen, sie über manche dunkle Frage aufzuklären und zu erforschen, ob wirklich in weiten Kreisen Abneigung vorhanden ist, die sich nicht durch Belehrung und Aufklärung beseitigen ließe. Hervorgetreten ist eine tiefgehende Bewegung gegen das Gesetz bisher in keiner Weise, im Gegenteil konnte man aus der Haltung der sozialdemokratischen Abgeordneten deutlich herausmerken, daß sie mit einer weitverbreiteten, dem Reformgesetz günstigen Stimmung unter ihren Anhängern zu rechnen haben. Und wenn auch in der Gegenwart Unkenntnis und Mißtrauen überwiegen, es wird sich, wenn das Gesetz erst einige Jahre lang in Wirksamkeit gewesen ist, nach unserer festen Ueberzeugung auch in jetzt abgeneigten oder zweifelnden Kreisen die Erkenntnis von dem hohen Wert dieses Reformwerkes Bahn gebrochen haben. . ' Frks.J.
Berlin, 12. April. Heute nachmittag um 2 Uhr fand das mili. täusche Leichenbegängnis des Generalstabsarztes Dr. v. Lauer unter großer Beteiligung seitens der Generalität des Offizierskorps, der Sanitätsoffiziere, der Behörden und der Universität statt. Der Feier im Sterbehause wohnte Prinz Alexander bei. Im Aufträge des Kaisers folgte ein Generaladjutant, sowie Galawagen des Kaiserpaares, der Kaiserinnen Augusta und Friedrich und eine endlose Wagenreihe.
Luxemburg, 12. April. Der deutsche Kaiser hat dem Herzog von Nassau gestern folgendes Telegramm übersandt: Infolge der zu meinem Bedauern eingetretenen Verhinderung des Großherzogs, Sr. Majestät des Königs des Niederlande, sind Ew. Hoheit als nächster Agnat zu der einstweiligen Ausübung der Regierungsrechte >m Großherzogtum Luxemburg berufen worden. Indem ich zu Gott hoffe, daß die betrübende schwere Krankheit des Königs Großherzogs bald eine günstige Wendung nehmen und ihm die Uebernahms der Regierung wieder gestatten werde, ist es mir Bedürfnis, Ew. Hoheit meine freundschaftliche Gesinnung und den Wunsch auszusprechen, daß während der Regentschaft die jetzigen herzlichen Beziehungen zwischen meiner und der grobherzoglichen Regierung fortbestehen werden. Wilhelm. — Der König von Sachsen hat folgendes Telegramm gesandt: Heute, wo du thatfächlich den Dir gebührenden Platz einnimmst, erlaubst Du wohl einem treuen Freunde, Dir die herzlichsten Glückwünsche für Gegenwart und Zukunft darzubringen.
Ausland.
Brüssel, 11. April. Die Begegnung des deutschen Kaisers und des Königs der Belgier wird in den weitesten Kreisen des Landes mit sichtlicher Freude und Sympathie begrüßt. Man legt dem Besuch des deutschen Kaisers in Belgien eine große Bedeutung
bei. Er darf gerade in Antwerpen, zu dessen Blüte deutsche Intelligenz wesentlich beigetragen hat, auf den herzlichsten Empfang hoffen: Vlamländer unb Wallonen, wie die höchsten Behörden des Landes werden den deutschen Kaiser mit gleicher Wärme begrüßen. Durch die Begegnung mit dem Könige, dem treuen Freunde seiner Eltern, wird Kaiser Wilhelm die zwischen den beiden Herrscherhäusern bestehende Freundschaft erneuern und die von jeher zwischen Deutschland und Belgien herrschenden guten Beziehungen kräftigen. Selbstredend wird diese Begegnung in den französischen Kreisen Aerger Hervorrufen und die dortige Abneigung gegen den Vasallen Deutschlands verstärken, aber die Bedeutung des Ereignisses wird darunter nicht leiden.
London, 13. April. Reutermeldung aus Sidner>: Heute wurde aus Samoa den 2. April durch den Dampfer Lübeck die Nachricht überbracht, daß die Olga flott gemacht, daß sie nur leicht beschädigt sei und nach Sidney absegeln wird. „Nipsic" ist dagegen stark beschädigt, und zweifelhaft, ob derselbe nach Amerika werde zurückkehren können. Uebrigens herrsche auf Samoa vollständige Ruhe.
Gcrges-WöirigksiLen.
(:) Calw, 15. April. Am gestrigen Palmsonntag führte der Kirchengesangverein in der Stadtkirche zum Eintritt in die stille Woche eine Auswahl von Chören, Chorälen und Arien mit verbindenden Recitativen aus der Passionsmusik nach dem Evangelium Matthäi v. I. Seb. Bach auf. Eine großartige Schöpfung ist es, diese Darstellung des Leidens Christi in der Musik. Hineingestellt mitten in die damaligen Vorgänge, sieht sich der Zuhörer unmittelbar aufs tiefste berührt durch dis treffenden Charakterzeichnungen der einzelnen Personen. Unwillkürlich ergriffen von den ergreifenden und lebendigen Scenen läßt uns Bach einen Blick thun in das allerheiligste Leiden des Welterlösers. Mit erdrückender Wucht und wieder mit sanftem Klagen, Dulden und Aufleuchten gehen die Töne an uns vorüber und gestatten uns die erwachenden Gefühle im Geiste festzuhalten. — Der kleine Chor hatte sich eine große Aufgabe gestellt und gab sich auch alle Mühe, den an ihn gestellten Anforderungen gerecht zu werden: die Choräle erfreuten durch wohlgelungsne Auffassung und treue Anschmiegung an den Textinhalt. Ebenso boten die Solisten recht gute Leistungen. Frln. Federhaff aus Stuttgart sang mit bekanntem Vortrag die Sopran-, ebenso Frln. F. Staelin von hier einige Altsoli (darunter die schöne, tiefinnige Arie „Ach Golgatha"). Hr. Chr. Staig er aus Stuttgart hatte die an den Sänger die größte Anforderung stellende Partie des Evangelisten übernommen und mit Geschick durchgeführt. An Stelle des Hrn. Wurster, der nicht anwesend war, war in letzter Stunde der Direktor Hr. Fr. Gundert eingetreten, um die Baßsoli (Worte des Herrn) zu singen. Die Orgelbegleitung durch Hrn. Organist Vinyon und die Violinenbegleitung durch Hrn. Speidel und Schüler müssen ebenfalls anerkennend genannt werden. Im allgemeinen entbehrte die Aufführung einer gewissen Abrundung und Sicherheit, jedoch soll damit die bedeutende und Ohr und Herz erquickende Leistung nicht geschmälert werden, wie auch das Konzert einen zahlreicheren Besuch wohl verdient hätte.
ff Calw, 15. April. Das Wintersemester der gewerblichen Fortbildungsschule schloß am letzten Freitag mit der Verteilung von Diplomen, Preisen und Belobungen im Hörsaale des Georgenäums den Unterricht ab. Die Schule war von über 100 Schülern besucht, ein erfreulicher Beweis davon, daß wohl in immer weiteren Kreisen des Handwerkmanns die Ueberzeugung sich Bahn gebrochen hat, daß zu einer tüchtigen Ausbildung praktische und theoretische Kenntmsse Hand in Hand gehen müssen. Die Unterrichtsgegenstände waren Technisches- und Freihandzeichnen, Englisch, Französisch, Rechnen, Deutsch, Geometrie, Geschichte, Geographie und Buchführung. Der Schulvorstand Hr. Professor Haug und der Vorstand des
stehen und ich erinnere mich, daß es früher den Familienschmuck enthielt. Hat Lady Lynwood Dir die Brillanten zurückgegeben, oder sind sie noch in ihrem Besitz?" fügte er, zu seinem Onkel gewandt, hastig hinzu.
Sir Ralph mußte sich gewaltsam auftaffen, um antworten zu können.
„Ich habe den Schmuck seit dem Tage, als ich ihr denselben gab, nicht mehr gesehen."
„Dann," sagte Otto in unumstößlicher Ueberzeugung, „sind die Brillanten entweder gestohlen worden, oder sie hat sie selbst mitgenommen. Diese letztere Annahme ist die wahrscheinlichere und mit diesem Anhaltspunkt ist es besser, daß ich Dir eine Thatsache mitteile, die ich Dir so lange vorenthalten wollte, nämlich, daß Lionel Egerton gleichfalls aus Kings-Dene verschwunden ist und daß er und Lady Lynwood zuletzt zusammen gesehen wurden!"
Ein Stöhnen, das der Ausdruck eines grenzenlosen Schmerzes war, brach sich Bahn von den Lippen des Baronets und überwältigt, bedeckte er das Gesicht mit beiden Händen. Er versuchte es nicht, auch nur ein einziges Wort zur Verteidigung seiner Gattin zu sagen, ja, er wäre in diesem Augenblick nicht einmal im Stande gewesen, ihren Namen nur über seine Lippen zu bringen. Schien es doch, als stände ihm plötzlich das Gedächtnis still, so daß er sich nur den einen grausamen Satz wiederholen konnte:
„Lionel Egerton und Lady Lynwood wurden zuletzt zusammen gesehen!"
Kein Zweifel an der Wahrheit der von seinem Neffen angcdeuteten Beschuldigung tauchte in dem Baronet auf, trotz des Vertrauens, das er bisher in Adrienne's Reinheit gesetzt hatte; zur Gewißheit wurde ihm auf einmal Otto's unablässige Einflüsterungen, daß seine Frau ihn nicht liebe und daß sie nur unter dem Druck von Umständen, welchen zu widerstehen sie nicht stark genug gewesen war, einen Mann geheiratet habe, der alt genug war, um ihr Vater sein zu können.
„Onkel," rief Otto Lynwood endlich, aufspringend, aus und anscheinend in einem Tone heftiger Erregung, „sei stark, überwinde diesen Schlag, lasse Dich von ihm nicht unterdrücken. Wahrlich, Du wirst Dich doch nicht um eines WeibeS willen grämen?"
„Schweige!" rief Sir Ralph in gebieterisch strengem Tone. „Sage kein Wort weüer gegen sie! Was immer geschehen ist, — was immer geschehen mag, bedenke, daß sie meine Gattin ist!"
„Ich vergesse das nicht und aus diesem Grunde eben kann ich meine Entrüstung nicht unterdrücken. Glaubst Du, daß ich ohne Stolz auf unsere Familienehre, .auf unsem mackellosen Namen bin? Selbst Du kannst die Schmach nicht tiefer empfinden, als ich, über die Schande, die uns hiermit trifft!"
Er sprach, als wenn er von der Heftigkeit einer unbezähmbaren Aufregung völlig üb ermannt wäre; dennoch fiel es Dr. Seoport, der ein unbefangener Zuhörer war, auf, daß in seinem Benehmen etwas Gezwungenes und Theatralisches lag und daß sein Ton, wie der Arzt sich wenigstens einbildete, einen unwahren Klang hatte.
„Ist es denn schon über jede Möglichkeit eines Zweifels hinaus bewiesen, daß Lady Lynwood ihren Galten und ihr Heim wirklich verlassen hat?" fragte er.
Otto wandte sich überrascht zu ihm.
„Ich fürchte sehr, daß über diesen Punkt auch nicht der leiseste Zweifel obwalten kann. Es läßt sich die Thatsache wohl auf keine andere Weise erklären, da sie mich gleich nach unserem Eintreffen in Kings-Dene verlassen hat und bis jetzt da Mitternacht bereits vorüber, nicht wieder zum Vorschein gekommm ist. Wenn Sie eine wettere Bestätigung benötigen, so kann dieselbe vielleicht in der Aussage zweier Gartenarbeiter gefunden werden, welche bei Einbruch der Dunkelheit einen Wagen unwett des Parkthores von Kings-Dene bemerkten und zwei Personen in denselben einsteigen sahen, worauf der Wagen rasch die Straße nach dem Bahnhof davonfuhr. Es kann danach keine Frage mehr sein, wohin sich die Beiden gewandt haben; sie sind jetzt längst in London, wenn nicht etwa schon auf dem Wege nach dem Festlande. Lady Lynwood war offenbar auf die Flucht vorbereitet und hat deshalb den Familienschmuck mitgenommen, der ein bedeutendes Vermögen repräsentiert."
(Fortsetzung folgt.)