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gebildete Spalier wiederholt durchbrochen wurde. Bisher wurden 10 Personen, meist Damen, ohnmächtig. Auch mehrere schwere Unglüäsfälle sollen sich ereignet haben. Gegen halb 12 Uhr mußte ein Jägerbataillon ausrücken, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Die Menge konnte weder vorwärts noch rückwärts. Zu Füßen des offenen Sarges liegen auf Tabourets links die österreichischen und toskanischen, rechts die ausländischen Orden des Toten. Den Sarg schmückten lediglich die Kränze des Kaiserpaares, der Kronprinzessin und der Geschwister. Rechts vom Sarge liegen zu einem Berg aufgehäuft die sonstigen Blumenspenden, obenan der Riesenkranz Kaiser Wilhelms. Die Leiche sieht vollkommen unverändert aus. Die Wunde ist kaum wahrnehmbar der Kronprinz scheint zu schlummern.
Wien, 4. Febr. Ungezählte Tausende fanden heute Einlaß zur Besichtigung der Leiche des Kronprinzen. Ganze Arbeiterprozessionen wallten in den Abendstunden bei dichtem Schneefall, später bei Regen in die Hofburg um dort ungeachtet der vielleicht zu weitgehenden Strenge des zur Spalierbildunq aufgestellten Militärs stundenlang auszuharren, bis sie zur Kapelle gelangen konnten. Die Züge des Kronprinzen sind auch abends unverändert. Unausgesetzt treffen Kränze ein, deren Wid- mungen im Auftrag des Kaisers vom Burghauptmann ausgezeichnet werden. Auch aus dem deutschen Reiche sind viele Blumenspenden eingetroffen — Die Mitteilung, daß Erzherzog Carl Ludwig auf die Erbfolge nicht ver- ichtet hat, wird offiziell bestätigt. — Wiener Meldungen besagen, daß eim Andrang zur Leiche des Kronprinzen Rudolf zwei Personen getötet wurden. Die Zahl der Verletzten ist groß. Der Kronprinz hat nicht nur an die ihm zunächst stehenden Persönlichkeiten, sondern außerdem an verschiedene Kavaliere vor seinem Tode Abschiedsbriefe gerichtet. Auch der Jokeyklub hat einen solchen erhalten. Die Kronprinzessin Stephanie wird vorläufig Oesterreich nicht verlassen. Nach dem Begräbnis soll sie nach Abbazia zu reisen beabsichtigen.
— Das belgische Königspaar traf Samstag abends Kft /2 Uhr in Wien ein. In seiner Begleitung befand sich Prinz Balduin von Flandern. Zur Begrüßung hatten sich Prinz Philipp von Coburg mit Gemahlin eingefunden. Kurze Zeit vor Ankunft des Zuges fuhr der Kaiser vor dem Bahnhof vor. Der Kaiser trug die Marschalls-Galla-Uniform. Das Wiedersehen war ein sehr trauriges, die Monarchen rangen nach Fassung. Der Königin rannen unaufhaltsam Thränen über die Wangen.
— Die „Münchener N. Nachr.", welche den Tod und angeblichen Selbstmord der Baronesse Vecsera phantastisch ausschmückten, wurden hier polizeilich beschlagnahmt.
Wien, 5. Febr. I 0 kai teilt mit, daß auch die an das Kaiserpaar und die Kronprinzessin gerichteten Abschiedsbriefe des Kronprinzen keinen Ausschluß über die Beweggründe des Selbstmordes geben und dieselben auch nicht ahnen lassen. Jeder Zusammenhang zwischen dem Leben des Kronprinzen und seiner Thal fehle, nur an seine große Erregung erinnere man sich in der Umgebung des Kronprinzen.
Wien, 5. Febr. Als charakterisch für das Verhältnis des verstorbenen Kronprinzen Rudolf zu seiner Gemahlin, der Kronprinzessin, wird einem Correspondenten des Frkf. I. von zuverlässiger Seite der Umstand mitgeteilt, daß der Kronprinz sich im Laufe des vorigen Monats mit Umgehung des Kaisers und der diplomatischen Vertretung Oesterreich-Ungarns beim Vatikan direkt an Papst Leo gewandt habe, um e in e S ch e i d u n g s e in e r Ehe und dieErmächtigung zu einereventuellenWieder- verehelichung zu erlangen. Der Papst ließ das betreffende Schriftstück an den Kaiser gelangen und es kam zwischen diesem und dem Kronprinzen ob dieses unbegreiflichen Schrittes des letzteren zu einer sehr ernsten Auseinandersetzung. Seitdem war eine tiefgehende Verstimmung beim Kronprinzen bemerkbar.
Pest, 5. Febr. Jokai veröffentlicht im „Nemzet" folgendes Schreiben des Kronprinzen an Szoegyenyi: „Lieber Szoegyenyil Hier sende ich Ihnen das Codizill, verfügen Sie im Sinne desselben und meines vor zwei Jahren mit Einwilligung meiner Gemahlin verfaßten Testamentes. In meinem Arbeitskabinet in der Hofburg steht neben dem Sofa ein kleiner Tisch; mit dem hier beigeschlossenen goldenen Schlüssel öffnen Sie dessen Lade, darin finden Sie meine Schriften, mit deren Sichtung ich Sie betraue, es Ihrer Einsicht überlassend, welche Sie für die Oeffentlichkeit auswählen wollen. Ich muß aus dem Leben scheiden. Grüßen Sie in Namen alle meine guten Freunde und Bekannten. Leben Sie glücklich. Gott segne unser geliebtes Vaterland! Ihr Rudolf.
England.
London. 5. Febr. Einem Telegramm der „Times" aus Sansibar vom 4 d. Mts. zufolge stellten die deutschen Behörden vorläufig die Unter« Handlungen wegen Freilassung der gefangenen deutschen Missionare ein, da die Araber zu maßlose Bedingungen stellten. — Eine Anzahl Waseri-Araber umringten gestern abend den Palast des Sultans und protestierten gegen die Blockade.
Rußland.
Petersburg, 5. Febr. Das „Journal de St. Peters« bourg" begrüßt die Aeußerung der „Köln. Zeitung" über den Umschwung in der öffentlichen Meinung Rußlands zu Gunsten Deutschlands als einen Beweis des Wertes, den man deutscherseits der öffentlichen Meinung Rußlands beilege. Das Blatt wünscht, daß die deutsche Presse durch eine gemäßigtere Sprache die Aufgaben der Regierungen erleichtern und so zur Erhaltung der freundschaftlichen Beziehungen beitragen möge.
Amerika.
Washington, 5. Febr. Der deutsche Reichskanzler, Fürst Bismarck, schlug der Unionsregierung vor, daß die im Jahr 1887 in Washington st a t t g e s u n d e n e Konferenz in Berlin erneuert werde.
Hcrges-Weuigkeiten.
Tübingen, 3. Febr. Ein lediger Maurer von Lustnau, welcher gestern abend schon im Wirtshause mit einem verheirateten friedlichen Bürger Händel angestiftet hatte, lauerte demselben um die Mitternachtsstunde in Gemeinschaft mit seinem Vater auf der Straße auf. Der Angegriffene zog während des Streites sein Messer und versetzte dem Angreifer einen Stich ins Herz, welcher sofortigen Tod zur Folge hatte.
Lauterbach, 5. Febr. Am vergangenen Montag wurde der älteste Mann hiesiger Gemeinde, Dominikus Brugger, Bauer, zur Erde bestattet. Derselbe erreichte ein Alter von beinahe 94 Jahren und dürfte wohl der Aelteste im ganzen Bezirk gewesen sein. Er war bis auf die letzten 2 Jahrs recht rüstig und hatte noch in seinen letzten Tagen ein außerordentliches Gedächtnis. Mit Doktor und Apotheke machte er in seinem Leben nie Bekanntschaft, lebte sehr mäßig in jeder Beziehung, sowie streng religiös. Seiner Ehe sind 8 Kinder entsprossen, von denen noch 5 am Leben sind, das älteste ist 68 Jahre alt. Er hinterläßt 78 Enkel und die Zahl der Urenkel beziffert sich über hundert, von denen viele in Amerika leben.
Tuttlingen, 4. Febr. Ein höchst trauriger Fall, der einem braven jungen Mann das Leben gekostet hat, wird von dem „Gr.-B." berichtet. Vor etwa 14 Tagen wurde der 24jährige Heinrich Förster, Austräger des Gränz-Boten, bei Ausübung seines Berufs von einem Hunde gebissen. Vor 8 Tagen erkrankte er nach vorausgegangenem Frost heftig. Man hielt die Krankheit zuerst für Gesichtsrose. In der Folge zeigten sich alle Anzeigen von Blutvergiftung und starb der hoffnungsvolle junge Mann
Tuch um den Kopf gewunden, unter welchem einige silberweise Locken hervorquollen, die seltsam von der braunen Gesichtsfarbe und den kohlschwarzen Augen abstachen, welche prüfend über die Gesichter der Gesellschaft glitten und endlich auf Lionel Egerton's Zügen haften blieben.
Sie schaute ihn so durchdringend an, daß er sich zum Sprecher für die Anderen aufwarf und sie anredete.
„Können Sie uns wahrsagen?" fragte er in halb scherzendem Tone, näher auf sie zutretend.
Sie nahm die kurze Pfeife, aus der sie geraucht hatte, aus dem Munde und klopfte sie aus, ehe sie langsam entgegnete:
„Wahrsagen kann ich Euch wohl, aber ob es Euch Alle freuen wird, Eure Zukunft zu erfahren, das weiß ich nicht, Mr. Lionel Egerton."
Lionel war von dieser Antwort der Zigeunerin nicht wenig überrascht, denn er erinnerte sich nicht, sie jemals zuvor gesehen zu haben.
„Woher wissen sie meinen Namen?" fragte er sie verwundert.
„Das ist keineswegs verwunderlich," sagte sie leise lochend. „Sie tragen den Stempel Ihrer Herkunft in Ihren Zügen."
Egerton's Erstaunen wuchs. Ihre Sprache war gar sehr verschieden von dem, was er zu hören erwartet hatte, und ihr Ton hatte überdies eine gewisse verächtliche Gleichgültigkeit, wodurch er zeine Wirkung, wenn er auf eine solche berechnet war, keineswegs verfehlte.
„Es ist Rebekka, die alte Zigeunerin, welche vor vielen, vielen Jahren hier lebte und von der mir meine alte Amme Wundergeschichten erzählte," flüsterte Natalie; aber so leise sie auch sprach, hatte die alte Frau ihre Worte doch gehört.
„Ja, ich bin Rebekka. Sie haben wahrgesprochen," versetzte sie gleichsam als Antwort.
„Soll ich sie auffordern, Ihnen wahrzusagen?" fragte Otto die ältere Miß Lindsay.
„Nein, noch nicht. Sie sieht so unheimlich aus, daß sie mich sehr erschreckt hat," erwiederte das Mädchen, welches bleich geworden war.
„Wie kann man sich durch das Aussehen einer Zigeunerin erschrecken lassen!" lachte der junge Offizier. „Das wundert mich wirklich von Ihnen, Miß Lindsay; ich hätte doch gedacht, daß sie mehr Mut besäßen, als sich so leicht von einer Schwindlerin täuschen zu lassen."
„Nun, wenn Sie selbst so mutig sind, so lassen Sie sich doch von ihr wahrsagen!" erwiederte die junge Dame, etwas verletzt von seinem Spott.
Otto trat rasch auf die Zigeunerin zu.
„Kommen Sie, Mutter, lassen Sie mich Ihre Hand versilbern und sagen Sie mir dann, ob die Sterne meinen Hoffnungen günstig sind!" rief er aus, ihr ein Geldstück hinhaltend.
Die alte Frau schaute ihn fest an.
„Es wäre vielleicht besser, wenn Sie es nicht versuchen würden, die Geheimnisse der Sterne zu ergründen," bemerkte sie bedeutsam.
„Ich wünsche aber, daß Sie mir Alles enthüllen sollen, was Sie wissen," entgegnete er in spöttischem Tone, als wollte er damit seine Verachtung dafür bekunden, daß sie sich anmatzte, bereits Etwas wissen zu wollen, was doch noch im Schoße der Zukunft schlummerte.
Rebekka's Lippen verzogen sich gleichfalls zu einem höhnischen Lächeln; dann neigte sie sich ihm plötzlich zu und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr, die eine gewaltige Wirkung auf ihn haben mußten. Er wurde leichenblaß und zuckte, wie von dem Biß einer Natter getroffen, zusammen.
„Soll ich Ihnen noch mehr sagen oder sind Sie befriedigt, mein Herr?" fragte sie laut, sich offenbar an seiner Verwirrung weidend.
Nun. ich trage kein Verlangen danach, weiter von Ihnen getäuscht zu werden," antwortete er ärgerlich, warf ihr hastig ein Geldstück zu und zog sich zurück.
„Nun, Sie haben die Probe keineswegs glänzend bestanden," flüsterte ihm Miß Lindsay boshaft zu; aber er war zu sehr in Gedanken vertieft, um ihr Etwas zu erwiedern; ja, es war sogar sehr wahrscheinlich, daß er ihre Worte gar nicht gehört hatte.
(Fortsetzung folgt.)