81- Jahrgang.

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Jerrrsprecber: Wr. 29.

Jevnsprecher Wr. 29.

Auflage 2600.

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Mit dem Plauderstübchen und

Schwäb. Landwirt.

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Nagold, Montag den 15. April

1907

SLirnmrrngsötld aus dem Reichstage.

Im Reichstage nahm am Donnerstag die an den Etat für das Reichsamt des Innern geknüpfte allgemeine sozialpolitische Debatte einen äußerst anregenden Verlauf. Nachdem der Abgeordnete Raab den Standpunkt der Wirtschaftlichen Vereinigung dargelegt und Dr. Mugdan als Sprecher der Freisinnigen Volkspartei zur Abwechslung einmal nicht so sehr gegen die Sozialdemokratie wie gegen das Zentrum polemisiert hatte, ergriff unter allgemeiner Spannung zum erstenmal der Abgeordnete Dr. Naumann von der Frei­sinnigen Vereinigung das Wort.

Es ist sicherlich ein Genuß, ihn zu hören, auch für den, der mit dem Inhalt seiner Ausführungen nicht einverstanden ist. Er machte gleich anderen Abgeordneten vor ihm für die gegenwärtig in der Sozialpolitik herrschende Stagnation den Bundesrat verantwortlich, wollte aber im Gegensatz zu diesen dem Grafen Posadowsky keine.Ausnahmestellung zu­billigen, da es eine innere Angelegenheit des anderen gesetz­gebenden Faktors sei, wie er die Last der Schuld unter sich verteile. Daß sich aber der Staatssekretär in der Ver­gangenheit große Verdienste erworben hat, erkannte der Redner an; er erblickte sie in der Erweiterung der Grund­lagen der Arbeiterversicherung und der Einbeziehung neuer Kategorien in sie. Doch, so meinte er weiter, durch alle bisherigen Maßnahmen sei die Zentralfrage der ganzen Sozialpolitik noch nicht berührt worden, nämlich die Arbeits- Verfassung in der Großindustrie. Von der Sicherung des Koalitionsrechts müsse man fortschreiten bis zur Parlamen­tarisierung der Jndustrieverfassung. Wie es im Staate geschehen sei, müßten auch in der Industrie die Untertanen zu Bürgern werden. Heute betrachte die Regierung die Arbeiterorganisationen noch mit Mißtrauen, über kurz oder lang würden sie ihr als Hilfstruppe im Kamps gegen die Syndikate, im Kampf um die Macht zwischen Großindustrie und Staat willkommen sein. Mitte der neunziger Jahre sei die Regelung der Produktion noch als eine Unmöglichkeit, als ein Anschlag gegen die bestehende Gesellschaftsordnung bezeichnet worden, heute spreche die Regierung in ihrer Denkschrift über die Kartelle selbst davon.

Kaum war der lebhafte Beifall, den Herr Naumann links und im Zentrum erhalten, verklungen, da erhob sich Graf Posadowsky zur Erwiderung, und angeregt durch den Vorredner, sprach auch er viel lebhafter, als seine Gewohn­heit ist, ja sogar dem Humor gab er gelegentlich in seiner Antwort Raum. Der Staatssekretär nannte die interessanten Ausführungen Naumanns ein philosophisches Bild, dem er die Praxis des Lebens entgegenstellen wolle. Da nehmen sich die Dinge viel nüchterner aus, und Nlit nüchternem Sinne müsse man auch Sozialpolitik treiben. Damit sei es in Deutschland immer noch am besten bestellt. Die massen­haften Anträge, die im Reichstag eingebracht würden, seien nur em Hemmnis, denn man könne nur Schritt für Schritt vorwärts kommen. Im Anschluß an diese einleitenden Be­merkungen entwickelte dann Graf Posadowsky ein gesetz­geberisches Programm für die nächsten Sessionen, in dem

die.Regelung des Vereins- und Versammlungsrechts die erste Stelle einnahm. Als konservativer Politiker sage er, man könne große Strömungen im öffentlichen Leben nicht durch polizeiliche Maßnahmen aus der Welt schaffen, aber die Vereins- und Versammlungsfreiheit müsse eine Grenze habe«; es müßten Kautelen zur Aufrechterhaltung der Ord­nung gegeben sein, und Vereine, die verbrecherische Hand­lungen vorbereiten, seien unzulässig.

Es folgte noch eine anderthalbstündige Rede, die der Sozialdemokrat Hoch vor leeren Bänken hielt, und eine kurze Erwiderung des Staatssekretärs, dann vertagte das Haus die weitere Beratung auf Freitag. B. Lok.-A.

Parlamentarische Nachrichten.

Deutscher Reichstag.

Berlin, 11. April.

Etat-Beratung.

Raab (w. Vg.) Seine Freunde wünschten dringend eine baldige Zusammenlegung unserer gesamten sozialen Versicherungs ge setze. Sie wünschten die schleunige Schaffung von Arbeitskammern mit besonderen Abteilungen für Handlungsgehilfen, Ausbau des Arbeiterschutzes, u. A. Beschränkung der Arbeitszeit aus manchen Gebieten, Aus­dehnung der Sonntagsruhe, Förderung der Tarifverträge, eine Bestimmung zum Schutze der weiblichen Angestellten gegen unsittliche Angriffe und Zumutungen, allgemeine Durch­führung des Achtuhr-Ladenschlusses und Erledigung der Frage der Konkurrenzklausel. Der Redner erhebt weiter die gesamten Mittelstandsforderungen und verlangt eine Abwälzung der sozialpolitischen Lasten auf die leistungs­fähigen Schultern. Redner begründet weiter eine heute von seinen Parteifreunden eingebrachte Resolution Schack, die die verbündeten Regierungen ersucht, an den Bestrebungen für die Vereinheitlichung der deutschen Kurzschrift mitzu­wirken oder sie wenigstens zu fördern. Redner befürwortet weiter die soziale Fürsorge für Seeleute und Hafenarbeiter und behandelt das bekannte Vorgehen der Hamburger Reeder gegen den Verein der Kapitäne sowie die Hamburger Hafen­arbeiter-Aussperrung. Zum Schluß wendet sich Redner gegen die Konsumvereine und ihre sozialdemokratische Führerschaft.

Dr. Mugdan (frs. Vp.). Die Vorbedingung jeder Sozialreform sei freies Koalitionsrecht. Der mißbräuchlichen Erschwerung des Koalitionsrechtes der Arbeiter seitens der Arbeitgeber müsse unbedingt gesteuert werden. Alle nur erdenkliche Förderung verdienten die Tarifverträge. Aber so hoch ich auch diese Tarifverträge stelle, so dürfen doch auch die Mittel eines ausgiebigen Arbeiterschutzes nicht ver­nachlässigt werden. Nötig ist u. A. auch die Anzeigepflicht für die gewerblichen Vergiftungen. Gegen Tarifverträge sträubten sich leider die Groß-Industriellen immer noch. Das allgemeine Interesse verlange, daß man sie dazu zwinge.

Naumann (frs. Vg.) Ich stelle fest, daß ebenso wie in dem vorigen Reichstage eine große Anzahl sozialpolitischer Ausgaben eine feste Mehrheit findet. Es gibt so viele Ma­terien, die schon längst völlig reif sind zur gesetzgeberischen

Regelung. Ich erinnere da nur an das Vereins- und Ver­

sammlungsrecht. Um uns da endlich eine Vorlage zu wachen, brauche man sich ja nur das württembergische Veremsrecht zum Muster zu nehmen. Die heutige großkapitalistische Entwickelung in der Industrie, Bergwerken, Reederei usw. bringe es mit sich, daß das wirtschaftliche Grundrecht der Arbeiter, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, versagt. Das elementare Recht freier Organisation der Arbeiter muß ge­setzlich fixiert werden, sodaß strafbar ist, wer einem Arbeiter dieses Recht kürzt. Solange nicht diese Strafbarkeit statuiert ist, ist das Recht zur Koalition ein unfertiges. Wie man früher aus Staats-Untertanen Staatsbürger geschaffen hat, so gilt es jetzt, aus Industrie-Untertanen Industrie-Burger zu machen. Ich wiederhole: Vorhanden ist eine Majorität im Reichstage, die eine kräftige Sozialpolitik verlangt, was aber nicht vorhanden ist, das ist die Mitwirkung des an­deren Faktors, der Gesetzgebung.

Staatssekretär Posadowsky. Wenn ein Ausländer die Rede gehört hätte, die wir eben gehört haben, so könnte er zu der Schlußfolgerung kommen, daß Deutschland hinter anderen Staaten mit wesentlich liberaler Verfassung zuruck- stehe. Demgegenüber muß ich doch zwei Tatsachen betonen: In Frankreich ist man jetzt bemüht, die Einkommensteuer zu revidieren; in Deutschland dagegen ist die Progression der Einkommensteuer, die stärkere Heranziehung der großen Vermögen schon längst etwas selbstverständliches. Zweitens: In England will man jetzt die Jnvaliden-Pensionierung einführen. Man will ferner die Entvölkerung Schottlands vereiteln durch Ansiedelung von Kleinbauern. Wir haben das alles längst. Der Vorredner hat übrigens nur theo­retisch gesprochen und keine Vorschläge gemacht, wie im einzelnen vorgegangen werden soll. Gegenüber solchen theo­retischen Erörterungen handelt es sich für die Verbündeten Regierungen nur darum, Schritt für Schritt auf dem Wege der Gesetzgebung vorzugehen. Es ist oft geklagt worden, über das Tempo der sozialen Gesetzgebung. Aber woran liegt das? Daran, daß so außerordentlich viel sozialpoli­tische Forderungen gestellt werden, so viele Forderungen, die nicht auf einmal verdaut werden können. Der Staats­sekretär erklärt sodann, ein Bild geben zu wollen von all den Gesetzen, die in der nächsten und demnächstigen Ses­sion zu bewältigen seien. Er nannte unter anderem, Hilfskassen-Novelle, Arbeiter-Unterstützungswohnsitz, Haus­arbeit in der; Tabak-Industrie, desgleichen in der Spiel- waren-Jndustrie, der kleine Befähigungsnachweis im Hand­werk. Mit den Vorlagen hierüber sei er zu dreiviertel fertig. Er hoffe, daß die Vorlagen im nächsten Herbst eingebracht werden könnten. Weiter sei er beschäftigt mit der Ausarbeitung eines Gesetzes über das Vereins- und Ver­sammlungsrecht und zwar sei er jetzt der Ansicht, daß es praktischer sei, das Vereins- und Versammlungsrecht erst zu regeln vor demjenigen über die Berufsvereine. Das jetzige Vereins- und Versammlungsrecht habe sich tatsächlich über­lebt. Viele polizeilichen Vorschriften desselben seien nur geeignet, das Publikum zu ärgern. Er halte sich trotz aller Angriffe immer noch für einen konservativen Politiker. Zwei Gesichtspunkte müßten entscheidend bleiben. Bei dem Vereins-

Das Testament des Bankiers.

Kriminalroman von A. M. Barbour.

Autorisiert. Nachdruck verboten Haus Mainwaring.

In die Privatgeschäftszimmer des Newyorker Bank­hauses Mainwaring u. Co. drangen durch alle Ritzen und Spalten der herabgelassenen Fensterjalousien die sengenden Sonnenstrahlen eines schwülen Julinachmittags. Die dünnen Lichtpfeile verliehen den mit allem Luxus ausgestatteten, sanft abgetönten Räumen eine glühende Farbenpracht.

, In einem der Gemächer saßen vier Herren, von denen drei sich auf den ersten Blick als Engländer kennzeichneten, der vierte den Amerikaner verriet.

Letzter war ein Mann in mittleren Jahren von schlanker Gestalt und vertrauenerweckendem Gesicht mit durch­dringenden Augen, die auf Verstand und Scharfsinn deuteten. Er verhielt sich ziemlich schweigsam, hörte aber dem Ge­spräche um so aufmerksamer zu.

, Dieses wurde hauptsächlich von Hugh Mainwaring, dem Ches der Firma Mainwaring u. Co., geführt, der neben einem Schreibtische von Roscnholz saß, dessen peinliche Ord­nung auf eine gewisse Pedanterie des Besitzers schließen ließ. Anzug und Wesen des Bankiers zeigten den feinen Welt­mann. Er war eine große, kräftige Erscheinung mit dunklem graumeliertem, kurzgeschnittenem Haar. Das Gesicht war glatt rasiert, seine ziemlich blasse Farbe stach aber gegen

das frische Aussehen seiner drei Gesellschafter erheblich ab und machte die dunkelgrauen, kalten berechnenden Augen, die zuweilen einen stahlartigen Glanz annahmen, besonders auf­fällig. Wenn auch nicht uninteressant, war das Gesicht doch durch die auf ihm ausgeprägte Leidenschaftlichkeit und den Ausdruck von Eigenwillen und Härte nicht gerade angenehm.

Vor ihm, in nachlässig bequemer Haltung, halb hinge­streckt auf einer Chaiselongue und bedächtig eine feine Ha­vanna rauchend, lag Ralph Mainwaring, ein Vetter aus London, der Typus eines hochmütigen, egoistischen Geld­mannes. Obgleich seinem Vetter Hugh im Alter nur zwei Jahre nachstehend, sah er doch bedeutend jünger aus, da er etwas zur Korpulenz neigte und sein Haar sowie sein starker englischer Backenbart noch nicht mit Grau gemischt waren.

Den Kreis schließend, saß in einem großen Lehnstuhl, den er mit sichtlichem Behagen ausfüllte, William Main- Waring-Thornton, ein entfernter Verwandter der beiden Vettern, ebenfalls aus London. Er mochte anfangs der vierzig stehen und war ein Blondin von: reinsten Wasser, mit einem am Kinn geteilten weichen Backenbart, dessen seidige lange Spitzen' seitwärts gebürstet waren. Ganz im Gegensatz zu den eben Geschilderten bot er ein Bild des Frohsinns, der Gutmütigkeit und heiteren Laune und schaute aus seinen klaren Augen mit der Offenheit und Ehrlichkeit eines Kindes.

Die Mainwarings waren eine in England alteingesessene, reich begüterte, in mehrere Linien geteilte Familie. Hugh vertrat als einziger Erbe seines vor fünfundzwanzig Jahren verstorbenen Vaters die 'älteste Linie, harte aber bald nach

Uebernahme der Erbschaft das seit vielen Generationen der Linie zugehörige und mit Pietät erhaltene alte. Stammgut der Mainwarings, trotz alles Einspruches der Verwandtschaft, verkauft und war nach Amerika überfiedelt. Hier hatte er das Bankhaus gegründet und durch Spekulationen von phäno­menalem Erfolg sein Erbe zu einem immensen Reichtum vergrößert.

Der konservativere Ralph, der als Senior der nächst­älteren Linie über den Verkauf des Gutes am meisten auf­gebracht war, hatte gleichwohl, als ihm ein Sohn geboren wurde, in weit voraussehender Berechnung dem Vetter das freudige Ereignis mit der Bitte um Annahme einer Paten­stelle angezeigt und dann bei der Taufe dem neuen Stamm­halter den Namen Hugh gegeben. Die Verpflanzung dieses Namens auf den Zweig seiner Familie geschah in der Hoff­nung, daß der Vetter nie heiraten und einst sein Patenkind zu seinem Universalerben machen würde. Erfüllte sich der Wunsch, dann wollte er den altehrwürdigen Stammsitz der Mainwarings für sein Haus zurückerwerben und diesem da­mit neuen Glanz verleihen.

Jetzt, nach mehr als zwanzig Jahren, sollte sein un­ablässig verfolgter Plan in das erste Stadium der Verwirk­lichung treten. Vetter Hugh hatte aus Anlaß seines bevor­stehenden fünfzigsten Geburtstages und der damit fast gleich­zeitig zusammenfallenden Großjährigkeit von Ralphs Sohn eine Wiedereinigung mit seinen Verwandten herbeigeführt. Er hatte diese zur Feier seines Geburtstages eingeladen und dabei angezeigt, daß er gleichzeitig sein Patenkind, Hugh, feierlich zu seinem Erben einzusetzen beabsichtige.