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eine freie Körperbewegung und Verweilen außerhalb des Bettes oder eines bettähnlichen Sophas zu gestatten. — Die Kaiserin unternahm mit den Prinzesfinnen-Töchtern heute früh wieder einen Spazierritt.
Berlin, 11. Mai. Bei dem Kaiser war die Temperatur gestern abend 37,8, heute früh 37,4; derselbe fühlte sich ziemlich wohl, obwohl der Auswurf noch reichlich auftritt, und nimmt genügende Menge Nahrung zu sich. Seit lOV^ Uhr befindet sich der Kaiser auf dem Sopha des Arbeits- zimmers, in welchem er auch Gehversuche machte. Er durchschritt das Zimmer zweimal ohne Stütze und ohne sich ermüdet zu fühlen.
Frankreich.
P a r i s , 11. Mai. Bei der gestrigen Preisverteilung an die elsässisch- lothringischen schutzbefohlenen Kinder auf dem Trocadero hielt der Deputierte des Departements Seine införieure, Siegfried, eine Ansprache, in welcher er sagte: Der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland ist für beide Nationen ein Unglück gewesen, dessen Größe niemand ermessen kann; ihre Einigkeit hingegen würde für die beiden Völker Vorteile haben, deren Bedeutung nicht zu begreifen schwer wäre. Aus dem Kriege sind bedeutende Lasten entstanden, und wenn die Gegenwart düster ist, so scheint die Zukunft es noch mehr zu sein wegen der Konkurrenz Amerikas. Demnach ist zwischen Frankreich und Deutschland die einzige Ursache des Antagonismus Elsaß-Lothringen. Siegfried schloß seine Rede, indem er sagte: „Wenn die Jveen der Gerechtigkeit, welche er heute gegen jede Hoffnung ausdrücke, als Illusionen taxiert werden, so werde seine Sprache später verstanden werden, denn sie sei allein imstande, der Krise ein Ende zu machen, welche Europa durchmacht, und werde die Inschrift verwirklichen, welche sich auf dem Wilhelm IU. errichteten Monumente befindet: „Die Gerechtigkeit erzieht die Völker." — Boulanger ist heute morgen acht Uhr, begleitet von dem Deputierten Laguerre, dem Grafen Dillon und und dem Direktor der „Lanterne", Mayer, nach Dünkirchen ab gereist. Starke Polizeimannschaften waren am Nordbahnhof aufgestellt, um Ruhe- störungen vorzubeugen. Etwa 200 Personen waren versammelt, welche den General mit Zurufen begrüßten.
Tcrges-Weuigkeilerr.
Herrenberg, 10. Mai. Letzten Sonntag wurde in der Nähe von Oberndorf in einem Steinbruche ein 8 Jahre alter Knabe mit einer Wunde im Kopf bewußtlos aufgefunden und starb bald darauf. Dem „Neuen Tagbl." zufolge soll die gerichtliche Untersuchung ergeben haben, daß ein 9jähriger Schulkamerad das unglückliche Kind auf die grausamste Weise ermordet hat, um sich dessen neue Stiefel anzueignen. Das genannte Blatt berichtet: „Der jugendliche Mörder, der ein volles Geständnis abgelegt hat, lockte sein Opfer vor das Dorf hinaus, schlug es in der Nähe des Steinbruchs mit einem schweren Stein zu Boden und suchte den ohnmächtig Gewordenen in einem Wassergraben zu ertränken. Da ihm dies nicht gelang, zerrte er den Knaben in den Steinbruch, wo er so lange mit einem Hebeisen auf ihn einschlug, bis er glaubte, daß er tot sei. Alsdann zog er ihm die neuen Stiefel aus, zog diese selbst an und ging ins Dorf zurück. Als abends der Knabe nicht heim kam und von seinen Angehörigen gesucht wurde, fragte man zunächst den Mörder, weil beide miteinander gesehen worden waren. Derselbe wollte aber von nichts wissen. In der Nähe des Steinbruchs vernahmen dann die Suchenden ein leises Stöhnen, auf das sie zugingen, worauf sie den Knaben in einem jämmerlichen Zustande fanden. Während der Vater sein Kind auf den Armen heimtrug, verschied es."
Stuttgart, 8. Mai. (Landgericht.) Wegen Uebertretung der Verordnung über die Aufbewahrung von Sprengstoffen (§ 367, 5 R.-G.-B-) standen gestern vormittag Werkmeister Hönes hier und fern ehemaliger erster Arbeiter, quasi Geschäftsführer beim Sprenggeschäft, vor der ersten Strafkammer. Durch einen nächtlich ohne Laterne daherfahrenden Lastwagen auf der Heslacher Straße, welcher Dynamit enthielt, war man zur Verfolgung und Untersuchung des Wagens geschritten und so zufällig dahinter gekommen,
daß Höhnes mit dieser Sendung Sprengstoff im ganzen 3^ Zentner Vorrat habe, während nur 2 Zentner höchstens aufzubewahren erlaubt ist. Hönes giebt zu seiner Entschuldigung an, daß er. der seine Sprenggeschäfte für Legung der Wasserleitung am Pfaffensee pünktlich ausführen müsse, auch pünktliche, regelmäßige Lieferungen Sprengstoff bestellen müsse. So kommen dieselben ohne sein jedesmaliges Zuthun an; mehr wie zwei Zentner, die erlaubt sind, bestelle er aber nicht. Uebrigens habe man gar nicht weit von hier, in Kaltenthal, viel größere Mengen Dynamit vorrätig als 3 Vs Zentner, ohne daß es je Anstände gegeben habe. Was dem einen recht sei, müsse dem andern ebenfalls gestattet sein. — Der Bohrarbeiter gab an, daß, infolge des Unglücksfalles beim Sprengen um Neujahr, die Arbeiter einige Zeit aussetzten und dadurch der Vorrat größer geworden sei, was Höhnes nicht voraus wissen konnte. Staats-Anwalt Tscherning beantragte drei Monate Gefängnisstrafe ; die Vertreter der Angeklagten, Payer und Schmal, baten um Freisprechung. Das Gericht beriet eins halbe Stunde, verschob aber darauf die Urteilsverkündigung auf nächsten Montag, vormittags 8>/z Uhr.
Stuttgart, 11. Mai. Am letzten Dienstag nachmittag, etwa um 4 Uhr ist im Krähenwald ein Brand ausgebrochen, durch welchen eine Fläche von ca. 3 Morgen mit Gebüsch bewachsen, beschädigt wurde. Dieser Brand wurde durch einen Feldwächter und mehrere Personen, welche in der Nähe gearbeitet haben, gelöscht. Die Urheber dieses Brandes sind 2 Lehrlinge, im Alter von 16 Jahren, welche dasselbst Cigarren rauchten und aus Unvorsichtigkeit den Brand verursacht haben wollen.
Stuttgart, 14. Mai. Bis heute sind weitere 8165 (insgesamt nunmehr 142,267 ^/L) aus Stadt und Land für die Ueberschwemmten in Norddeutschland bei dem Bankhause E. Hummel u. Co. (Württ. Zentralsammelstelle hier eingegangen und als neunte Rate: 15,000 ^ (zusammen nunmehr 140,000 ^L) an die Zentralstelle in Berlin überwiesen worden.
Solitude, 11. Mai. Am gestrigen Himmelfahrtsfeste hatte sich unsere Solitude einer außerordentlich starken Besuchsfrequenz zu erfreuen. Wahre Flutwellen von Menschen wogten den ganzen Tag über, ab und zu, hierher. Forstwächter Renz, der älteste hier ansässige Bewohner, versichert, daß er während 45 Jahren, die er auf Solitude erlebt, noch nie eine solche Menschenmasse da gesehen habe. Aber es lohnt sich auch wirklich für einen Naturfreund, einen Ausflug hierher zu machen, um sich an dem Anblick der manigfaltigen Naturschönheiten zu erfreuen. Prachtvoll entfaltete sich jetzt überall das noch saftige und zarte, hellgrüne Blätterwerk in unseren Laubwaldungen. Die Buchen haben einen üppigen Blütenansatz und versprechen ein reichliches Fruchterträgnis an Bucheckern (Heuer haben wir nämlich ein sogenanntes Buchelesjahr.) Auch die Tannen zeigen sich schon in wunderschöner Blütenpracht und sind die Ast- und Zweigspitzen mit zahllosen, noch im Werden begriffenen Tannenzäpfchen behängen.
Fellbach, 11. Mai. Auch hier herrscht unter der Hübnerwelt die Cholera so bedeutend, daß ganze Ställe mit 15 bis 20 Stück geleert sind und daher bei den Hausfrauen allgemeine Betrübnis eingekehrt ist
Freudenthal, 11. Mai. Gestern abend kam die Post von Bietigheim, von einem Passagier geführt, hier an. Der Postknecht war nämlich nicht weit von Bietigheim vom Postwagen gefallen. Der betreffende Passagier hob nun den Postillon in den Postwagen und fuhr zur hiesigen Station. Der Postwagen ging über den Postillon, doch wurde derselbe zum Glücke nicht schwer verletzt.
Heidenheim, 10. Mai. Einem jungen Kaufmann aus der Fabrik Plouquet hier gelang es gestern, einen 4jährigen Knaben, der in die Brenz gefallen war und an einer tiefen reißenden Stelle dahintrieb, zu retten. Eine Frau, die vor ihm das Rettungswerk vollbringen wollte, kam selbst in Gefahr und hatte Mühe, das Land wieder zu gewinnen. — Der Werkmeisterverein von Geißlingen besuchte heute den hiesigen. In stattlichen Wagen kamen etwa 30 Herren über die Alb gefahren. — Von mächtiger Wirkung waren heute in aller Frühe die von mehr als 200 Sängern (sämtlichen 4 Gesangvereinen hier) vom Schloßberg herab vorgetragenen 3 Chöre, die von der städtischen Musik begleitet wurden.
Biberach, 10. Mai. Ein auf dem hiesigen Bahnhöfe seit mehreren
„Ah, richtig! Ihr Posten hier im Hause ist auch wohl nicht der leichteste. Wie geht es denn Ihrer armen jungen Dame? Sie soll ja schwer leidend sein?"
Und damit machte er eine bezeichnende Bewegung nach der Stirn. Die Dienerin nickte.
„Sie hat uns heute den ganzen Tag hindurch recht sehr gequält. Man will ihre Familie nicht zu ihr lassen, selbst ihren Vater nicht; das nimmt sie sich außerordentlich zu Herzen."
In diesem Augenblick erscholl vom Hause her der wiederholte Ruf nach Hanna.
„Ich muß fort!" rief das junge Mädchen hastig. „Bis morgen, adieu, Herr Sanders."
Der junge Gärtner sah ihr. nach, bis die umfangreiche Gestalt der Haushälterin Smith, welche an ihn herantrat, ihn in die Wirklichkeit zurückrief.
„Junger Mann," sprach sie, „ich möchte Sie auffordern, einen Gang für mich zu machen; tragen Sie doch, so rasch es angeht, diese Briefe auf die Post. Sie sind vergessen worden und wenn Sie rasch gehen, so kommen dieselben noch rechtzeitig."
„Ich will die ganze Strecke laufen!"
„Gut; wenn Sie zurückkehren, sollen Sie auch ein ordentliches Nachtmahl bekommen."
„Ich danke vielmals, doch habe ich bereits versprochen, bei Frau Fuchs zu Nacht zu essen. Lassen Sie mich nur rasch Ihre Briefe besorgen."
„Das ist ein netter, junger Mensch!" sagte sich Frau Smith, dem Davoneilenden nachblickend. „Der alte Gärtner hätte eine fürchterliche Geschichte daraus gemacht, den Weg bis ins Dorf zurückzulegen." Dann kehrte sie in das Haus zurück und verschloß die Thür sorgfältig, denn es war inzwischen finster geworden und der Abend war kalt und unfreundlich.
Als Mary in ihr Zimmer zurückgekehrt war, sank sie auf einen Stuhl nieder und verhüllte das Antlitz mit beiden Händen.
„Es wird mich tödten, dieses Leben!" stöhnte sie dumpf.
Seit Mary in dem einsamen Landhause weilte, war sie immer verfallener und bleicher geworden. Sie sah wie eine schöne Statue aus, wie ein Geschöpf, dessen Leben zu den Dingen der Vergangenheit gehört, sie, die vor so kurzer Zeit noch auf der Schwelle irdischer Glückseligkeit zu stehen schien.
VI.
Mechanisch hatte Mary den Thee zu sich genommen, welchen Hanna ihr bereitet, dann saß sie wieder regungslos da und starrte vor sich hin.
Hanna beobachtete sie unausgesetzt, ratlos, wie sie ihre junge Gebieterin aus der Lethargie aufrütteln konnte, in welche diese immer mehr zu verfallen schien. Endlich, als sie bereits im Begriff stand, das Zimmer zu verlassen, sprach Mary mit dem Ausdruck tiefster Melancholie in dem schönen, bleichen Antlitz:
„Hanna, die Wünsche von Sterbenden pflegt man immer zu erfüllen. Ich möchte meinen Schwestern, meinem Bruder und dem Grafen von Westland Abschiedsbriefe schreiben für den Fall, daß ich sie nimmer Wiedersehen sollte. Wenn ich stürbe würden Sie dafür Sorge tragen, daß ihnen meine Briefe richtig zukämen?"
„Gewiß, Fräulein, das gelobe ich," versicherte Hanna unter Thränen.
„Geben Sie mir ein heiliges Versprechen, leisten Sie mir einen Schwur, wie einex Sterbenden gegenüber!" sprach Mary, indem sie sich erhob. Das erschreckte Mädchen gehorchte zitternd.
„Sie haben mir das Herz erleichtert," sprach Mary nach einer Pause mit einem tiefen Seufzer. „Ich werde die Briefe heute abend noch schreiben!"
Hanna erschrak über den Emst, mit welchem das junge Mädchen sprach; sie wagte es auch, sie zu bitten, das doch bis morgen aufzuschieben, und um ihre junge Gebieterin auf andere Gedanken zu lenken, erzählte sie ihr, daß im Laufe des Tages ein Koffer angekommen sei, welcher Kleider und andere Effekten für Mary enthalte.
(Fortsetzung folgt.)