Aro. 136
62. Jahrgang
Amts- unä Intelkigenzbkatt für clen liezirir.
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Wochenschau.
Depeschen.
LO. Nach wie vor werden die Tagesereignisse zurückgedrängt von den Nachrichten, die von der Küste des ligurischen Meeres zu uns dringen — die Herzen aller Deutschen sind nievergebeugt von den Hiobsbotschaften, die uns der Draht aus San Remo übeibnngt und die so wenig Hoffnung auf eine Genesung unseres Kronprinzen übrig lassen. Und dennoch kann und darf man nicht die Zuversicht ausgeben, daß die unheilvolle Katastrophe, welche das Leben unseres Kronprinzen bedroht, so lange als möglich aufge- halten, ja daß es der Kunst der Aerzte und der starken Natur des hohen Patienten, an dessen tragischem Geschick die ganze Welt den innigsten Anteil nimmt, gelingen werde, der schleichenden Krankheit Herr zu werden! Schwer fällt es dem gewissenhaften Chroniqaeur, seine Aufmerksamkeit den Tagesereignissen zuzuwenden, von welchen besonders der Besuch des Zaren in der deutschen Reichshauptstadt im Vordergrund des Interesses steht. Wenn es auch, wie von allen Seiten zugestanden wird, ein einfacher Höflichkeitsakt ist, den der Zar gewissermaßen gezwungen unternimmt, und wenn auch der Reichskanzler nur, einem kaiserlichen „Befehl" folgend, der Zusammenkunft beiwohnt, so wird man sich doch kaum wohl der Ueberzeugung verschließen können, daß in unseren Beziehungen zur russischen Regierung ein Umschwung eintritt. — Die Sympatiebezeugungen, welche uns anläßlich der Krankheit unseres Kronprinzen aus Oesterreich-Ungarn entgegengebracht werden und die sowohl im Schoße der ungarischen wie österreichischen Delegation einen so beredten Ausdruck fanden, berühren aufs wohllhuurdste, zumal sie zeigen, wie eng verbunden die Interessen beider Länder und Völker sind. — In Italien wurde das Parlament durch eine Thronrede des Königs eröffnet. — In Frankreich werden die Verwicklungen immer ernster. Die Präsi- dentschaftskrifis — wenn nicht Schlimmeres — steht vor der Thür und sowohl Radikale wie Royalisten rüsten sich, die Erbschaft anzutreten. — In London wird für den nächsten Sonntag, an welchem Tage die „Beschäf. tigungslosen" trotz des Verbots sich wieder auf dem Trafalgar Square versammeln wollen, eine Wiederholung der Aufruhrszenen vom letzten Sonntag befürchtet. — Dagegen sind die befürchteten Unruhen, welche anläßlich der Hinrichtung und des Begräbnisses der Chicagoer Anarchisten in verschiedenen Städten der Union zum Ausbruch kommen sollten, unterblieben. Man hat sich darauf beschränkt, durch harmlose Umzüge zu demonstrieren, während Johann Most eine seiner verbrauchten Brandreden vom Stapel ließ.
Berlin, 17. Nov. (11.50.) Nach den neuesten hier eingetroffenen Meldungen aus San Remo ist die O e d e m - S ch w e ll u n g im Halse unseres Kronprinzen durch den stattgehabten Ausfluß nunmehr ganz verschwunden, so daß gegenwärtig ein Anlaß zu Besorgnissen wegen Beschwerden im Atmen oder Schlucken nicht vorhanden ist; auch die anderen lokalen Teile des Halses sind nach einem Telegramm des „Berl. Tagbl." relativ befriedigend, weshalb vorderhand keine Befürchtung gehegt wird, daß die Tracheotomie notwendig werden sollte. (Frkf. I.)
San Hl emo, 18. Mov. (Dep. d. Calwer Wochenblattes.) Der Zustand des Kronprinzen verschlimmert sich. Die Diagnose stellte Weich- krebs fest. Wqch Ansicht der Aerzte ist die Gefahr eminent.
Berlin, 17. Nov. (1.30.) Die Ankunft desrussifchenKaiser- paares ist jetzt definitiv auf morgen Vormittag 10 '/z Uhr festges e.tz t. Am Bahnhof sind sämtliche preußische Prinzen und Prinzessinnen und andere Fürstlichkeiten, die Generäle des Ehrendienstes, die Flügeladjutanten rc. anwesend. Im Falle Kaiser Wilhelm, dem dringenden Wunsche Kaiser Alexanders folgend, nicht am Bahnhofe erscheint, macht Höchstderselbe dem Kaiser Alexander im Palais der russischen Botschaft sofort nach Ankunft einen Besuch. (Frkf. I.)
Gcrges-Werrigkeiterr.
* Stammhei m. Als in den letzten Tagen die traurige Kunde sich verbreitete, Hr. Wundarzt Sattler weile nicht mehr unter den Lebenden, da bemächtigte sich ein Gefühl tiefster Wehmut und wahrer herzlicher Trauer unser aller Herzen. Erkannte doch jedes dankbare Menschenherz den unersetzlichen Verlust, die große Lücke, die durch seinen Hingang entstanden im häuslichen wie öffentlichen Gemeindeleben, in richtiger Weise und nicht ohne Bangen für die Zukunft an. Volle 45 Jahre sind es, daß dieser ehrenwerte Mitbürger und treuer Gesinnungsgenosse in und außer seinem Berufe sich in einem Umfange thätig zeigte, wie man solches nur selten finden dürfte. Denn nicht blos Stammheim kann Zeugnis abgeben von dieses edlen Mannes treuester Berufsersüllung, von seinem großen Interesse für jedes staats- und gemeindebürgerliche Wohl, von seinem lebendigen Trieb, den Armen, Schwachen und Kranken ein rettender Bote zu sein, sondern auch anderwärts weiß man zu erzählen von seinem aufopfernden Lcebesdiensteifer, von seiner selbstlosen
Feuilleton. «Nachdruck verboten.!
Am Rang und Reichtum.
Dem Englischen frei nacherzählt von Leo Sonntag.
(Fortsetzung.)
Der Kleine sann einen Augenblick nach:
„Würden wir auch Tante Pattie manchmal sehen?" fragte er dann.
„Vielleicht! Zuweilen!"
„Und die schöne Dame, Lady Ellerton? Würden wir die auch sehen?
Ein dumpfer Schrei entrang sich den Lippen des gequälten Mannes.
„Nein", rief er, „wir würden sie nie sehen! Niemals, mein kleiner Junge!"
„Dann gehe ich nicht mit", versetzte der Kleine ganz bestimmt.
„Aber Du würdest so glücklich bei mir sein, Hans, und Alles haben was Du nur wünschen könntest und dann würdest Du die schöne Dame bald vergessen."
„O nein, die vergesse ich nie, sie ist so schön und so gut und küßt mich immer, wenn sie kommt. Nein, nein, ich gehe nicht von hier weg!"
„Also hast Du sie lieber als mich?"
Das Kind hörte nicht den herzzerbrechenden Ton des Schmerzes in der Stimme des Mannes.
„Ja", entgegnete es unschuldig, „ich habe sie lieber".
Diese Worte aus dem Munde des eigenen Sohnes machten das Maß des Leidens voll; selbst das Kind verließ ihn um des schönen Weibes Willen, des treulosen Weibes, das Vater und Sohn verleugnet, und das ihn, den einsamen Mann, jetzt auch noch um die Liebe des Kindes betrog. Das aber war zu viel für den körperlich und geistig Erschöpften, dessen früher so kräftige Gesundheit das Jahre lange rastlose Umherwandern, die kummervollen, schlaflosen Nächte und der Widerwille gegen Speise und Trank untergraben hatten. Mit einem dumpfen, qualvollen Stöhnen setzte er den Knaben in das weiche Moos und erhob sich schwerfällig, um tiefer in das Buschwerk des Waldes hineinzuwanken. Doch nur wenige Schritte hatte er ge
macht, da brach er lautlos zusammen und zwischen den dünnen farblosen Lippen quoll ein feiner Strom von Blut hervor und färbte das frische Grün der Blätter purpurn. Erschrocken war Hans aufgesprungen und zu dem Gestürzten hingeeilt, der indessen der momentanen Anwandlung von Ohnmacht schon insoweit Herr geworden war, daß er sich halb aufrichten konnte, um die Blutung zu stillen. Dies aber wollte nicht so rasch gelingen, schon war das Tuch durch und durch mit Blut getränkt und noch immer entfloß der Lebensstrom unaufhaltsam den bleichen Lippen.
„Hans", bat Robert mit schwacher Stimme, „neige Dich über mich und sage nur ein einziges Mal „lieber Vater" zu mir!"
„Mein lieber Vater!" wiederholte das geängstigte Kind, und ein friedliches Lächeln erhellte das Gesicht des Leidenden.
„Und jetzt Hans, mein Sohn, mein Liebling, lauf rasch nach Hause zu Chiltern, sage ihm, daß ich krank hier im Walde liege und bringe ihn zu mir hierher!"
Der Knabe eilte fort und Robert blieb allein. Wäre ihm sofort Hilfe zu Teil geworden, so hätte sein Leben vielleicht gerettet werden können, so aber lag er allein und hilflos, unfähig sich zu erheben, unfähig das Blut zu stillen, das noch immer dahinströmte. Ein brennender Durst quälte ihn und oft fühlte er sich ain Rande einer Ohnmacht, allein das Bewußtsein verließ ihn nicht, und so konnte er sich nicht verhehlen, daß mit jeder Minute, in welcher die Hilfe ausblieb, sein baldiges Ende zu sicherer Gewißheit wurde. Er sollte also sterben, wie er gelebt hatte — allein. Er sah auf zu dem wolkenlos blauen Himmel und fragte sich, warum er so hacke leiden müssen, und der nahe Tod erschien ihm als Erlösung für sich und für sie, die er noch immer mit voller Innigkeit liebte. Nur eins that ihm weh' — er durfte sie nicht bitten lassen, zu ihm zu kommen, das hätte Verdacht erregen können, und er hätte sie doch so gem noch ein Mal, zum letzten Mal gesehen, um ihr zu sagen, daß er ihr von ganzem Herzen vergeben.
Eine wahre Unendlichkeit schien ihm vergangen und noch immer war Niemand zu seinem Beistand erschienen. Doch jetzt — waren das nicht menschliche Laute, waren das nicht die Stimmen von Hans und Chiltern!
„Hier ist er!" rief im nächsten Augenblick der Knabe, und Robert sah sich sofort von mitleidigen Menschen umringt, die ihn sachte und behutsam auf eine mit-