ner gaben die von den Reisenden erhaltenen Fahr- > karten oder Fahrscheinhefte nicht ab, sondern ver­werteten sie noch einmal. Hierzu eigneten sich be­sonders die Rückfahrtkarten wegen ihrer mehrtägigen Gültigkeitsdauer. Die Rückfahrtkarten wurden bei der Rückfahrt meistens nicht durchlocht. Die Karten konnten alsdann für die Rückfahrtstrecke, ohne daß eine Entdeckung zu befürchten war, mährend ihrer Gültigkeitsdauer noch einmal benutzt werden. Es wurden aber in einzelnen Fällen auch bereits zur Rückfahrt durchlochte Karten von den Schaffnern vertrieben. Auch ohne jeden Fahrschein wurden Reisende gegen Bezahlung kleiner Geldbeträge von Schaffnern zur Fahrt zugelassen. Ferner wurde ermittelt, daß eine große Anzahl Viehhändler auf ein Fahrscheinheft mehrere Hin- und Rückfahrten ausführten, weil die Schaffner die Hefte nicht durch­lochten und die Blätter nicht aus den Heften heraus­rissen. Einer Entdeckung wurde bei etwaiger Re­vision dadurch vorgebeugt, daß die Schaffner die Hefte bei Beginn der Fahrt den Viehhändlern abnahmen und erst vor dem Aussteigen zurückgaben. Dafür daß die Schaffner die Scheine nicht durchlochten, wodurch eine nochmalige Fahrt auf dieselben ermög­licht wurde, erhielten die Schaffner jedesmal mehrere Mark. Die angeklagten Schaffner sind fast sämtlich in Hamburg, die Viehhändler in Essen, Mülheim a. d. R. und Umgebung wohnhaft.

Hamburg, 15. Dez. Vor dem Landgericht begann der Massenprozeß gegen Eisenbahnschaffner und Viehhändler wegen Schädigung der Bahnver­waltung durch Fahrkarten-Unterschlagnng. Ange­klagt sind insgesamt 51 Personen. Die Zahl der den Angeklagten zur Last gelegten strafbaren Hand­lungen beträgt 301 einzelne Fälle. Die Verhand­lung dürste drei Tage beanspruchen.

Eine harte Schlacht ist im deutschen Reichs­tage geschlagen und das Parlament nunmehr in die Weihnachtsferien gegangen. Zum Beginn der Woche hatte sich der Reichstag mit kleinen Sachen be­schäftigt, auch den lebhaften und diesmal einmütigen Wunsch nach einer Reform der Alters- und Invali­denversicherung zum Ausdruck gebracht. Alsdann wurde zur entscheidenden Beratung der neuen Handels­verträge mit Rumänien, Serbien und Spanien über­gegangen. Die Verträge sind in der mit der Spe­zialberatung beauftragten Reichstagskommission an­genommen, aber man wußte, daß die Gegner der­selben noch einen gewaltigen Angriff planten, um das Zustandekommen des rumänischen Vertrages, welcher diesem Lande den ermäßigten deutschen Ge­treidezoll auf zwölf Jahre sichert, zu verhindern. Und es war ein sehr hartes Streiten, die Vertreter von Kreisen mit starker landwirtschaftlicher Bevöl­kerung traien unbedingt gegen den Vertrag ein, während vom Bundesratstische und den Freunden der Vorlage wieder und wieder betont wurde, daß die Ablehnung des Vertrages der Landwirtschaft wenig nützen, der deutschen Industrie aber ein kost­bares Absatzgebiet gänzlich entreißen würde. Wie der Gang der Debatte lehrte, war trotz aller Reden eine Vereinbarung unmöglich, Prinzip stand hier gegen Prinzip, auf beiden Seiten wich und wankte man nicht. Nun, die Situation war doch recht ernst, und auch nachdem der Reichskanzler selbst noch ein­mal mit allem Nachdruck für die Vorlage gespro­chen, war es recht ungewiß, wie am Ende der Ausgang sein werde. Der Vertrag ist angenommen, die anderen landespolitischen Uebereinkommen gleich­falls, und der Reichstag hat ruhig nach Hause gehen können. Man sagt, im Falle der Ablehnung hätte der Reichstag aufgelöst werden sollen. Wenn auch wohl die Dinge nicht gleich soweit gediehen wären, das steht fest: der Bruch zwischen der Reichsregie­rung und der konservativen Partei wäre nunmehr unheilbar geworden.

Deutscher Reichstag. (Donnerstagssitzung.) Ter (Gesetzentwurf, betr. die Gleichstellung der Invaliden vor 1870 mit den Invaliden von 1870 71 wird de­finitiv angenommen. Das Haus beginnt alsdann die zweite Beratung des neuen Handelsvertrages mit Spanien. Dem Abgeordneten Bürklin (natlib.), welcher über die Schädigung des deutschen Weinbaues durch die fremden Handelsverträge klagt, erwidert Staatssekre­tär von Bötticher, daß man in dieser Richtung doch erst genaue Resultate abwarten müsse. Abg. v. Man­teuf fel ikons.) bekämpft die neue Wirtschaftspolitik und meint, der Reichskanzler könne viel mehr zu Gunsten der deutschen Landwirtschaft thun, als heute geschehe. Ter i, Mk. Zoll sei für die Landwirtschaft, die doch die Haupt- laß der militärischen Rüstung Deutschlands zu tragen habe, nötig. !>!> pEt. aller deutschen Landwirte teilten diese An­

sicht. Reichskanzler Graf Caprivi erwidert, er habe vor ! den neuen Handelsverträgen mit hervorragenden Land­wirten Rücksprache genommen, die ihm bestätigt hätten, ein dauernder Zoll von W . Mark genüge. Tie Regierung thue für die Landwirtschaft, was sie könne, aber sie könne doch nicht gegen ihre eigens Ueberzeugung handeln, und müsse mit einer Majorität, wie sie sich hier finde, durch­setzen, was sie für recht halte. Die Bewegung des Bundes der Landwirte sei durchaus unkonservativ und führe zu nichts gutem. Eine Aenderung in der Währung könne ohne Englands Vorgehen nicht eintreten. Abg. Graf Limburg (kons.) erklärt, er könne die Autorität des Bun­desratstisches nicht in allen Dingen anerkennen, wie das früher wohl der Fall gewesen. Die Vertrüge mit Spanien werden genehmigt.

Berlin, 15. Dez. DieNordd. Allg. Ztg." bestätigt, daß der Kaiser den Grasen Caprivi und Herrn v. Marschall nach Annahme des rumänischen Handelsvertrages telegraphisch beglückwünscht habe und fügt hinzu, der Kaiser habe gleichzeitig seine Genugthuung über die geschickte Verteidigung der Handelsverträge von seiten des Regierungstisches ausgesprochen.

350 Millionen Mark für Arbeiterversiche­rungszwecke. Wie aus den Rechnungsergebnissen der Berussgenossenschaften ersichtlich ist, betrug der für die Unfallversicherung festgelegte Reservefonds am Ende des Jahres 1892 rund 86 Mill. Mark. Im Jahre 1892 sind noch 12,5 Mill. in den Fonds eingelegt worden. Derselbe wird auch in den näch­sten Jahren noch beträchtliche Erweiterungen erfah­ren. Allerdings bestimmt das Gesetz, daß Zuschläge zu den Entschädigungen zur Vergrößerung des Re­servefonds nur bis zum Jahr 1896 einschließlich er­hoben werden dürfen. Jedoch kann man sicher da­rauf rechnen, daß in den noch ausstehenden 4 Jahren 4050 Mill. dem Fonds zustießen werden. Ob dann schon die Berufsgenossenschaften ihre Zinsen zur Deckung von Ausgaben benutzen werden, hängt davon ab, wie sich des Fonds der einzelnen Genos­senschaften zu deren Jahresbedarf stellt. Die Ver­wendung der Zinsen darf erst dann eintreten, wenn der Reservefonds den doppelten Jahresbedarf erreicht hat. Die Krankenkassen müssen bekanntlich auch Reservefonds ansammeln., Das Vermögen der Kran­kenkassen ist für Ende 1892 amtlich auf 110 Mil­lionen angegeben worden. Dazu kämen die 86 Mil­lionen Reservefonds für die Unfallversicherung. Die Jnvaliditäts-Altersversicherungsanstalten haben Ende 1892 einen Vermögensbestand von 151 Mill. auf­zuweisen gehabt. Jnsgesammt wäre also bereits am Ende des vorigen Jahres für Arbeiterversicherungs­zwecke ein Betrag von rund 350 Mill. festgestellt gewesen. Da die nächsten Jahre noch eine beträcht­liche Steigerung der Summe bringen werden, so ge­winnt allerdings die Frage nach der zweckmäßigsten Anlage dieser Gelder immer erhöhtere Bedeutung.

Berlin, 15. Dez. Die drei Handelsverträge werden mit großer Mehrheit entgillig angenommen. Nächste Sitzung am 9. Januar 1894.

Berlin, 15. Dez. Bei der gestrigen Abstim­mung über den rumänischen Handelsvertrag stimm­ten 13 Nationalliberale mit Nein. Von der Reichs­partei stimmten 15 mit Nein, darunter Frhr. v. Gültlingen. Vom Zentrum stimmten 34 mit Ja, darunter Braun und Gröber.

Eine ministerielle Verordnung vom 13. d. M. verbietet die Einfuhr und Durchfuhr von Rind­vieh, Schafen, Ziegen und Schweinen aus Italien für Elsaß-Lothringen. Die Verordnung tritt am 18. d. M. in Kraft.

Oesterreich-Ungarn.

Wien, 14. Dez. Seit mehreren Tagen lastet ein leibhaftiger Londoner Nebel über Wien und Um­gegend, infolge dessen man genötigt ist, fast den gan­zen Tag über Licht zu brennen. Kein Wunder, wenn bei diesem naßkalten Nebelwetter die Infektionskrank­heiten aller Art, als Influenza, Masern, Diphteri- tis und Keuchhusten reißende Fortschritte machen; es giebt kein Haus, in dem man nicht Kranke findet, die Spitäler sind überfüllt, und die Aerzte vermögen kaum, den an sie angestellten Anforderungen gerecht zu werden. Aus dem benachbarten Stockerau, wo ein Dragonerregiment liegt, kommt sogar die Mel­dung, daß von 120 Pferden einer Abteilung 80 an der Influenza erkrankt und in tierärztlicher Behand­lung seien. Demgemäß sind auch die Tiere von die­ser Krankheit nicht verschont.

Frankreich.

Die französische Kammer hat am Montag die Regierungsvorlage, betr. die Verschärfung des Preßgesetzes mit 413 gegen 63 Stimmen angenom­

men, einer Majorität, wie sie seit langer Zeit keiner Regierung mehr gewährt worden war. Die Mino­rität bestand aus 45 Sozialisten und 18 Ultraradi­kaler. 85 Deputierte, zumeist Radikale, haben sich der Abstimmung enthalten. Aus der Rede, welche der Justizminister Dubost zur Begründung der Vor­lage gehalten hat, verdient die Erklärung hervorge­hoben zu werden, daß eine anarchistische Organisa­tion bestehe, daß dieselbe internationale Beziehungen unterhalte und daß die Negierung die Leiter der­selben kenne. Die natürliche Folge dieser Kenntnis wäre eigentlich, daß die französische Regierung die Initiative zu einer Abwehr der anarchistischen Ge­fahr ergriffe. Im Senat ist die Beratung der Preß- gesetznovelle an demselben Tag vorgenommen wor­den und außerordentlich glatt verlaufen. Die von dem Ministerpräsidenten Parier verlangte Dringlich­keit ist einstimmig bewilligt worden. Die außer der Preßgesetznovelle von der Regierung eingebrachten 3 Vorlagen sind am Dienstag in der Kammer einer Kommission überwiesen worden. Alle gemäßigten republikanischen Blätter billigen die Verschärfung des Preßgesetzes, die der radikalen Partei tadeln da­gegen das Votum der Kammer und machen dieser zum Vorwurf, nur der Furcht nachgegeben zu haben. Die konservativen Blätter bezweifeln, daß das, Ge­setz den erhofften Erfolg haben werde.

Paris, 15. Dez. Die Nordbahngesellschaft er­hielt Drohbriefe, daß der Bahnhof und insbesondere die Wartesäle I. Klasse kn die Luft gesprengt werden würden. Auf Ansuchen der Direktion verstärkte die Polizeibehörde dieSchutzmannschastdesNordbahnhofs.

Kleinere Mitteilungen.

In Niederhermsdorf in Sachsen sind zu gleicher Stunde zwei Zwillingsschwestern im Alter von 21 Jahren gestorben, nachdem kurz zuvor jede derselbe einem Kaädlein das Leben geschenkt hatte. Ein gemeinsames Grab um­schließt nun die Schwestern.

Handel und Verkehr.

Aktienbrauerei Rettenmeyer, Stuttgart. Bei der jüngst stattgefundenen Generalversammlung wurden die Anträge der Direktion und des Aus­sichtsrats genehmigt. Der Bruttogewinn pro 1892 betrug 193,737 N7 17 H, wovon 32,662 ^ 81 -L zu Abschreibungen verwendet, 6000 ^ ans Delcre- dere-Conto übertragen, 22 000 dem Spezialre­servefonds zugewiesen und 7330 -// 61 Z auf neue Rechnung vorgetragen worden sind. Die Dividende wurde auf 7 pCt. festgesetzt.. Der Bierabsatz ist um 4837 Hektoliter gestiegen.

Heilbronn, ö. Dezember. (Ledermarkt.) Die Zu­fuhren des heutigen Marktes waren bedeutender, als die des Dezembermarktes vorigen Jahrs. Der Verkauf war indes schleppend und mußten mehrere Partien als unver­kauft aus dem Markte zurückgezogen werden. Leichtere Sorten in prima Wildoberleder wären begehrt, während schwerere vernachlässigt wurden. Schmalleder war ziemlich viel am Platze und mußten sich die Verkäufer, die verkau­fen wollten, Preiskonzessionen gefallen lassen. Kalbleder war gut gefragt und haben sich die Preise hierin gehalten. Gute Sorten Sohl- und Zeugleder behaupteten ihre seit­herigen Preise, ebenso waren in.iochafleder die Preise un- verändert. Gesamtumsatz ea. 254000 Mk. _

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