> Altensteig, 28. Mai. Freiherr v. Gült- lingen hat gestern hier mit seinen Wahlreisen den Anfang gemacht. Im Gasthof zurTraube" sprach er vor einer Wählerversammlnng in 2stü»diger Rede, die durchaus von echt patriotischem Sinne des Kan­didaten zeugte. GewecbevereinSvorstand H. Maier, sen., begrüßte den H. Kandidaten und die Versamm­lung, dankte H. v. Gültlingen auch für seine seithe­rige Thätigkeit als Vertreter des 7. Wahlkreises und für die Wiederannahme einer Kandidatur. Der H. Redner sprach etwa folgendes:Balder als ich er­wartet, habe ich wieder in Ihrer Mitte zu erscheinen. Ich dachte, die 5 Jahre, aus die Sie mich in den Reichs­tag wählten, werden ruhig ablaufen. Aber es ist nun rasch anders geworden, und trotzdem ich anfangs entschlossen war, nicht wieder zu kandidieren, so ließ ich mich doch wieder bewegen, obwohl ich über­zeugt bin, das; der Kamps diesmal ein heißer werde. Traurig ist's, daß die Frage der Militärvorlage, welche die Vertreter des Volks hätte sollen einig finden, der Grund der Reichstagsausiösung war. Ich selbst bin angesichts der Neuwahl aus Angriffe und Vorwürfe meiner Gegner gefaßt. Vor allem wird mir vorgeworfen werden, daß ich für die Vor­lage gestimmt, ich habe aber dies für meine patriotische Pflicht gehalten. Daß die früher eingebrachte Mili­tärvorlage, für welche damals auch Gröber gestimmt, und die mit 2l1 Stimmen gegen 90 durchgegangen ist, nicht hinreiche, war vorauszusehen, und Frankreich gegenüber sind wir immer mit der Vermehrung unseres Heeres zurückgeblieben. In Kissingen habe Redner mit Bismarck seiner Zeit darüber gesprochen und geklagt, daß die Mehrforderungen eben kein Ende nehmen. Bismarck sagte:Diese Vorlage ist die kleine, die große wird Nachkommen, und wenn sie begründet werden kann, dann wird sie auch bewilligt." Bismarck selbst sei wohl ein Gegner der neuen Mi­litärvorlage, aber aus ganz anderen Gründen, denn er sei kein Anhänger der Aufhebung der 3jährigen Präsenzzeit. Zum Vorwurf werde dem Redner ge­macht werden, daß er bei der Entschädigungsfrage der Krieger dagegen gestimmt habe, aber die Ent­schädigung nach den ortsüblichen Taglöhnen habe ihm nicht gepaßt. Die politische Lage nennt er eine hochernste. In einer Zeit des wirtschaftlichen Nie­dergangs soll eine Vorlage genehmigt werden, die große Opfer verlangt. Aber des Vaterlandes Wohl­stand und Gedeihen darf nicht aufgegeben werden. Wir seien in einer Notlage durch eingetretene Natur­ereignisse, und in Folge des Verhaltens der Mehr­heit im Reichstag sei eine Unsicherheit im Handel und Wandel emgetreten; daraus müsse man aber herauszukommen suchen. Ueber den tiefen Ernst der inneren und äußeren Lage dürfe man sich nicht täuschen. Im deutschfeindlichen Ausland sei die Ablehnung willkommen gewesen, im Innern sei sie von den Sozialdemokraten mit Freuden begrüßt worden, das sei bezeichnend und gebe zu denken. Der nächste Reichstag stehe unter der Parole der Militärvorlage, und jetzt schon sucht man den Wäh­lern bange zu machen, daß ein Reichstag, welcher die Vorlage annehme, auch noch weiter gehen werde und das allgemeine Wahlrecht antaste. Redner selbst hält es für heilige Pflicht eines Reichstagsabgeord­neten, festznhalten an den verfassungsmäßigen Rechten des Volkes. Gehe die Vorlage nicht durch, so stehen wir vor einer Katastrophe, zu der uns die treiben, die gegen die Vorlage kämpfen. Man könne noch nicht bestimmt sagen, was nach abermaliger Ableh­nung komme, aber das sei klar, daß dann Deutsch­land nach innen und außen in großer Gefahr sei. Redner spricht nun darüber, was den nächsten Reichs­tag beschäftigen werde, wenn die Vorlage angenom­men sei. Da seien vor allem die sogenannten Ver­sicherungsgesetze zu ändern, denn diese seien in ihrer jetzigen Ausführung eine wahre Last und nahezu unerträglich. Redner sagte, er werde, wenn er wieder gewählt werde, auch eintreten für Erleichterung der Quartierlasten, die in manchen Gegenden (bei uns weniger) recht drückend seien. Er glaube sicher, daß der Reichstag das Gesetz über das militärische Straf­verfahren abändere, denn in Preußen sei das heutige Strafverfahren von 1845, in Bayern vom Jahr 1869, in Württemberg gar noch von l8l8. Das seien veraltete Sachen und Einheit auch mit dem Militär. Strafverfahren dürfte doch auch im Reich geschaffen werden. Nun kommt Redner an die Beleuchtung und Begründung der Militärvorlage, wozu er den Kommissionsbericht benützte. Nachdem Redner noch

über die Ablehnung des Huene'schen Antrags ge­sprochen, betont er, daß Frankreich, das 11 Mill. weniger Einwohner als Deutschland habe, bis jetzt all die großen militärischen Forderungen bewilligt habe, und daß auch derBeobachter" 1836 u. 1887 für eine möglichst hohe Präsentster geschrieben habe. Ec schreibt wörtlich:Je mehr Soldaten ausgedildet sind, desto besser!" Die Gegner der Vorlage sagen: Die Diplomatie solle eine Kriegsgefahr abwenden." Caprivi sagt hierüber:Bismarck war dies möglich, aber solche Männer seien selten." Die Gegner der Vorlage hoffen aus den Dreibund; aber Bündnisse seien eben nicht von Dauer, Frankreich habe sich 1870 auch auf Italien und Oesterreich verlassen und sich bös getäuscht. Die Gegner sagen, die Vorlage sei nicht durchführbar, weil nicht genug Mannschaften vorhanden seien. Nachweisbar seien aber so viel vorhanden, daß die Vorlage von den noch vorhan­denen nur 2223°/n braucht. Zum Schlüsse hebt Redner die Folgen einer abermaligen Ablehnung der Militärvorlage im kommenden Reichstag hervor: die Sicherheit und der Bestand Deutschlands werden preisgegeben, das Volk leidet im Ausland Einbuß an Ansehen und Machtstellung, der Handel und Verkehr leidet not, die Kriegsgefahr wiro drohender, wir erlangen keine zweijährige Pcäsenzzcit und keine Verjüngung der Armee. Es seien 1003 Eingaben für und uur 247 gegen die Militärvoclage eingebracht worden und jetzt schon mehren sich die Stimmen für die Vorlage. Redner erklärt sich noch für Bcibehal. tung unserer Reservatrechtc.sagt auch noch zum Schluß, daß er nicht für Erhöhung der Bier- und Brannt­weinsteuer sei, sondern mehr für Börsensteuer, über­haupt auf Ueberwälzung der durch die Militärvor- la;e entstehenden Mehrforderungcn aufs Kapital sei. Mir einemGott segne unser deutsches Vaterland" schloß Redner seinen langen, von patriotischer Ueber- zeugung durchdrungenen Vortrag, dem reichlicher Beifall zu Teil wurde. H Stadtpfarrer Hetterich brachte in schwungvoller Rede Fceih. v. Gültlingen ein dreifaches Hoch aus, in das alle Anwesenden begeisternd einstimmten.

Stuttgart, 27. Mai. In einer von etwa 7000 Personen besuchten Versammlung sprach heute abend Bebel über die Rcichstagswahl. In seiner zwei­stündigen Rede entwickelte er unter stürmischem Bei­fall die Forderungen der Sozialdemokratie, polemi­sierte aufs schärfste gegen den Kapitalismus und Militärismus und schloß mit der Aufforderung, dem sozialdemokratischen Kandidaten die Stimmen zu geben.

Die Kandidaturen zur Reichstagswahl werden in diesem Jahr rasch festgestellt, da käst sämt­liche bisherigen Reichsboten sich wieder um ein Man- dat bewerben. Nur Härle in Heilbconn lehnte ab, da die Operation, die er durchgemacht, ihm dies rätlich erscheinen läßt. Zwei weitere Abgeordnete, der Zentrumsmann Graf Adelmann und der be­kannte Reichstagsbenjamin, dersonderbare" Fchr. v. Münch, werden von chren Wählern, bezw, den Parteien, dem Zentrum und der Demokratie, nicht mehr aufgestellt, ersterer, weil er sich bei der Abstimmung über die Militärvorlage von seiner Fraktion zu trennen den Mut hotte, letzterer, weil er eben die komische Figur abgegeben hatte. Es kandidieren wieder in Stuttgart Siegle, in Eßlingen- Urach-Kirchheim-Nürtingen Weiß, beide national­liberal , in Calw Nagold-Neuenbürg-Herrenberg v. Gültlingen (Neichspartei), in Cannstatt-Ludwigs- burg-Marbach Schnaidt, in Böblingen-Leonberg- Maulbronn-Baihingen Kercher, in Reutlingen-- bingen-Rottenburg Payer, in Balingen-Rottweil- Tuttlingen-Spaichingen Konrad Haußmann, in Backnang-Hall Oehringen-Weinsberg Hartmann , in Crailsheim - Gerabronn- Künzelsau - Mergentheim Pflüger, in Göppingen-Gmünd-Schorndorf-Welz- heim Speiser, in Geislingen-Heidenheim-Ulm Hähnle, sämtliche 8 Demokraten, in Blaubeuren- Ehingen-Münsingen-Laupheim Gröber, in Biberach- Leutkirch-Waldsee-Wanqen Braun, in Ravensburg- Riedliugen-Saulgau-Tettnang Rembold. Diese 3 Zentrumssitze werden keinen Wahlkampf haben, da nur die Sozialdemokratie Zählkandidaten aufstellen wird. In allen anderen Wahlkreisen unter Umständen Aalen noch ausgenommen wird ein heftiger Wahlkampf insbesondere zwischen der natio­nalliberalen (deutschen) und der demokratischen Partei entbrennen. In Stuttgart wird noch der sozialistische Kandidat Kloß neben denen der zwei andern großen Parteien ernstlich in Betracht kommen.

Gate Chancen eröffnen der deutschen Partei die Kan­didatur des Oek.-RalS M ayer in dem letztmals demokratischen Wahlkreis Heilbronn-Bcackenhclm-Be- sigheim und die Kandidatur des Oekonomen Bant­leon in dem bisher gleichfalls demokratischen Wahl­kreis Ulm Heidenheim-Geislingen. Weitere neue Kan­didaturen sind noch nicht mit Sicherheit bekannt, auch von der demokratischen Pariei noch nicht. Bis nächste Woche wird aber die Liste wohl vollzählig sein.

Stuttgart, 30. Mai. Abgeordnetenkammer. Bon dem Abgeordneten Schnaidt und 17 Genossen, die in der Mehrzahl der Linken, aber auch den anderen Parteien angehören, ist ein Antrag eingebracht morden, der dabin geht, die K. Negierung möge angesichts des bestehenden landwirt­schaftlichen Notstands geeigneten Orts darauf hiuwirken, daß die für bevorstehenden Svätsommer geplanten Manöver des ivürttembergischen Armeekorps unterbleiben oder wenigstens möglichst eingeschränkt werden. Es wird sodann die Steuer­debatte fortgesetzt, wobei Dc. v.; in längerer Nede sich scharf gegen die gestrigen Anssnhrungen des FinanzministerS und seine Berurteilung des Vorgehens der Finanzkpmmission wandte, wozu er sich durch übergroße Empfindlichkeit habe verleiten lassen. Es gehe doch wohl zu weit, der Kommission, die bisher pflichtbewußt alle Vorlagen der Regierung geprüft, ohne weiteres die nötige Erkenntnis abzusprechen. Dadurch werden die Gegensätze nur verschärft. Wenn der Herr Mi­nister gestern u. a. auch von der Ehre der Nation gesprochen, so gehöre dieser hohe Gesichtspunkt ebensowenig in die vor­liegende Frage hinein als in die der Pensionierung der Orts­vorsteher, in welche sie ebenfalls vor einigen Tagen hinein­gemischt wurde. Auch was der Minister von der Möglichkeit der Mobilmachung gesprochen, gehöre nicht hierher, v. Göz hat ferner den Antrag gebracht, für 1803/94 es noch beim bisherigen Steuersätze zu belassen, dagegen für 1894193 die vorgeschlagene Steuererhöhung um 0,4R<, zu genehmigen.

Ebingen, 27. Mai. In Anbetracht der sehr nieder», immer noch mehr fallenben Vlehpreise ha­ben mehrere hiesige Metzger ihre Fleischpreise für Rind- und Kalbfleisch auf 40 Pfennig per Pfund herabgesetzt. (Nachahmungswert!)

Heiden heim, 27. Mai. Heute früh hatten wir einen starken Reif, so daß in freien Lagen die Kartoffeln erfroren sind.

Dem offiziellen Saatenstandsbericht im Kö­nigreich Württemberg für Mitte Mai entnehmen wir folgendes: Die Winterhalmfrüchte stehen befriedigend, teilweise sogar schön, besonders Dinkel und Weizen, während Roggen durch den Frost gelitten hat. Sommerhalmfrüchte stehen bisher dünn und ungleich, doch läßt sich vom Regen noch günstiger Einfluß erwarten. Kartoffeln sind nach ihren Aussichten noch nicht zu beurteilen. Hopfen ist entsprechend vorgeschritten. Luzerne einigermaßen, dagegen Klee und Wiesengras infolge des ausgetrockneten Bodens sehr ungünstig; der Wiesenboden ist teilweise wie ausgebrannt. Der voraussichtliche Obstertrag ist durch die Maifröste in manchen Gegenden erheblich gemindert, die Ernte verspricht aber doch noch an Aepfeln und Birnen eine ziemlich gute bis heute zu werden. In den letzten Tagen haben zahlreiche ausgiebige Niederschläge in vielen Teilen des Landes stattgefunden, die zu besseren Hoffnungen berechtigen.

Brand fälle: In Neuweiler: das Wohnhaus d. Bauern Klenk mit über 100 Simri Roggen u. Haber, sowie Stroh und Futter; in Ludwigsburg ein Stallgebäude der 3. Abteilung ves Feloartillerie- Regiments.

Giltigkeitsdauer der Rückfahrkarten. Die ständige Tacifkommission der deutschen Eisenbahn­verwaltungen nahm den Antrag Bayerns auf all­gemeine Einführung von Rückfahrkarten mit zehn­tägiger Dauer an und wird einen dahingehenden Vorschlag der Generalversammlung der deutschen Eisenbahnwaltungen unterbreiten.

Bremen, 30. Mai. Drei Warenschuppen sind in der Nähe des Weserbahnhofs abgebrannt; sie enthielten ca. 1000 Ballen Baumwolle, 20 000 Sack Reismehl, 3300 Sack Reis. Der Schaden beträgt etwa eine halbe Million. Der gefährdete Weser­bahnhof würbe durch die Feuerwehr bewahrt.

H^a mburg , 29. Mai. Die Cholerakommission des Senats teilt mit, ein Comptoirbote in der Neu­stadt, welcher seit acht Tagen leicht an Durchfällen litt, begab sich am 27. Mai wegen Cholera-Erschei­nungen in ärztliche Behandlung und starb noch am Nachmittag desselben Tages. Die bakteriolo­gische Untersuchung ergab gestern Cholera.

Schwei;.

Billeneuve, 29. Mai. Eine Feuersbrunst äscherte eine große Fabrik ein. 300 Arbeiter werden arbeitslos, der Schaden ist enorm.

Verantwortlicher Redakteur Steinwandel in Nagold. Druck und Verlag der G- W. Zaller'scheu Buckwruckerei.