Der Gesellschafter.

Amts- und Intelligenz-Blatt für den Oberamts-Bezirk Nagold.

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1893 .

Deutschland am Scheidewege.

Ein Brief aus der Fremde.

(Aus derDeutschen Rundschau" v. Jul. Rodenberg.)

(Schluß.)

Das liegt jetzt anders. Wir haben uns über­holen lassen und zwar um ein Bedeutendes.

Geht das so fort, so werden die verhängnis­vollen Folgen nicht ausbleiben, auch wenn die Ge­fahr im Augenblicke nach keine brennende ist. Gerade das sieht man aus der Ferne deutlicher als daheim, wo der Blick sich leichter in die näher stehenden Einzelheiten verliert. In Frankreich hat man volles Bewußtsein von der materiellen lleberlegenheit, die allmälig aus der Wirkung des neuen Wehrgesetzes herauswachscn muß. Das steigert nicht nur die Kriegslnst, sondern naturgemäß auch das Vertrauen auf den Erfolg, und dieses setzt sich im Kriege in Kraft um. Warum sollte nicht, wenn die französi­sche Armee dereinst um eine halbe Million oder gar noch mehr gedienter Soldaten stärker als Deutsch­land ist, ein Moltkc an der Seine das Urteil fällen: Deutschland ist uns nicht mehr gewachsen" und damit dieselbe Zuversicht im Heere erzeugen, wie sie 1870 in unseren Reihen herrschte.

Im Vateriandc macht man sich sehr unvollkom­mene Vorstellungen über einen möglichen Krieg der Zukunft, gerade wie in Frankreich vor 1870, wo man auf einige ^Aalairtss bataillos" rechnete und einen darauf folgenden glänzenden Frieden. Man legt bei uns die Erinnerungen aus jener glücklichen Zeit unwillkürlich dem zu Grunde, was man künftig erwartet. Man Übersicht, daß bereits zu Ende des Jahres 1889 der Gesamtbestand der französischen Armee nicht weniger als das Fünffache dessen be­trug, was Frankreich bei Ausbruch des Krieges von 1870 zur Verfügung stand, ein Verhältnis, das nach vollständiger Wirkung des neuen Wehrgesetzes sich bis zum Siebenfachen steigern wird. Ernste Gemüter im Heimatlande stellen sich wohl einmal die Möglichkeit vor. daß Deutschland auch geschlagen werden könne. Sie getrösten sich aber des Gedan­kens, daß man dann schlimmsten Falles mit der Herausgabe von Elsaß-Lothringen abkommen werde, und danach der ewige Friede folgen müsse.

Man täusche sich ja nicht in diesem Punkte. Die geheimen Hoffnungen unserer westlichen Nach­barn gehen schon heute wieder darauf hinaus, freilich mit Hülfe Rußlands, das altersehnte Ziel zu erreichen, d. h. die Eroberung der Rheingrenze.

Dabei handelt es sich nicht um die Phantastege- bilde jugendlicher Heißsporne, sondern um die Aspi­ration ernster berechnender Männer. In Deutsch­land wird man diese Behauptung vielleicht auf die Sucht zurückführen, Schreckgespenster an die Wand zu malen, um dadurch Eindruck zu machen. Jen­seits des Rheins weiß man aber ganz gut, daß sie durchaus richtig ist.

Wer dem Federkriege über die neue Militärvor­lage mit Aufmerksamkeit folgt, kann sich leider der lleberzeugung nicht verschließen, daß deren wahre Bedeutung im Allgemeinen auch nicht annähernd richtig gewürdigt wird. Man thut vielfach, als handle es sich um eine akademische Studie über den Wert von zwei- und dreijähriger Dienstzeit.

Die Frage, ob zwei oder drei Jahre gedient werden soll, darf gar nicht als Ausgangspunkt für die Ueberlegung gewählt werden. Ist die Notwen­digkeit, alle Diensttauglichen auszubilden, klar und kann das aus finanziellen Gründen bei dreijähriger

oder gemischt zwei- und dreijähriger Dienstzeit, wie sie bisher bestand, nicht geschehen, so folgt daraus, daß mit schlichter Notwendigkeit für den größten Teil der Armee die zweijährige Dienstzeit angenommen werden muß. Davor zurückschrecken könnte man nur, wenn jemand überzeugend nachwiese, daß eine zwei­jährige Dienstzeit absolut ungenügend für die soldati­sche Ausbildung sei. Dieser Beweis wird schwerlich erbracht werden, da ja heute schon mehr als die Hälfte aller Mannschaften der Infanterie nur zwei Jaore dient. Darüber, ob die Anwesenheit einer Anzahl von Leuten, die wider ihren Wunsch und Willen ein drittes Dienstjahr in einer Compagnie festgehalten werden, für deren Tüchtigkeit wichtig ist oder nicht, ist schwer zu streiten. Es kommt dabei viel auf persönliche Ansicht und besondere Erfahrung an. Nimmt man aber auch an, daß die Truppe durch Fehlen der dreijährigen etwas verlöre, so wird dies Minder doch niemals das Mehr an Zahl auf­wiegen, das wir dafür eingeheimst haben. Von ei­nem allgemeinen Gesichtspunkt aus muß man also unbedingt für Herabsetzung der Dienstzeit und Ver­mehrung der Zahl stimmen. Dieser allgemeine Ge­sichtspunkt aber ist dadurch gegeben, daß es sich jetzt um unsere gesamte Machtstellung und die Zu­kunft Deutschlands überhaupt handelt. Wir dürfen es nicht dulden, daß ein an Bevölkerung schwächerer Nachbar jährlich 42 000 Soldaten mehr erzieht, und daß die Zahl seiner auSgebildeten Mannschaft un­ter unseren Augen forldauerud wächst, ohne daß wir etwas Ausgleichendes thun. Wir dürfen uns keiner Täuschung über die Bedeutung eines llebergewichts hingeben, welches so groß oder größer sein wird, als die gesamte französische Streitmacht bei Aus­bruch des Krieges von 1870. Wir dürfen es nicht länger dulden, daß jährlich 60000 wehrpflichtige Deutsche, welche auch thatsächlich wehrfähig sind, nicht zum Dienste eingestellt und ausgebildet werden, so daß wir, wenn es sich eines Tages um unsere Existenz handeln sollte, durch eigene Verschuldung nicht in der Lage sind, alle Kräfte einsetzen zu kön­nen oder Hunderttausende ohne jede militärische Vor­bereitung auf das Schlachtfeld führen müssen. Kein Zweifel, daß die durch den erforderten Mehraufwand erzeugte Last drückend ist. Aber eine Ausgabe von jährlich 65000000ist nicht entscheidend für den Wohlstand Deutschlands.

Glückliche oder unglückliche Gestaltung der Han­delsbeziehungen, des Absatzes für unsere Industrie, der Steuerverhältnisse, fallen mit ganz andern Sum­men in die Wagschale unserer finanziellen Lage. Der Verzicht auf die weitere Entwicklung unserer Wehrverfassung, des altpreußischen Grundsatzes der allgemeinen Wehrpflicht, aber kann den Bestand des Reiches in Frage stellen. Vor 1806 glaubte man, daß eine neue Ausgabe von 4*jz Millionen Mark jährlich zu militärischen Zwecken für Preußen uner- schwinglich sei, um ein Jahr später fünfzehnhundert Millionen durch den Feind zu verlieren und dann noch Mittel für Aufstellung eines verstärkten Heeres zu finden.

Längerer Aufschub der Reform ist ohne Nachteil nicht möglich. Die Regierung hat mit der Militär­vorlage eine sehr ernste patriotische Pflicht erfüllt. Deutschland steht am Scheidewege und muß sich ent­schließen. Erfolgt die Ablehnung, so überlassen wir Frankreich den einmal gewonnenen Vorsprung mit vollem Bewußtsein. Ihn später einzuholen, wird von Jahr zu Jahr schwieriger, endlich fast unmög-

sich werden. Eine Anzahl von Altersklassen geht immer verloren. Hat man sich einmal mit einem Uebelstande abgefunden, so gewöhnt man sich auch gar leicht daran, für die Gefahr, die er birgt, die Augen zu schließen. Unsere Hoffnung auf Erfolg im zukünftigen Kampfe könnte sich nach der Berwer- fung nicht mehr auf sachliche Gründe stützen. Das Gefühl aber, daß dem so ist, und daß man im Frie­den Wichtiges versäumt hat, bildet an sich schon ein Moment der Schwäche für den Krieq.

Wird oie Vorlage Gesetz, so thut Deutschland nach kurzer Versäumnis einen Schritt vorwärts, den Frankreich ihm nicht mehr nachthun kann, da dieses thatsächlich an den Grenzen seiner natürlichen Kräfte angekommen ist. Die lleberlegenheit, die Deutsch­land allein in seiner Volkszahl besitzt, ist dann nutz­bar gemacht. Die Hoffnung, im Notfälle eines Doppelkrieges durch glückliche und schnelle Operatio­nen zwischen den feindlichen Heeren den endlichen Triumph auf unserer Seite zu sehen, tritt wieder in ihre Rechte, und das Genie unserer Feldherren erhält, wenn auch nicht in so reichem Maße wie 1870, so doch immer hinlänglich, die Mittel, sich zu bethätigen. Das Bewußtsein aber, daß im Frieden alles geschehen ist, was füglich geschehen konnte, um Deutschland stark zu machen, wird auch in den schwie­rigsten Lagen eines großen Krieges Generale, Offi­ziere und Mannschaften mit festem Vertrauen auf den endlichen Sieg erfüllen.

Fragt man sich, ob es überhaupt noch möglich ist, der Forderung aus dem Wege zu gehen, so muß man mit einem entschiedenenNein" antworten. Deutschland ist zu jung und lebenskräftig, um end­gültig auf eine große Rolle im Rate der europäi­schen Völker verzichten zu können. Das wird nim­mermehr geschehen, und daraus folgt, daß, wenn in unserer Zeit die Vermehrung unseres Heeres ver­worfen würde, sie in einer künftigen, nach trüben Erfahrungen. doch vorgenommen werden müßte.

Wir hoffen, daß es dazu nicht kommt, und daß der unabweisliche Schritt jetzt geschieht; daß auf den Glanz des jungen Reiches kein, wenn auch nur vorübergehender Schatten fallen wird.

Zum Schluß eine persönliche Bemerkung. Mein Standpunkt zur Frage ist nicht neu, sondern seit Langem bekannt. Vor fünfzehn Jahren wies ich darauf hin, daß Deutschland mit seiner Wehrver­fassung den Lagen, welche die Zukunft berge, nicht gewachsen sei. Es war weder schwer, das damals zu erkennen, noch ein besonderes Verdienst, es aus­zusprechen. Doch sei es hier erwähnt, zum Beweise, daß die der Militärvorlage zu Grunde liegende An­sicht schon in jener Zeit verbreitet war und es sich heute um keine dem Volke willkürlich bereitete lieber- raschung handelt. Zugleich wird mich diese Ver- gangenheit vor dem Verdachte schützen, nur einer augenblicklichen Regung zu folgen oder gar zum höheren Ruhme der herrschenden Richtung zu schrei- ben; sie wird, hoffe ich, dazu beitragen, daß diese Zeilen hingenommen werden als das, was sie sind, nämlich das Ergebnis innerster lleberzeugung, welche aus reiflicher Ueberlegung entsprungen ist; denn auch in der Fremde, durch ganz fern abliegende Dinge in Anspruch genommen, habe ich die militärische Bewegung im Vaterlande warmen Herzens verfolgt, immer gewiß, daß ein Ereignis, wie das jetzt ein­getretene, über kurz oder lang kommen müsse.

C. Freiherr von der Goltz,

König!, preußischer Generalmajor z. D. und Kaiser!, ottomanischer Generallieutenant.