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rillige MmGeseUjsckrljfter".

Samstag den 13. Mai

1893.

Deutschland am Scheidewege.

Ein Bries aus der Fremde.

(Aus derDeutsche» Rundschau" v. Jul. Rodend erg.)

Clausewitz nennt unter den Mitteln, welche ge­eignet gewesen wären. Preußen nach dem siebenjäh­rigen Kriege aus seiner, durch die Krast und das Talent unternehmender Fürsten errungenen Höhe auch ferner zu erhalten und seine künstliche Stellung einigermaßen in eine natürliche zu verwandeln, vor Allemdie fortdauernde Aufmerksamkeit und Anstren­gung im Militärstaate."

Das trifft auch heute für das junge Deutsch­land zu.

Allerdings besteht ein großer Unterschied insosern, als die Stellung des heutigen Deutschlands keine künstliche mehr ist, sondern auf der natürlichen und starken Basis einer geeinigten Bevölkerung von fast fünfzig Millionen beruht. Aber die Ähnlichkeit ist doch insoweit vorhanden, als diese hervorragende Stellung noch einer Bekräftigung bedarf, ehe sie sich allgemeiner Anerkennung erfreuen wird. Sie ist gleichsam noch zu neu, zu überraschend in dem kur­zen Zeiträume von fünf Jahren durch zwei glänzende Kriege gegen Mächte entstanden, welche die Welt bis dahin für die stärkeren gehalten hatte.

Wer im Auslände lebt und öfter als daheim Gelegenheit hat, fremde Urteile vertraulicher Art über Deutschland zu hören, kann sich der Ueberzeu- gung nicht verschließen, daß der dauernde Bestand von dessen Einigkeit, Macht und Größe noch immer bezweifelt wird. Solche Zweifel aber sind ein ge­fährliches Ding, denn sie reizen die Lust der Neben­buhler. es aus eine Kraftprobe ankommen zu lassen. Sie müssen um so ernster genommen werden, als Deutschlands Glück auch den Neid erregt und viel­fach eine Abneigung hervorgerufen hat, die sich der Emporkömmling meist gefallen lassen muß.Wir haben an Achtung überall, an Liebe nirgends ge­wonnen" *).

Deutschland hat Frankreich vor zwanzig Jahren überrascht, aber dieses hat sich aufgerafft und seine Kräfte wieder gefunden; es ist heute in seinen mili­tärischen Einrichtungen jenem von Neuem voraus und wird es beim nächsten Zusammenstoß seinerseits schlagen." So etwa klingt insgeheim eine weit ver­breitete Meinung in der Fremde, welche freilich nur Wenige so offen aussprechcn, wie kürzlich ein be­kannter englischer Staatsmann, der seine Berichte über die vorjährigen französischen Manöver mit der Behauptung einlenetc, daß Deutschland den militä­rischen Vorrang in Europa, den es seit zwanzig Jahren unbestritten besessen, nunmehr an Frankreich verloren habe.

Sicherlich verlohnt es der Mühe, zu untersuchen, auf welche Widerlager sich solche Ansichten stützen, wo doch das rein materielle llebergewicht Deutsch­lands, das heute an elf Millionen Einwohner mehr zählt als Frankreich, nicht übersehen werden kann.

Preußen verdankte seine Wiedererhebung nach dem tiefen Falle von 1806 dem, wenn auch nur notdürf­tig vorbereiteten, Aufgebote aller Wehrfähigen. Es trat dann mit der Annahme der allgemeinen und persönlichen Wehrpflicht durch das Gesetz vom 3. September 1814 hinsichtlich der Vollständigkeit seiner militärischen Einrichtungen an die Spitze aller Staa­ten Europa's, obwohl es dem Maße seiner natürli- chen Kräfte nach hinter den übrigen Großmächten zurückblieb. Man wich jedoch von dem ursprüngli­chen Gedanken bald mehr und mehr ab, als man es unterließ, mit dem Anwachsen der Bevölkerung und der Vermehrung des Wohlstandes die Wehrverfassung gleichmäßig fortschreitend weiter zu entwickeln. Diese stand noch auf der Stufe, auf welche das Gesetz von 1814 sic gestellt, zu einer Zeit, da die Einwoh­nerzahl Preußens sich schon verdoppelt hatte. Erst König Wilhelm I. stellte das richtige Verhältnis

i) Worte des Fctdmarschalls Moltke im Reichstage am 16. Februar 1874.

wieder her und führte durch die Reorganisation der Armee die allgemeine Wehrpflicht so strenge durch, wie kein Staat sie damals besaß. Mit dieser großen, im lebhaften Widerspruch gegen die Volksvertretung vollzogenen Maßregel setzte der König rechtzeitig, und noch ehe die Gefahr eines großen Krieges ein­getreten war, Preußen von Neuem an die Spitze der militärischen Bewegung Europa's.

Damit begann die neue glänzende Epoche deut­scher Geschichte.

Nach dem Kriege von 1870 hielt man allgemein die deutschen Militäreinrichtungen für die vollkom­mensten der Welt und einer Verbesserung nicht be­dürftig. Diese Meinung behauptete sich im Auslande bis über die Mitte der achtziger Jahre hinaus. Im Inlands standen die Dinge anders. Die Ueberzeu- gung, daß Deutschlands Wehrverfassung einer gründ- lichen Erweiterung bedürfe, begleitete viele Offiziere schon aus dem Kriege heim. Zumal in den Kämpfen an der Loire hatte sich die geringe Zifferstärke unserer Heere mehrfach empfindlich fühlbar gemacht, und die Frage allen Denkenden sich aufgedrängt, wie es in einem künftigen Kriege werden solle, wenn die damals von der zweiten Republik in Eile zu- samengerassten Menschenmassen uns militärisch or­ganisiert und aus gebildet entgegen treten würden. Daß dies geschehen werde, unterlag keinem Zweifel.

So erwartete man auch in Deutschland eine große Umgestaltung des Heeres und beschäftigte sich im Geiste damit. Wer sich jener Tage erinnert, weiß, wie viel damals in vertrautem Kreise darüber ge­sprochen. geplant und gestritten wurde. Das fran­zösische Cadregesetz von 1875, welches, auf das Re- krutirungsgesetz von 1872 und das Organisations­gesetz von 1874 folgend, die Heeresverfassung Frank­reichs zu einem ersten Abschlüsse brachte, erregte das größte Aufsehen. Deutschland wurde, bezüglich der Zahl der schon im Frieden bestehenden Truppenteile, weit überboten, nämlich um 172 Bataillone*) und 194 Batterien. Die Dienstzeit dehnte sich in Frank­reich auf zwanzig Jahre aus; in Deutschland blieb es bei der zwölfjährigen. Mehr und mehr und immer gewichtigere Stimmen sprachen sich für Er­weiterung unserer Wehrverfassung aus. Einzelne Militärschriftsteller voreilige Frühlingsboten wagten sich schon mit solchen Ansichten ans Tages­licht der Oeffentlichkeit.

Dennoch blieb die erwartete Reform aus.

Erst 1881 trat eine mäßige Vermehrung der Streitkräfte ein. Zugleich wurde durch die Ausbil­dung eines Teils der Ersatzreserve für reichlicheren Zuschub im Kriegsfälle gesorgt, um die weiten Lücken leichter füllen zu können, welche erfahrungsgemäß gerade die ersten Kriegswochen in die Reihen des Heeres reißen. Die Armee sollte befähigt werden, einen verlustreichen Krieg länger aushalten zu können.

Wurde damit auch nicht alles erfüllt, was man in der Armee gehofft hatte, so begrüßte man den Fortschritt doch mit Freuden. Man konnte sich noch dabei beruhigen, daß die Schwäche der einzelnen Cadres der französischen Armee die Bedeutung der großen Anzahl derselben sehr beeinträchtige. An die Möglichkeit eines Krieges nach zwei Seiten zn- gleich dachte man noch nicht wie heute.

Aber die Dinge änderten sich von Jahr zu Jahr. In Frankreich legte General Boulanger, als er 1886 Besitz vom Kriegsministerium ergriff, den Kammern sein drakonisches Wehrgesetz vor. Sein Nachfolger Ferron beseitigte die Schwäche der Ca- dres und brachte diese schon im Frieden auf einen ansehnlichen Stand. Freycinet setzte das neue Wehr- gesetz durch, welches am 15. Juli 1889 in verän­derter Form, aber mit den gleichen Grundsätzen wie drei Jahre zuvor, endgültig angenommen wurde. Es ist das strengste seiner Art, das jemals erlassen worden und hat die allgemeine Wehrpflicht zum ersten Male wirklich zur Durchführung gebracht, so-

Ungerechnet die noch außerdem bestehenden 329 Dc- potrompagnien der französischen Armee.

weit die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse eS irgend erlauben. Die Gesamtdienstpflicht stieg auf fünfundzwanzig Jahre.

Gleichzeitig hatte auch in Rußland eine rastlos geförderte Arbeit begonnen, um alle Kräfte des ausgedehnten Reiches für einen Krieg nutzbar zu machen. Sie übertreffen diejenigen Deutschland» be­kanntlich an Zahlen sehr erheblich*).

Deutschland ist dieser allgemeinen Bewegung zwar zweimal, 1887 und 1890, mit Ergänzungsmaßregeln gefolgt; doch wurde dabei nur die Artillerie nennens­wert vermehrt, die Gesamtdienstpflicht aus vierund- zwanzig Jahre verlängert. Eine bevorstehende all- gemeine Reform kündigte der Kriegsminister von Verdy in der Reichstagssitzung vom 24. Juni 18SÜ an, aber sein bald danach erfolgender Rücktritt v«. tagte sie von Neuem.

So ist der Standpunkt, auf dem wir heute an< gekommen sind, folgender:

Frankreich besitzt 38 Millionen Einwohner. Deutschland 49; dennoch unterhält Frankreich ein an Offizieren, Mannschaften, Pferden und Geschützen durchweg nicht unerheblich stärkeres Heer im Frie­den. Es bildet jährlich 42,000 Manu mehr zu Soldaten aus und wird, wenn das jetzige Wehrge- sctz hinreichend lange gewirkt hat, Deutschland um rnehr als eine halbe Million gedienter Soldaten überlegen sein*).

Frankreich, das an sich schwächere, hat also im Augenblick Deutschland hinsichtlich seiner Wehrver­fassung überflügelt. Obschon es mit der allgemei- neu Wehrpflicht mehr als ein halbes Jahrhundert später begann, als Preußen, so hat eS in dem seit- her verflossenen kurzen Zeitraum Deutschland in der Entwicklung dieser wichtigsten aller Einrichtungen des modernen Staates vom ersten Platze verdrängt und darin die Führung übernommen.

Das ist es, was man in der Fremde ganz rich­tig herausfühlt, und woran man auf der uns un­freundlich gesinnten Seite die fülle Hoffnung knüpft, Deutschland werde beim nächsten Waffengange unter- liegen. Man verfolge nur die ängstliche Sorgfalt, mit welcher die ausländische Presse in Ost und West die Stimmen sammelt, welche jetzt daheim gegen die Regierungsvorlage laut werden, um sich zu überzeu­gen. Der derbe Zuruf, welcher unlängst von jenseits des Kanals zu uns herüberschallte und uns für dm 1. September 1920 eine vollständige ,rsvanoll«pour 8säan« prophezeite, war sicherlich nicht ganz frei von dem egoistischen Wunsche, Deutschland recht stark und wenn möglich zugleich mit Rußland ver­feindet zu sehen; aber ein Kern von Wahrheit steckt darin, und die Anspielung auf die Wiederholung des Roßbach-Jena-CycluS liegt nicht allzu fern, da auch auf die Freiheitskriege ein Olmütz folgte. (Frts.flgt.)

Hages-WeuigkeiLen.

Deutsches Weich.

Frankfurt a. M. Der diesjährige Honig wird von Sachkennern als ein sehr edles Produkt bezeich­net. Biele Bienenzüchter haben bereits bei dem blü­tenreichen Lenz größere Mengen Honig geschleudert, und durchweg ist derselbe sehr zähflüssig, hat wenig Wassergehalt, hat eine nie dagewesene Süßigkeit und hochfeines Aroma und kandiert sehr leicht, schon nach wenigen Tagen. Die vorzügliche Qualität des Honig» ist wohl gerade eine Folge der Trockenheit. Der Preis beträgt 1 M. 20 Pfg. per Pfund.

r) Wir nehmen davon Abstand, die heute vielfach ver­öffentlichten Ziffern hier,u wiederholen. Im Allgemeinen legen wir diejenigen zn Grunde, welche in der bekannten Schrift des Majors Keim angeführt sind.

») General von BoguSlawSki berechnet die Ueberlegen- heit der Franzosen an ausgedienten Soldaten im Jahre 1891 auf 420 000 Mann und für das Jahr 1914, wo das neue französische Wehrgesetz seine volle Wirkung geübt haben wird, auf 747000 Mann.