Stuttgart, 2. März. Der Landtag soll dem Vernehmen nach auf Dienstag 14. März einberufen werden.

Cannstatt, 1. März. Heute vormittag wurde hier von der Polizei eine Persönlichkeit festgenommen, welche nach Mitteilung der Staatsanwaltschaft Ulm der Verübung des am 25. Febr. daselbst verübten Raubmords an dem Fräulein Selma Reuß ver­dächtig ist. Der Gemeinderat in Ulm hat 500 ^ Belohnung für die Ergreifung des Mörders des Fräuleins Selma Reuß ausgesetzt.

Ueber eine Zugentgleisung des Orientpreß- zugs bei Großsachsenheim wird aus Bietigheim ge­schrieben, der Lokomotivführer habe kurz vor Eintritt der Katastrophe ein unheimliches Kollern verspürt und sich an den Heizer mit den Worten gewandt: Diesesmal sind wir verloren." Da kippte auch schon die Lokomotive um, Tender nnd Sicherheits- wagey mit sich reißend. Der Lokomotivführer flog auf das Hag, der Heizer auf das Feld, wobei er eine leichte Wunde an der Stirne erhielt. Merk­würdigerweise sind die Wagen nur wenig beschädigt und die Reisenden, 13 an der Zahl, konnten von Wunder sagen, heil davon gekommen zu sein. Am Abend konnte der Dienst auf dem Geleise wieder voll ausgenommen werden.

Der Reichstag ist am Samstag schon wieder beschlußunfähig gewesen. Mit wachsendem Befremden hört man im Volke von dieser dauernden Beschluß­unfähigkeit, und dabei kommt unter zehn Fällen höchstens einer zur allgemeinen Kenntnis. Noch nie­mals ist es in dieser Hinsicht so schlimm gewesen wie i i dem gegenwärtigen Reichstag.

Der Eintritt Rektor Ahlwardts in den Reichstag hat sich bekanntlich am Sonnabend Nach­mittag vollzogen. Einem Berichte der Staatsb. Ztg. über das erste Erscheinen des Abg. für Friedeberg- Arnswalde entnehmen wir Folgendes: Kaum hatte Ahlwardt das Reichstagsgebäude betreten, so durch­lief die Nachricht:Ahlwardt ist da!" mit Blitzes­schnelle das Haus und die Tribünen. Staatssekretär v. Bötticher machte Herrn v. Marschall auf den neuen Abgeordneten aufmerksam. Kaum hatte Abg. Stöcker Ahlwardt bemerkt, so ging er auf ihn zu, begrüßte ihn herzlich und führte mit ihm ein länge­res Gespräch. Sodann begrüßte der Abg. v. Jagd- zewski Ahlwardt als Kollegen und Nachbar und zog ihn ebenfalls in eine längere Unterhaltung. Auch Abg. Liebermann v. Sonnenberg begrüßte Ahlwardt; die anderen antisemitischen Abgeordneten waren nicht anwesend. Das erste Votum, welches Abg. Ahlwardt abgab, bezog sich auf die Novelle zum Postdampfer- Subventionsgesetz, er stimmte für Verweisung an eine Kommission. Ebenso war ihm vergönnt, schon am ersten Tage im Reichstage das Wort zu ergreifen; es bestand in einem lautenNein." Es handelte sich um die namentliche Abstimmung über die Frage der Giltigkeit der Wahl des Abg. v. Reden.

Deur scher Reichstag. Sonnabcndsitzang. Das Haus genehmigte den Antrag Rintelen betr. das Ruhen der Verjährungsfrist während der Reichstagssessionen in Straf­verfahren gegen Abgeordnete definitiv und überwies die Novelle zum Postdampfergesetz der Budgetkommission zur Spezialberatung. Während der Erörterung hierüber trat der Abg. Ahlwardt (Antisemit) in den Reichstag, ohne eine weitere Bewegung hervorzurufen. Ahlwardt hatte längere Gespräche mit den Abgg. Stöcker (kons.) und v Jagd- zewski(Pole) und nahm später seinen Sitz neben dem Abg. Pickenback ein. Alsdann wurden noch Wahlprüfungen verhandelt: Die Wahlen der Abgg. Schier (kons.) und Müllensiefen (natlib.) wurden beanstandet; Abg. M ö l l e r- Dortmund, dessen Wahl die Wahlprüfungskommission für ungiltig erklärte, legt sein Mandat nieder. Bei der nament­lichen Abstimmung über die Wahl des Abg. von Reden (natlib.) stellte sich die Beschlutzunfähigkeit des Hauses heraus. Die Sitzung wird abgebrochen und bis Montag 1 Uhr ver­tagt. (Kleinere Vorlagen, Wahlprüfung Ahlwardts, Etat der Justizverwaltung.) Zu einer Debatte kam es nur bei der Novelle zum Postdampfergesetz. Staatssekretär von Stephan begründete den Entwurf. Schon bei der Einbringung des Postdampfergesetzes habe man an die Mittelmeer- und Samoa- Linie keine großen Hoffnungen geknüpft; aber die Erfolge seien noch hinter den Erwartungen zurückgeblieben, und des­halb empfehle er die Samoa-Linie durch eine Linie nach New-Gninea zu ersetzen und die Mittelmeerlinie ganz An­gehen zn lassen, gegen die Verpflichtung zum Anlaufen des Hafens von Neapel. Das Reich spare hierdurch jährlich die Summe von 300 üvv Abg. Bamberger (freis.) ver­spricht sich nichts von der Dampfersubvention und wünscht, man möge die New-Guinea-Linie ganz fallen lassen, von der höchstens die New-Guinea-Kompagnie Vorteil habe. Staats­sekretär tritt dem Vorredner entgegen und bittet, die indirek­ten Vorteile nicht zu vergessen, die dem Reiche durch eigene Dampferlinien erwachten. Große Kapitalien seien dadurch umgesctzt und viele neue Arbeitsgelegenheiten geschaffen. Abg. Graf HönSbröch (Ctr.) hält die New-Guinea-Linie im Interesse,

der dortigen Missionen, die schlechte Verbindung mit dem Mutterlande hätten, für notwendig. Geh.-Rat Kayser em­pfiehlt die Vorlage im Interesse des aufblühenden Deutschen Schutzgebietes auf New-Guinea. Abg. Barth (freis.) glaubt nicht, daß die Vorlage uns praktischen Nutzen bringt. Abg. Scipio (natlib) befürwortet die Vorlage im Sinne des Geh.-Rates Kayser. Der Entwurf wird hiernach der Budget­kommission überwiesen

DeutscherRerchstag. In der Montagssitzung ehrte der Reichstag das Andenken des verstorbenen Abg. v. B ö- dicker (Ctr.) durch Erheben von den Sitzen, beriet die Novelle zur Maß- und Gewichtsordnung in erster Lesung und erledigte verschiedene Berichte. Dann wurde der Bericht der Wahlprüfungskommission über die Wahl des Abg. Ahl­wardt (Antis.) verhandelt, nach welchem diese Wahl für giltig erklärt werden soll. Die Wahl wird für gilitig er­klärt, doch sollen Erhebungen über Wahlunregelmäßigkeiten erfolgen. Nach Erledigung des Justizetats vertagt sich das Haus. Abg. Knörcke (freis.) beantragte zur Ahlwardtschen Wahlprüfung Erhebungen über verschiedene Punkte des ein­gegangenen Wahlprotestes. Abg. Rickert (freis.) trat dem bei. Die Wahl wurde hierauf unter Annahme des Antrages Knörcke für giltig erklärt. Es wird die Beratung des Etats des Reichsjustizamtes begonnen. Auf Anregung des Abg. v. Bar (freis.) erwidert Staatssekretär Hanauer, daß eine Neuregelung der Strafprozeßordnung und des Straf­vollzuges bcvorstehe. Abg. v. Bar und Frhr. v. Münch bekämpfen das Duellwesen anläßlich verschiedener Fälle. Abg. Schräder (freis.) schließt sich den Klagen über die Duell­herausforderungen an und meint, mit gutem Willen sei die Reform des Strafvollzugswcsens recht gut durchzuführeu. Abg. Kunert (Soz.) beschwert sich über ungerechtfertigte staatsanwaltliche Maßregeln und über Durchschnüffelung seiner Wohnung bei einer Haussuchung. Er sagte, wenn er Ge­schworener wäre, würde er einen Menschen, der einen solchen Durchschnüffler über den Haufen geschossen habe, freisprechen. Abg. Gröber (Ctr.) rügt diese Aeußerung, die einer Auf­forderung zur Ermordung von mit Haussuchungen beauf­tragten Beamten gleichkomme. Staatssekretär Hanauer äußert sich über die Reform der Stcafprozeßordnung. Abg. Stadt­hagen (Soz.) bringt Klagen über die Parteilichkeit der Justiz vor. Schließlich wird der Etat genehmigt und die Weiterberatung des Reichshaushalts bis Dienstag vertagt.

Deutscher Reichstag. Der Reichstag ging am Dienstag zur Beratung des Etats des Reichsamtes des Aus­wärtigen über, der nach längeren Erörterungen genehmigt wurde. Mittwoch: Etat der Schutzgebiete. Staatssekretär von Marsch all teilt auf Anfrage des Abg. Scipio (natlib.) mit, daß die Anschuldigungen französischer Zeitungen, daß Deutsche dem Könige von Dahom y während seines Krieges mit Frankreich Waffen geliefert hatten, unbegründet seien. Auf die Nachricht von der Verhaftung deutscher Reichsange­höriger in Weidah durch die Franzosen hat die Reichsregie­rung sofort die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der Betreffenden ergriffen. Von den Verhafteten ist einer aus­gewiesen, wogegen sich nichts machen ließ, da dort Kriegszu­stand herrscht. Drei deutsche Faktoreien, welche von den Franzosen geschlossen waren, sind bis auf eine auf Juterven- tion der Reichsregierung wieder geöffnet. Auf eine Anfrage wegen des portugiesischen Staatsbankerotts erklärt der Staatssekretär, daß die Reichsregierung nach Kräften darauf bedacht bleiben werde, die Interessen der deutschen Gläubiger zu wahren. Da soeben in Portugal eine Ministerkrisis ein­getreten sei, so lasse sich der Ausgang der Angelegenheit noch nicht absehen. Hoffentlich würden die deutsche» Kapitalisten, welche ihr Geld in ausländischen Papieren anlegten, nun end­lich einmal klug werden. Abg. Graf Mirbach (kons) pro­testiert im Interesse der Landwirtschaft gegen Herahsetzung der deutschen Kornzölle gegenüber Rußland und fordert Aen- derung der Währung. Reichskanzler Graf Capri vi ver­liest eine Eingabe ostpreußischer Konservativer vom Mai 1892, worin dieselben die Beibehaltung der hohen Zölle nur Rußland gegenüber als eine Schädigung Ostpreußens bezeich­nen. Die Eingabe ist vom Abg. Graf Mirbach mit unter­zeichnet. Der Reichskanzler betont, nachdem Graf Mirbach heute das Gegenteil von seinen früheren Darlegungen aus­geführt, könnten seine Forderungen für die Reichsregierung kaum maßgebend sein. Abg. v. Kardorff (freikons.) spricht für die Beibehaltung der Zölle, Graf Mirbach fordert diesel­ben nochmals für die ganze Landwirtschaft. Reichskanzler Graf Caprivi antwortet, er habe dem agrarische» Baume schon so viel gute Erde zugeführt, daß er nicht wisse, woher er weiteres Material nehmen solle. In der Währungsfrage könne nichts ohne England geschehen. Vorschläge wegen Einführung internationaler Schiedsgerichte werden vom Reichskanzler und dem Staatssekretär als wenig praktisch und nützlich bezeichnet. Dann vertagt sich das Haus.

Gegen die Einwanderung russischer Ju­den in Deutschland gedenkt, wie verlautet, die konser­vative Partei demnächst eine Interpellation im Reichs­tage einzubringen.

Berlin, 28 Febr. Die Nationalliberale Kor­respondenz tadelt, daß Achr. v. Münch eine gute halbe Reichstagssitzung für die Darstellung seines Prozesses in Anspruch genommen habe. Es sei kein Wunder, wenn außer dem Redner und dem Bureau schließlich alles davonlaufe. Frhr. v. Münch brachte seine Beschwerden in sehr erregtem Tone vor. Desto kaltblütiger blieb der württembergische Bundesratbe­vollmächtigte v. Stieglitz. Der gesamte Reichstag stellte sich auf Seite des letzteren.

Besterreich-Nngarn.

In Wien taucht wieder das Gerücht auf, daß Kaiser Wilhelm den österreichischen Herbstmanövcrn beiwohnen und hierbei auch Pest besuchen werde. Wien, 27. Febr. Zahlreiche katholische Deutsch­

böhmen in den Gemeinden des Saazer und Komo- taner Bezirks drohen mit dem Uebertritt zum Pro­testantismus, falls dort czechisch gepredigt wird.

Wien, 28. Febr. Der frühere Minister v. Schmerling liegt im Sterben. er empfing vom Papste den Segen.

Die ungarischen Bischöfe sind zu einer Kon­ferenz zusammengetreten, welche sich gegen die Kirchen­politik der Regierung richtet. Samassa, Erzbischof von Erlau, verließ am Tage der Eröffnung der Konferenz Budapest; Bischof Pavel von Groß- wardein hat an den Primas ein Schreiben gerichtet mit der Angabe der Gründe, weshalb er den Be­ratungen fern bleibt.

Budapest, 28. Febr. Die Ortschaft Gevjen wurde durch das Hochwasser total vernichtet. Fast sämtliche Häuser wurden hinweggeschwemmt. Die Einwohner retteten kaum das nackte Leben. Biele Menschenleben sind zu Grunde gegangen. Auch aus anderen Punkten des Donaugebiets werden Verhee­rungen gemeldet.

Frankreich.

Paris. Der am Freitag erfolgten Wahl des Abg. Jules Ferry zum Präsidenten des Senates wird allgemein eine große politische Bedeutung bei­gelegt. Ob diese Annahme berechtigte Grundlagen hat, bleibt natürlich der Entscheidung späterer Tage Vorbehalten.

Der zweite Panamaprozeß gegen die Abge­ordneten, welche sich haben bestechen lassen, wird nun definitiv am 8. März seinen Anfang nehmen. Alle Berufungen gegen den Anklagebeschluß sind definitiv abgelehnt. Aber auch außer den in diesem Prozeß erwartenden Enthüllungen scheinen noch neue Skandalgeschichten bevorzustehen. Der Abg. An- drieux, welcher von den Boulangisten in einem Pa­riser Bezirk als Kandidat für die nächsten allgemeinen Wahlen aufgestellt ist, versprach in seiner Kandida­tenrede, zu geeigneter Zeit die Namen aller kompro- mitierten Abgeordneten mitzuteilen, die angeblich ein Drittel aller Parlamentsmitglieder ausmachen sollen. Ist dem wirklich so, dann wäre es gut, wenn der Allwissende Andrieux sofort mit der Sprache herausrückle.

DerFigaro" behauptet in einemViäi« Un­terzeichneten Artikel, daß nach den von Lesseps vor dem Untersuchungsrichter gemachten Aussagen Frey- cinet, Floquet und Clemenceau über die Panama­machenschaften genau unterrichtet gewesen seien, da sie 1888 bei beiden Lesseps eifrigst intervenierten, daß die Panama-Kompagnie den von Herz und Reinach angedrohten Prozeß vermeide.

Paris, 25. Febr. Charles de Lesseps kündigt kompromittierende Enthüllungen in der Gerichtsver­handlung an, besonders Clemenceau und Floquet.

Italien.

Der Papst hat von dem deutschen Kaiser zu seinem fünfzigjährigen Bischofsjubiläum einen kostbaren Ring erhalten. Das Kleinod ist von dem deutschen außerordentlichen Gesandten, General von Loö, dem Oberhaupte der katholischen Kirche in der feier­lichen Audienz vom Montag persönlich überreicht worden.

Rom, 27. Febr. General Loö nebst Gefolge wurde heute Mittag vom Papste in feierlicher Au­dienz empfangen. Loö stellte dem Papst das Ge­folge vor. Nach der amtlichen Audienz lud der Papst den General ein, ihm in seine Prioatgemächer zu folgen, wo sie eine Unterredung von einer halben Stunde hatten. Hierauf stattete Loö nebst Gefolge dem Kardinal Rampolla seinen Besuch ab.

Territet, 28. Febr. Der Kaiser von Oester­reich ist hier eingetroffen, Die Kaiserin, die bekannt­lich hier weilt, war ihm bis Lausanne entgegenge­fahren. Der Kaiser wird mehrere Tage in Territet bleiben. Man glaubt, der Zweck dieser Reise sei die Rückführung der in ihrer Gesundheit schwer an­gegriffenen Kaiserin.

Rumänien.

Bukarest, 1. März. Hierselbst wurden 150 Briefträger verhaftet, welche eine wohlorganisierte Diebesbande bildeten, indem sie die Beraubung der Postsendungen ausübten.

Hiezu das Unterhaltungsblatt Nr. 9. _

Verantwortlicher Redakteur Steinwandel in Nagold. Druck und Verlag der G- W. Zaiser'scheu Buchdruckerei.

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