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rechterhalten, welcher, wenn fortgesetzt, Europa mit Besorgnissen und Unbehagen erfüllte und demnach die guten Gesinnungen der Mächte gegen Bulgarien beeinträchtigen und das Land im entscheidenden Moment isolieren könnte, oder man müsse mit Rußland einen Ausgleich suchen, welcher durch aufmerksame Inbetrachtziehung der Bestimmungen des Berliner Vertrages und des Konstantinopeler Protokolls nicht unmöglich sei. Robilant bemerkte, Italien wolle keinen Rat erteilen, da es jeden Schein einer Einmischung in die inneren Angelegenheiten Bulgariens vermeiden wolle, welches allein über die geeigneten Mittel zur Erreichung eines Resultats zu beschließen habe.
Gcrges-Werrigkeiten.
Calw, 20. Jan. „Die gemeinnützigen Bestrebungen der Gegenwart" lautete das Thema des gestern abend von Herrn vr. Wislicenus gehaltenen Vortrags im Georgenäumssaale. Göthe, begann der Redner, habe in seinem „Faust" klar gelegt, daß alles Besitztum, die geistigen und alle weltlichen Genüsse den Menschen nicht so glücklich zu machen im Stande seien, wie das Bewußtsein, Gutes gethan zu haben. Institutionen beständen viele, welche uns in den verschiedensten Formen Gelegenheit hiezu geben. Die soziale Frage könne nicht durch einen Gedanken gelöst werden, so wenig als ein Bündel Stäbe auf einmal zerbrochen werden könne; man nehme deshalb einen Stab nach dem andern. In erster Linie behandelte der Vortragende die Frage, wie die reisenden Handwerksgesellen zweckentsprechend unterstützt werden können. Die Verabreichungen von Geld seien sehr zu tadeln, denn sie sind geeignet den Wandernden zum Vagabonden zu machen. Eine löbliche Einrichtung seien die in Württemberg bereits vorhandenen Verpflegestationen, die dem reisenden Handwerksgesellen, je nach Emtr.ffen, M ttag essen, Abendbrot und Nachtquartier gewähren, wodurch es Jedermann nicht mehr schwer werden dürfte, die Umschauenden, namentlich me stereo ypen Fechtbrüder, gegen welche diese Einrichtung ihre Sp tzs kehren soll, von der Thür zu weisen. Ein ausgiebiges Feld für Wohlwollende sei die Armenpflege am Orte selbst. Geld zu reichen sei auch hier, wie im vorerwähnten F-lle, das verkehrteste. Redner sprach von selbsterlebten Fällen, daß sogar M ß- brauch getrieben werde mit erbetteltem Brot; es hätten z. B Wirte oasselve um einige Pfennige sackoollweise gekauft, um ihre Schweine damit zu füttern. Dazu sei es den Bettelnden denn doch nicht verabreicht worden. Hier sei es geboten, daß für je zwei Arme ein Aimenpfleger angest.lll werde, damit im Falle eintretender Not rasch geholfen, rm andern F.lle zeitig gespart werde. In Düsseldorf und Krefeld habe man diese Einrichtung schon länger. Der Redner kam noch aus die Vorzüglichkeit de, Pfennig- sparkassen zu sprechen und schloß seinen Vortrag mit dem Wunsche, daß auch in hiesiger Stadt recht Viele dem edlen Zwecke, der Armenpflege, sich hingeben möchten.
Stuttgart, 20. Jan, Wenn Kinder zu begraben waren, welche rm Alter unter 3 Jahren gestorben sind, so wurde bisher meist der kleine Sarg von irgend jemand aus der Begleitung, die in einem L indauer o^er Droschke Raum fand, auf die Kniee genommen und so gings dem Friedhofe zu. Nach den Angaben von Gem.-Rat K. Stähle ist nun von Fabrikant O. Nägele für die Stadt ein neuer Kinderleichenwaqen konstruiert und ausgeführt worden Zwischen dem Sitze des Kutscheis und dem Raume der Begleitung ist eine Abteilung eingeschaltet worden, welche, würdig ausgestattet, bestimmt ist, den kleinen Sarg aufzunehmen und auf diesem Wege von der Begleitung zu trennen. Wenn wir daran ermn rn, daß diese Kinder an Scharlach, an Dyphteritis u. s. w. gestorben sein können, so wird man, im Interesse der Gesundheit der Überlebenden, dieser neuen Einnchtung eine vollkommene Berechtigung nicht absprechen wollen, uno bereus soll es nötig geworden sein, an die Nachbestellung eines wetteren derartigen Wagens zu gehen.
Stuttgart, 20. Jan. Gestern fand in Möhringen eine aus fast allen Filderorten zahlreich besuchte Vertrauensmännerversammlung der deutschen Partei statt. Nachdem der Vorsitzende der Partei, Herr G. Stälin, die Versammlung eröffnet hatte, empfahl er die Kandidatur des Herrn Geh. Kommerzienrats G. Siegle, die denn auch sofort die Zustimmung der Anwesenden fand. Sodann gab der Vorsitzende Herrn Oeko« nomierat Grub das Wort, welcher betonte, wie er mit Freuden in das Wahlkomite für Herrn Siegle eingetreten sei, weil er in demselben den Kandidaten erblickte, welcher ebenso nach der politischen als nach der wirtschaftlichen Seite hin volle Gewähr für die vorzügliche, Vertretung der Interessen des Wahlkreises biete. Jetzt gelte es, einmütig zusammenzustehen für das Gelingen der Wahl. Der Kandidat trat nunmehr selbst in die Versammlung ein, dankte in herzlichen Worten für das ihm geschenkte Vertrauen und betonte weiter, wie es ihm zwar aus geschäftlichen Gründen außerordentlich schwer gefallen sei, die Kandidatur aufzunehmen, wie aber endlich nur die Pflicht und die Rücksicht für das Vaterland alle Bedenken beseitigt haben. Er bat hierauf, es möge, wer auch immer sein Gegner sein werde, der Wahlkampf in aller Sachlichkeit und mit Vermeidung aller und jeder persönlichen Angriffe geführt werden. Es folgte nun eine Reihe zustimmender Reden von Vertretern aus Möhringen, Vaihingen, Waldenbuch, Plieningen, Echterdingen; insbesondere trat noch Herr Rechtsanwalt L a u t e n s ch l a g e r für die Kandidatur Siegle ein. Hierauf wurde ein aus Mitgliedern der verschiedenen Gemeinden zusammengesetztes Filverkommite gebildet und die nötigen Schritte zur Wahlagitation getroffen. Dr. Karl Elben brachte zum Schluß auf den Kaiser ein Hoch aus, das herzlichsten Beifall fand.
Ehningen, 18. Jan. Heute nacht 12 Uhr ertönte Feuerruf durch die Straßen, und gleich darauf riefen die Hornzeichen und Glockengeläuts die Schläfer aus den Betten. Es brannte in einem von 3 Familien bewohnten zweistöckigen Hause mit Scheuer im Rangenweg. Bis jedoch die Feuerwehr mit ihren Gerätschaften auf den Platz kam, war das Feuer bereits von den herzueilsnden Nachbarn gelöscht, uno die Mannschaften konnten um halb 1 Uhr wieder nach Hause gehen. Das Feuer ist in der Bühnenkammer ausgebrochen, doch ist über die Entstehung desselben noch nichts bekannt.
Neckargröningen, 17. Jan. Auf der k. Domäne Thennhof bei Oeffingen (Cannstatt), die zur Zeit von der Zuckerfabrik Stuttgart in Pacht genommen lst, hat sich heute ein bedauernswerter Unglücksfall zugetragen. Der fleißige Rammhofer aus Aldingen a. N., der darauf angewiesen ist, ourch seiner Hände Arbeit sein Fortkommen zu suchen, kam dort der Dreschmaschine zu nahe, und diese riß ihm die rechte Hand beinahe vollständig vom Arme. Trotz des bedeutenden Blutverlusts und der großen Schmerzen hatte oer Verunglückte noch Kraft und Mut genug, um sein Hnmatsdorf, das etwa Vs Stunde entfernt liegt, auf- und dort die erste ärztliche Hilfe nachzusuchen.
Heidenheim, 19. Jan. Zufolge einem an den Vorstand der hiesigen deutschen Partei gelangten Schreiben hat Herr v. Fischer die Kandidatur für den X«V. württ. Reichstagswahlkreis wieder angenommen. Von einem Gegenkandidaten ist offiziell noch nichts bekannt; es wird allgemein vorausgesetzt, daß Herr Hähnle wieder auftreten wird.
Ehingen, 19. Jan. Wie verlautet, wird für den XV. Reichstagswahlkreis (Blaubeuren, Ehingen, Laupheim, Münsingen) von klerikaler Seite Stadtpfarrer Dr. Saut er in Laupheim als Kandidat aufgestellt.
Ulm, 18. Jan. Heute abend 6 Uhr 40 Min. waren die auf dem hiesigen Bahnhof-Perron anwesenden Personen Augenzeugen einer aufregenden Scene. Em Herr E. aus München wollte trotz der Warnungsrufe in den bereits im Gang befindlichen Stuttgarter Zug springen; er glitt auf dem Trittbrett des Postwagens, dessen Haltestangen er zu ergreifen vermochte, aus, kam auf das Trittbrett zu liegen und wurde so die ganze Länge des Bahnhofaebäudes geschleift, ohne jedoch irgendwelche Verletzung davonzutragen. Auf das Hilfegeschrei der Zuschauer, sowie das gegebene Notsignal hin wurde der
Willen in den nicht beabsichtigten Betrug Hineintrieben — auch sie erkennt und durchschaut sicherlich Alles. Hoffe nur auf morgen!"
Elisabeth wiedersprach nicht, aber tief im Innersten ihres Herzens fühlte sie die Vergeblichkeit dessen, was etwa jetzt noch kommen konnte. Zwischen ihr und der Zukunft stand unübersleiglich die Schande, die Schuld der Vergangenheit.
Es war ein bitterer und brennender Schmerz, nnt dem Elisabeth am Abend dieses Tages ihre kleine Gartenwohnung wieder betrat. Rings das Blühen der Natur und die heimlich lauschige Stille des engen Raumes, die ganze erregende, so mächtig wirkende Schönheit des beginnenden Herbstes, rings tiefer Friede, und in ihrer kummerschweren Seele das Bewußtsein des Todes, des ewig verlorenen, verscherzten Glückes.
Sie ging durch sein Visitenzimmer, zu dem Operationstisch mit all' den kleinen kostbaren Instrumenten, die außer ihr Niemand berühren durste, zu seinen Büchern, die sie selbst abzustäuben und täglich zu ordnen pflegte — im Fenster stand heute unbeachtet geblieben die lange Troddelpfeife, welche ihre Hand für ihn am Morgen wie gewöhnlich stopfte — aus jedem Gegenstand, aus jedem Schatten in den Ecken sprach seine Nähe — nur er selbst fehlte.
Für immer! — Sie wußte es nur zu wohl, für alle, alle Ewigkeit!
Und mehr noch! Hätte er äußerlich verziehen, wäre scheinbar sein Verhältnis zu ihr das gleiche geblieben — müßte nicht dann die Wirklichkeit um so schwerer, um so unerträglicher die Herzen gequält und zerrissen haben?
Es gab über das Geschehene hinweg von ihm zu ihr keine Brücke; das Leben besitzt kein Mittel, um Totes, Gestorbenes wieder zu erwecken.
Elisabeth entzündete kein Licht, sie ergriff im tiefen Dunkel des Schlafzimmers das Kissen, auf welchem sein Kopf zu ruhen pflegte, und preßte ihr thränennasses Gesicht hinein, um ungestört zu schluchzen bis an den Morgen.
Es war ein lauter, gellender Schrei von den Lippen des Dienstmädchens, der ihren wirren, unruhigen Halbschlummer unterbrach. Sie fuhr auf. Dämmernder Tagesschein drang durch die Fenster, draußen ertönte das Alltagsgeräusch des neuen Morgens — was war geschehen?
„Frau Doktorin!" rief oben das Dienstmädchen. „Frau Doktorin, um Gotteswillen, kommen Sie her!"
Elisabeth flog die Treppe hinauf, unbekümmert um ihren Anzug, ihr verwirrtes Haar, die dem Mädchen verraten mußten, daß sie nicht geschlafen hatte. Eine entsetzliche Angst schnürte ihr die Kehle zusammen, raubte ihr Ruhe und Ueberlegung. Sollte Julius auch durch sie die geliebte alte Mutter verlieren?
Aber das Mädchen stand händeringend in der Thür von Tante Josephinens Zimmer. Sie deutete zitternd in den matterhellten Raum hinein.
„Sehen Sie nur, Frau Doktorin — sehen Sie nur!"
Am Fenster saß, immer noch in derselben Stellung wie gestern, Fräulein Haberland. Ihr Gesicht grauweiß, die Hände waren leicht gefaltet und der Kopf etwas nach vorn geneigt — kein Zeichen deutete an, daß sie seit gestern Abend ihren Platz verlassen hatte.
Elisabeth blieb von Schauder ergriffen neben dem zitternden Dienstmädchen auf der Schwelle stehen.
„Tante!" sagte sie leise, „Tante Josephine!"
Nichts im Halbdunkeln Zimmer regte sich.
„Sie ist tot!" raunte das Mädchen.
In diesem Augenblick teilte sich am östlichen Himmel der hellumsäumte Wolkenstreif und ein erster Sonnenstrahl drang voll und goldig über die Baumwipfeln des Gartens bis in das kleine Zimmer und bis zu dem Sessel in der Fensternische, zu der stillen Gestalt, die unter seinem Schimmer nicht mehr erwachen, nicht in den Kreis des Tages zurückkehren sollte.
Langsam, mit vorgestreckten Händen, ging Elisabeth durch den engen, mit tausend kleinen Reliquien vergangener, glücklicher Jugendzeit angefüllten Raum; langsam näherte sie sich seiner Bewohnerin, der einsamen Alten, welche ihr Verbrechen in den Tod getrieben.
„Tante Josephine!" wiederholte sie fast schluchzend.
(Fortsetzung folgt.)