— 604 —
Rußland.
— In einem Petersburger Brief der „Straßb. Post- heißt es: Ale. xander M. hat sich von dem Schrecken erholt, den ihm die Thaten der Nihi. listen eingefiößt haben — jetzt beginnt er wieder freier zu atmen, und man spürt wieder etwas von dem frischen, kräftigen Wesen an ihm, das ihm in seinen Thronsolgerjahren eigen war. Sein Kampf mit den Nihilisten war nicht erfolglos: in aller Stille sind sie von der Bildfläche verschwunden, man hört und sieht nicht mehr viel von ihnen. Und zwar hat hier nicht bloß Sibirien und der Galgen seine Wirkung gethan, sondern die staatszersetzende Keimbildung hat wiiklich nachgelassen, die Denkweise der russischen Jugend ist eine andere geworden. Der Kaiser paßt mit seinem Wesen und Charakter ganz in die gegenwärtige Epoche des russischen Volkslebens hinein. Die bul- garische Frage gibt Alexander dem III. zum ersten Male Gelegenheit, etwas Selbständiges zum Ruhme Rußlands zu thun. Besteht auch diese That vorläufig nur im Drohen, so fühlt sich jeder Russe doch geschmeichelt bei dem Gedanken, daß Europa aushorchen muß beim Räuspern des nordischen Riesen. Man hat Achtung bekommen vor dem Kaiser, man achtet in ihm den Mann von Temperament, und selbst der liberalste Russe ist doch immer noch so sehr Russe, daß er lieber einen schneidigen Autokraten als einen willenlosen Weichling an der Spitze des Reiches sieht. Man sehe, wie die liberalen russischen Zeitungen sich auf einmal für die bulgarische Politik des Zaren erwärmen, wie die russischen Philister voll Begeisterung von einem kriegerischen Zusammenstoß mit den Westmächten schwärmen und den Ausgang desselben ihren Betrachtungen unterziehen. Wenn nur erst die Dinge in Deutschland eine andere Wendung genommen haben, dann wird dieses Oesterreich schon zu Kreuze kriechen. Man wech, daß der Zar vor Kaiser Wilhelm eine ungewöhnliche Hochachtung hat, niemals würde er zu dessen Lebzeiten mit dem Westen anbmden. Alexander lll. sieht in dem deutschen Kaiser eine Verkörperung jenes politischen Prinzips, dem er selber huldigt: der freien, unabhängigen, möglichst uneingeschränkten Souveränetät. Er weiß, daß die Kraft des deutschen Volkes in seiner Armee steckt, und daß inmitten seiner Soldaten der deutsche Kaiser zugleich unbeschränkter Herrscher und oberster Kamerad ist. Das Ideal des Zaren ist es, die altererbte Popularität des patriarchalischen Zarentums mit dieser neumodischen Volkstümlichkeit des Soldatenkaisers zu verbinden.
Bulgarien.
— Ein Mitglied der bulgar. Deputation, Grekow, hat dem „Times Korrespondenten" erklärt, daß Bulgarien in finanzieller Hinsicht das Schmie- rigste überwunden habe, da sich 6 000000 Franks im Staatsschatz« befinden und keine große Ausgaben bis zum Frühjahr notwendig sein würden, zu welcher Zeit 8000000 Franks für die Eisenbahnarbeiten zu zahlen sein werden. — Was die angeblichen, von russischer Seite gemeldeten Mißhandlungen von Gefangenen in bulgarischen Gefängnissen betreffe, so seien die Nachrichten hierüber erfunden. Stoilow erklärte, daß sich nur 42 Personen wegen Teilnahme an den von Kaulbars erregten Unruhen in den Gefängnissen befinden, und da diese stets für die fremden Konsuln offen zur Inspektion seien, so hätten die Konsuln sich leicht davon überzeugen können, wenn wirklich Mißhandlungen vorgekommen wären.
Gcrges-WerrigKeiten.
Athengstett. (Darlehensverein.) Noch dürften manchem Zeit« ungSlejer die Resultate im Gedächtnis sein, welche die von der König!. Regierung bestellte Kommission über den Ecfund des Notstandes der Landwirtschaft unseres Landes veröffentlichte. Daß diese seit verschiedenen Jahren unter keinen beneidenswerten Verhältnissen arbeitete, konnte jeder wahrnehmen, der offenen Sinn und ein warmes Herz für unfern Nährstand hatte. Um so willkommener ist daher die Aussicht, vom kommenden Etatsjahr an die neue Grundsteuerquote angelegt zu sehen, wodurch endlich unsere ländliche Bevölkerung einem leidlicheren Steuersuße unterliegen wird. Wenn ihr auch schon
einsammung oder noch Schlimmeres die Herzen heimlich quält, so überaus nahe liegt, wie es unmerklich gerade den guten Menschen fesselt, ehe er sich selbst dessen bewußt wird.
Aus seiner Häuslichkeit verscheucht durch Elisabeth's kaltes Schweigen, fand Julius, so oft er die Fremde besuchte, nicht allein ein kindlich liebenswürdiges, dankerfülltes Herz, sondern auch das, was er so sehr liebte: eine kräftige, frische Gesundheit der Seele. Anna stand im Leben ganz allein, sie mußte sich ihren Weg selbst -ahnen, aber dennoch war ihr alle Furcht fremd.
„Was gibt es", hatte sie eines Tages gefragt, „das auch eine Blinde thun könnte um Geld zu verdienen? Man muß alle Möglichkeiten in's Auge fassen."
Damals fühlte er wie theuer sie ihm war.
„Denken Sie nicht daran, Anna!" sagte er gepreßt. „Ich werde Ihnen Ihre Augen erhalten, oder — mich selbst einen Pfuscher nennen, der an der Chaussee Steine klopfen, aber sich nicht einbilden sollte, ein Arzt zu sein."
Je weiter die Kur fortschritt, desto häufiger kam Julius. Was ihm in seinem eigenen Hause fehlte — das Behagen des Berstandenseins, die echte, wirkliche Sympathie der Seelen — das fand er hier. Wenn es sich um den Erfolg der angewendeten Mittel handelte, dann konnte im schwersten entscheidenden Augenblick das junge, der entsetzlichen Gefahr preisgegebene Wesen mit seiner heiteren Ruhe das Zittern verbannen, welches ihn selbst überfiel.
„Sie werden mich nicht verzweifeln sehen, auch wenn Alles mißlingt, Doktor, Es ist dann mein Schicksal und ich trage es — seinen Frieden hat jedes Loos, so lange wir es freiwillig auf uns nehmen."
Wie jubelte er dann, wenn das kecke Wagnis zu gelingen schien, wie begann er allmählich den Tag zu fürchten, an welchem ihm das junge Mädchen auf immer entrückt werden würde.
„Eigentlich wünschte ich Unterricht im Zeichen zu geben", sagte sie eines Tages. „Das ist bei mir so ein kleines bescheidenes Talentchen — aber ich darf es ja wohl nicht? Die Gefahr schwebt so lange ich lebe über meinem Haupte."
bisher von verschiedenen Seiten Hilfe gebracht wurde, wobei die segensreiche Thätigkeit der landwirtschaftlichen Bezirksvereine keineswegs zu vergessen ist, so blieb doch immer noch die Hauptsorge um das notwendige baare Geld. Es tagten daher unter dem 18- Juli d. I. in der Liederhalle zu Stuttgart die Vertreter von ca. 140 Vereinen, welche sich die Aufgabe stellen, ihren Mitbürgern flüssiges Geld zu Anschaffung landwirtschaftlicher Bedürfnisse aller Art, häuslicher Ausgaben in Konsumartikeln und pünktlicher Einhaltung übernommener Verbindlichkeiten zu verschaffen. Vater dieser Vereine ist bekanntlich der preußische Schultheiß Raiffeisen, heute in Neuwied. Dieser war in den bekannten Hungerzeiten der 50er Jahre Stadtschultheiß auf dem armen und rauhen Westerwalde zu Flammersfeld, wo die Armut in Folge der Handelsbeziehungen seiner Gemeindebauern mit den Juden so weit Platz gegriffen hatte, daß keiner mehr einen Kredit von auch nur einem Pfennig hatte. Raiffeisen gründete nun mit vieler Umsicht und unsäglicher Mühe die ersten Darlehenskassenvereine, um seinen Bauern unter die Arme zu greifen und sie dem Netze der Wucherer zu entziehen. Diese Vereine arbeiten mit solchem Geschick und Vertrauen, daß sie sich bereits auch in Württemberg eimvurzeln und schon manche bedrohte Existenz gerettet haben. Auch hier wurde ein solcher Verein schon seil Jahren besprochen, ohne viel Geneigtheit zu finden. Allein die Not greift oft rascher nach dem Guten, als die Unkenntnis und falsche Vorurteile. Die niedrigen Preise der Früchte, die oft seltene Verkaussgelegenheit, der obstarme Herbst, — der allein auf hiesiger Station 35 Wägen Obst die Thüre öffnete — Uebervorteilung im Handel, das Mißtrauen vieler Gläubiger, den Landwirten Geld zu leihen, haben manchem die Augen geöffnet und eine Geneigtheit wachgerufen, welche vor kurzer Zeit noch nicht geglaubt worden wäre. Als daher am 24. November durch einen Vortrag die Bedürfnisse, der Zweck, das Ziel und die Beschaffenheit eines Darlehensvereins klar gelegt war, vereinigten sich alsbald 40 Bürger, den hiesigen Bedürfnissen mit ihrem etwa 150,000 ^ betragenden dispositionsfähigen Vermögen entgegen zu kommen, so daß der beabsichtigte Verein jeden Tag ins Leben treten kann. Selbst die König!. Centralstelle für Landwirtschaft stellte bereitwilligst den Inspektor der württb. Darlehensvereine , Herrn Landwirtschaftsinspektor Leeniann in Heilbronn, zur Verfügung, sobald derselbe die Ferien des Reichstages angetreten haben werde. Sollten sich daher durch diese Zeilen noch weitere Gemeinden im Bezirke veranlaßt sehen, mit der Gründung eines derartigen Vereins vorzugehen, so hätten sie die erwünschteste Gelegenheit erfahrenen Rat in Wort und That und in der Einleitung in die Geschäfte eines Vorstandes und Rechners zu verwerten, wenn Herr Leemann die hiesige Gemeinde mit einem Besuche beehren wird. Den hochherzigen Bürgern aber alle Anerkennung, die durch ihren Beitritt dem Verein einen glänzenden Kredit in Aussicht stellen und die bösen Zungen nun gründlich beschämten. Der Gemeinde selbst endlich ist zu einem Ortsvorsteher zu gratulieren, der die Bedürfnisse seiner Zeit und Gemeinde so rückhaltlos zu befriedigen weiß.
Stuttgart, 12. Dezbr. (Landgericht.) Wegen angeblicher Wässerentwendung und Beihilfe dazu standen am Freitag der 43jährige Bierbrauereibesitzer Gustav Widmaier in Magstadt, der ein Vermögen von 150,000 besitzt, und der Wagner und Brunnenmacher Jakob Schmid, 43 Jahre alt, ebendaselbst vor der 1. Strafkammer. Der Erstere hat nämlich eine eigene Wasserleitung, welche neben der kommunalen herlauft; die Brunnenstuben beider sind nur 9 Ctm. weit auseinander und Widmaier hatte den Schmid im November 1883 beauftragt, heimlich eine Verbindungsröhre zwischen der Gemeindeleitung und der seinigen herzustellen, auch eine Stauvorrichtung zu machen, mittelst der das Wasser in dem Reservoir der Gemeinde sich stauen und dadurch in die Leitung des Widmaier überfließen mußte. Im Mai 1886 kam das heraus und nun behauptete Widmaier, er habe die Stauvorrichtung noch nie benützt, das Verbindungsrohr nur zu dem Zwecke einsetzen lassen, um sich dann an der Gemeinde schadlos zu halten, wenn ihm durch einen Hydranten, den die Gemeind» an seiner Wasserleitung angebracht hatte, zu
i » . -n.»> »> >>. >. -> .. -
I Und als er zögerte, da brachte ihm ihr Lächeln die verlorene Fassung zurück.
„Es darf mich nicht beherrschen, Doctor, es darf nicht zur Bürde werden! Ich kann auch spielen und noch manches Andere — ein Ausweg findet sich."
„Und das sagen Sie so getrost, während doch zwischen Ihnen und dem Schlimmsten nur ein armer, seiner Machtlosigkeit sich schmerzlich bewußter Mensch steht, Anna — ein Mann, der wahrhaftig sein Bisschen Wissen verwünscht, weil es nicht ausreicht, die Gefahr vollständig zu beseitigen."
„Ja", nickte sie, „ich sage es getrost. Sollte meine Seele trauern in der Furcht, daß einst ein Stück Brot fehlen könnte? — Ich habe Sie kennen gelernt — das ist schon die erste köstliche Frucht des Unglücks."
Er sah sie an, jäh von Entzücken erfaßt; ihr offener, unschuldiger Blick erst brachte ihn wieder zu sich selbst.
„Es wird Alles gut", sagte er tief athmend. „Weshalb wollen wir vom Geldverdienen sprechen? Bis dahin ist's weit."
Etwas wie die halbverworrene Idee, ihr seine Hilfe auch in dieser Beziehung zu sichern, durchblitzte das Bewußtsein des jungen Mannes, aber er gab dem Gedanken keine Worte, sondern überwachte nur doppelt sorgfältig die Kur, deren Erfolg sich sicherer und sicherer herausstellte. Anna lemte es, kleinere Gegenstände zu unterscheiden; sie erkannte ihn schon auf der Straße, und konnte endlich Gedrucktes lesen — ihre Heilung erregte in ärztlichen Kreisen ein allgemeines Aufsehen. Was Julius der Tante vorausgesagt, um sie günstig zu stimmen, das traf vollständig ein: seine Praxis vergrößerte sich so, daß er bereits daran denken durste, zu Gunsten der Augenklinik alle anderen Patienten aufzugeben.
Und doch brannte in seiner Seele eine geheime Wunde. Während ihn fremde Menschen beglückwünschten und seine Freude verstanden und teilten, blieb Elisabeth bei ihrer abweisenden, kühl verächtlichen Haltung. Sie hatte den Kopf verloren, die Arme, sie verscheuchte ihn aus ihrer Nähe täglich immer mehr.
(Fortsetzung folgt.)