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wäre auch eine wahnwitzige Verblendung, wenn man etwa im Ausland infolge der Parteikämpfe im Reich zu falschen Schlüssen gelangen sollte. Der Reichstag müsse sich aber eine gründliche Prüfung der Vorlage in jedem Fall vorbehalttn und könne deshalb eine schleunige Durchberatung derselben nicht in Aussicht stellen. Was die Begründung des vorliegenden Gesetzentwurfes anlange, fo sei es zwar richtig, daß man die Heeresstärke Frankreichs wie die Rußlands in Betracht ziehen müsse, doch dürfe man dabei auch die Kräfte des uns verbündeten Oesterreich-Ungarn nicht außer Acht lasten, andernfalls würde diese Allianz ohne jede Bedeutung sein. Sollte sich eine Erhöhung der Heeresstärke als unabweisbar ergeben, so werde man auch eine Verkürzung der Dienstzeit ins Auge fasten müssen; die Frage der zweijährigen Dienstzeit stehe nach seiner Ansicht nicht im Widerspruch mit der gegenwärtigen Heeresorganisation. Die Festsetzung des Septennats sei wesentlich nur historischer Natur, als eine dauernde Einrichtung sei sie auch 1874 nicht in Betracht gekommen. Dann wurde die Beratung auf Sonnabend vertagt.
Reichstag. Sitzung vom Samstag. Die Beratung über die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres wird fortgesetzt. Abg. Dr. Windt- horst, (Centrum): Bevor er auf die Vorlage eingehe, 'unterlasse er es nicht, vorauszuschicken, daß seine Freunde kein Opfer für die Selbstständigkeit und Sicherheit des Vaterlandes scheuen, so groß es auch sein möge. Es werde jedoch nicht nützlich sein, die vom Kriegsminister verlangten Geld- summen demselben gleichsam unter den Tannenbaum zu legen. Auf gründliche, sachgemäße Berathung wolle Niemand verzichten, somit sei eine Erledigung der Frage vor Weihnachten ausgeschlossen. Wenn wir Jahr für Jahr unsere Friedenspräsenz vermehren, so wird sich das Verhältniß zu den Nachbarstaaten nicht ändern, denn wenn wir 50,000 Mann mehr bewilligen, so bewilligt Frankreich noch mehr. Kein Land könne sich so stark in Waffen machen, daß es ihm gegenüberstehenden Koalitionen gewachsen sei; da müsse die Diplomatie helfen. Abg. Dr. Graf von Molt ke: Ich möchte Ihnen doch die Vorlage der Regierung recht angelegentlich empfehlen. Mann kann es ja beklagen, daß wir genöthigt sind, einen großen Theil der Einnahmen des Reiches anstatt auf den Ausbau im Innern für die Sicherung nach Außen zu verwenden; das wird aber bedingt durch allgemeine Verhältnisse, die wir abzuändern ganz außer Stande sind. Ganz Europa starrt in Waffen, wir mögen uns nach links oder rechts wenden, so finden wir unsere Nachbarn in voller Rüstung, in einer Rüstung, die selbst ein reiches Land auf die Dauer nur schwer ertragen kann. Das drängt in Naturnothwendigkeit auf baldige Entscheidungen hin, und das ist der Grund, weshalb die Regierung schon vor Ablauf des Septennats eine Verstärkung der Armee verlangt. Noch in diesen Tagen seien erhebliche Anforderungen des französischen Kriegsministers anstandslos von den Kammern bewilligt worden. Man hat uns den Rath gegeben, uns mit Frankreich zu verständigen, dies wäre ein Segen und eine Bürgschaft für den Frieden in ganz Europa, allein so lange die öffentliche Meinung in Frankreich ungestüm die Rückgabe der beiden Provinzen verlangt, die wir fest entschlossen sind, niemals herauszugeben (leb» Haftes Bravo), sei eine Verständigung unmöglich. Man weist uns auf unser Verhältniß zu Oest re ich; dieses Bündnis sei sehr wertvoll, im gewöhnlichen Leben sei es aber nicht gut, sich auf fremde Hilfe zu verlassen. Die finanzielle Seite der Sache in Betracht ziehend, verkenne er gewiß nicht, die große Wichtigkeit einer guten Finanzlage, aber im Kriege, wo es sich um Entscheidungen handle, seien Patronenhülsen doch die gangbarsten Papiere. Ein unglücklicher Krieg zerstöre die beste Finanzwirtschaft. Es sprachen noch Grillenberger (Sozialdem.), Marquardsen (nationall.). Hierauf wird in Gemäßheit des zuerst von dem Abg. Graf S aldern-Ahlimb estellten Antrages die Vorlage an eine besondere Kommission von 8 Mi tgliedern zur Vorberathung überwiesen.
Hages-Werrigkeilen.
Biberach, 3. Dez. Die gestrige Monatsversammlung der Deutschen Partei war trotz des schlechten Wetters sehr zahlreich besucht. Auf der
T.O. befanden sich folgende Sätze: 1) die neue Militärvorlage und die Parteien des Reichstages, 2) Politischer Monatsbericht. Nach freundlicher Begrüßung durch den Vorsitzenden, Rektor Mayer, gedachte derselbe in ernsten Worten des vor wenig Tagen verstorbenen treuen Parteigenoffen, des Hospitalpflegers Goll, dessen Andenken durch Erheben von den Sitzen gefeiert wurde. Die neue Militärfrage beleuchtend, bemerkt der Vorsitzende, daß diese ihre erste Begründung in der vermehrten Bevölkerung des deutschen Reiches findet. Ihre zweite aber in den großartigen Rüstungen Frankreichs und der mehr als bedenklichen Politik des russischen Czars. Redner wünscht genaue Prüfung der Sache, aber selbst wenn die Nation weitere Opfer bringen muß, niemals eine Schwächung der Armee, in deren Schlagfertigkeit und Stärke das Wohl des deutschen Reiches und der Friede Europas begründet ist. Wir ersehen dabei, daß der Aufwand, welcher auf die Heere der vornehmsten Staaten Europas gemacht wird, sich auf den Kopf wie folgt beziffert: In Deutschland 9 Frankreich 20 , England 19 Oestreich 15 Rußland 15.
Nach klarer, eingehender Beleuchtung dieses so wichtigen Gegenstandes wird nun die Stellung der einzelnen Parteien im Reichstage zu dieser Vorlage beleuchtet und der Wunsch lebhaft betont: es möchten im Reichstage Beschlüsse gefaßt werden, würdig des Reiches und würdig der Nation. Der nun folgende politische Monatsbericht gibt ein klares Bild der Weltereigniffe, welche der November bot. Die schmähliche Behandlung des bulgarischen Volkes durch Kaulbars, die Handlungsweise des Czars, der über seine Minister hinweg direkt mit der Republik Frankreich über die Schutznahme russischer Unterthanen in Bulgarien und Rumelien unterhandelte, das Gebühren der Republik Frankreich, die nur von Rache gegen Deutschland träumt, das männlich schöne Auftreten Kalnokys in den östr. - ungarischen Delegationen: die Schilderung dieser Dinge wirkte zusammen, um den zahlreichen Zuhörern die gegenwärtige Sachlage im Orient genau zu zeichnen. Noch folgte die Besprechung von Parteiangelegenheiten und erst nach 2 Stunden konnte der Redner sich Ruhe gönnen. Ein jubelnd Hoch lohnte, nach dankender Ansprache eines Parteigenoffen, den unermüdlich thätigen Vorsitzenden. Eia Toast auf unfern Reichskanzler wurde freudig ausgebracht und der Abend nach Austausch manch ernsten Wortes der einzelnen Gruppen beendet.
Isny, 2. Dez. Auch hier wurde ein Erdftoß Sonntag, 29. Nov., verspürt und zwar nach Eisenbahnzeit genau 3 Minuten nach 11 Uhr. Er dauerte gegen eine halbe Minute, dabei klirrte eine Thür, wie wenn man in einiger Entfernung telegraphieren hörte.
Brüssel, 3. Dez. Einer der Millionendiebe ist gestern in London verhaftet worden.
— Aus Rom, 1. Dez., wird der N. Fr. Pr. gemeldet: Gestern nacht wurde der Dampftramwayzug Mailand-Pavia bei dem Dorfe Binasco überfallen. Man hatte Steine über die Schienen gelegt, um eine Entgleisung herbeizuführen. Die Maschine trennte sich jedoch nur vom Zuge, auf welchen sich dann ein Haufen von Leuten mit Stöcken und Steinen stürzte. Karabinieri schritten ein und stellten die Ruhe wieder her. 4 Verhaftungen wurden vorgenommen. Die Ursache des Ueberfalles ist der Haß der Fuhrleute gegen die Tramway.
London, 2. Dez. In der Kohlengrube Elemarg bei Durham fand heute eine Entzündung schlagender Wetter statt. In der Grube befanden sich 40 Arbeiter, wovon 3 getötet wurden; 12—14 sind noch verschüttet, die übrigen wurden gerettet.
Oeorgenüum Cakw.
Donnerstag, den 9. Dezember, abends 8 Uhr,
öffentlicher Vortrag
des Afrikareisenden, Herrn Küntzel, über seine Reisen in Ostafrika, insbesondere über das vom deutschen Kolonialverein erworbene Wituland.
„Statt beso»d«r.er Meldung allen Freunden und Bekannten die Nachricht I „unserer heute vollzogenen ehelichen Verbindung.
„JuliusHartmann, Doktor der Medizin,
„Elisabeth Hartmann, geb. Herbst."
Das Schweigen, welches den Worten folgte, war so auffallend, daß die Diakonissin fragend zu ihrem Schützling hinübersah.
Anna hielt immer noch die Hände gefaltet; auf ihren kindlich offenen Zügen lag der Ausdruck wehmütigen Ernstes; das große lichtlose Auge sah wie träumend in's Leere.
„Anna", flüsterte nach längerer Pause die Pflegerin, „steckt vielleicht doch hinter dieser Namensähnlichkeit ein Geheimnis? Ist die jetzige Frau Hartmann eine Verwandte von Ihnen?"
Leichte Röte flog über das Antlitz des Mädchens. Sie schüttelte den Kopf.
„Sie gehört nicht zu meiner Familie — ich weiß es gewiß, liebe Julie. Sei sie, wer sie wolle — zwischen ihr und mir besteht keine Verwandtschaft."
Sie stand auf und ging langsam durch das Zimmer.
„Julie, beschreiben Sie mir, wie der Doktor aussieht. Er ist groß, nicht wahr? — Das konnte ich erkennen — und er hat gewiß schöne, treue Augen?"
„Einen milden, herzgewinnenden Blick", versetzte mit leisem Seufzer die Diakonissin. „So gut und freundlich, ein so vortrefflicher Mensch, wie er ist selten Jemand."
Die Blinde trat ihrer Pflegerin näher.
„Weshalb sagen Sie das in so wehmütigem Ton, Julie?" fragte sie lebhaft.
Die Diakonissin schwieg längere Zeit; dann versetzte sie halblaut:
„Weil mich der Name des Doktors an so Manches erinnert, liebe Anna. Auch ich war ja einst jung und lebensfroh, ein glückliches, vielleicht gar hübsches Mädchen, das voll Hoffnung der Zukunft entgegensah; — ich will es Ihnen mit kurzen Worten sagen", fuhr sie fort. „Unter den Genossen der Kindheit befand sich einer, dem mein Herz gehörte und der mich liebte, seit wir beide zusammen in die Schule gingen. Der arme Johannes war kränklich, seine Brust barg dm Tod —
das wußte ich immer schon — aber doch hing meine ganze Seele an ihm, und wie ich damals nur für ihn lebte, so ist es heute sein Andenken, dem ich treu bin und bleiben werde, wie oft hat ihn Julius Hartmann verteidigt, wenn der Uebermut der Andern seine Schwachheit verhöhnte, wie oft hat er für meinen armen Freund geduldig eine Strafe erlitten! — Und dann, als er während seines letzten langen und einsamen Krankenlagers hier im Spital als Arzt am Bette des Dulders stand, da war er es, der ihm treulich die schweren Stunden ertragen half, ihm den Schlaf seiner Nächte und die seltenen Augenblicke der Muße fast ein Jahr hindurch opferte, und in dessm Armen Johannes zur letzten Ruhe einging. — Ich kam später als eine Pflegerin hierher. Dies Haus ist die Stätte, an der ich mein Leben beschließen will, eben jener Erinnerung willen. — Der Doktor weiß davon Nichts, und er braucht es natürlich auch nicht zu erfahren, aber als ich ihn zum letzten Mal so unerwartet wiedersah, da war mir's doch, als ob all' das alte Leid plötzlich aus seinem Schlummer erwachte. Möchte Julius Hartmann glücklich werden — ich wünsche es ihm von Heizen, allein des armen Johannes wegen!"
„Amen!" flüsterte die Blinde, indem sie gerührt der Diakonissin die Hand reichte. „Ja, ja, möge er glücklich werden!"
Auf dem hübschen, kindlichen Gesichtchen erschien ein Ausdruck fast hellerer Zufriedenheit und Ruhe.
Während Elisabeth, rastlos fürchtend, den Stachel der Reue mit sich herumtrug, während sie in den Ausbrüchen wilder, verzweifelter Angst die Betrogene einen Teufel an Grausamkeit nannte, lag diese mit leicht in einander gefalteten Händen lächelnd so voll Frieden und Versöhnung, und was sie dachte war, ihr unbewußt, ein Gebet für das Glück derjenigen die mit kecker Hand in ihr Schicksal hineingriff und demselben seinen letzten Halt raubte.
Tag um Tag verging. Die Diakonissin ordnete bereits für den Ausflug nach M. ihre eigene und die Garderobe ihrer Pflegbefohlenen. Julius und Elisabeth befanden sich auf der Heimreise.
(Fortsetzung folgt.)