Berlin, 20. Januar. Die Vossische Zeitung meldet aus Wien, in dortigen Finanzkreisen verlaute, daß die Nordbahn eine Verständigung erhalten hat, wonach die 800 sür Mobilisierungszwecke bereit gehaltenen Waggons angesichts der Wendung der politischen Lage wieder den gewöhnlichen Berkehrszwecken zugesührt werden können.
Berlin, 20. Jan. Die Sammlungen der Unterschriften für die Adresse der Berliner Bürger, welche dem kronprinzlichen Paare am 30jährigen Hochzeitstage überreicht werden wird, sind abgeschlossen. Am 22. ds. geht von Berlin ein Kabinetscou- rier mit der kostbaren Spende nach San Remo ab. Die Adresse ist laut B.-Cour. ein prachtvolles Erzeugnis des Berliner Kunstgewerbes. Oben, fast am Rande des Deckels, befindet sich ein Schild mit dem Datum „25. Januar 1858" — der Tag der Vermählung — unten eine kleine Kartouche mit dem Datum „25. Januar 1888". Die Adresse, welche! das Gewicht von einem Zentner hat, enthält gegen 180000 Unterschriften.
Berlin, 20. Jan. Der Nachtragsetat zum Wehrgesetz soll sich auf erheblich mehr als 200 Millionen belaufen.
Im Auswärtigen Amt muß bekanntlich höllisch gearbeitet werden, und die bequemen Bureaustunden sind dort unbekannt. Man kann tief nach Mitternacht dort vorübergehen und sieht immer noch hinter den brennenden Lampen fleißige Gesichter. Schon der alte Bismarck war berühmt wegen seiner Arbeitswut, aber der junge Graf soll fast noch schlimmer sein. Beim Reichskanzler hat das Alter und der sackgrobe vr. Schwenninger entschieden Einspruch gegen die frühere Arbeit eingelegt, der junge Graf Herbert Bismarck stürmt dagegen noch mit voller Kraft in die Aktenhaufen hinein und weckt das stille Entsetzen seiner Mitarbeiter. Es hat nichts lieber- ! naschendes, wenn er plötzlich zur Geisterstunde im! schwarzen Frack und weißer Halsbinde aus einer! Abendgesellschaft auftaucht und mit Berserkerwut die neuesten Eingänge erledigt. Am Weihnachtsfest er- ! nannte ihn der alte Kaiser zu seinem Wirklichen Gc- heimrat. Das ist eine überaus hohe Würde, die noch Niemand hier in so jungen Jahren erhielt; der Graf Herbert ist ein Mann von 38 Jahren. Als Staatssekretär des Äeußcren hält er seit längerer Zeit fast täglich den Vortrag über äußere Politik beim Kaiser Wilhelm und ebenso führt er den persönlichen Verkehr mit sämtlichen hier beglaubigten fremden Diplomaten. Für letztere sitzt Vater Bismarck, seitdem sein Sohn amtiert, in der Wolke der Unnahbarkeit versteckt. Wenn es jetzt heißt, dieser oder jener Diplomat wurde persönlich vom Reichskanzler empfangen, dann kann man sicher sein, daß eine erwünscht ernsthafte Sache dahinter steckt, und! die europäischen Börscnhcrren mögen die Ohren! spitzen. s
Zwischen der „Nord. Allg. Ztg.", Bismarcks z Organ, wie man sagt und glaubt, und der „Kreuzztg.",! hat's schon seit einiger Zeit in Sachen des Prinzen s Wilhelm und Stöckers Händel gegeben, jetzt ist eine Explosion erfolgt. Die „Nordd." schleuderte ihrer) Gegnerin den Vorwurf ins Gesicht, „sie behandle^ alle politischen Fragen mit Heuchelei und innerer! Unwahrhastigkeit, sie gebe vor, christlichkonjervative Grundsätze zu vertreten und vertrete von ihrem An-! fang an bis heute nur die Interessen einer Koterie" ! und sie führt dafür an manchen geschichtlichen Bei- I spielen den Beweis.
Berlin, 20. Jan. Nach dem Zirkular eines Hamburger Banquiers soll der Reichskanzler vorgestern beim Diner zum Hamburger Kaufmann Ohlendorf, welcher bekanntlich Miteigentümer der „Nordd. Allg. Ztg." ist, gesagt haben: „Nach meiner innersten Ueberzeugung werden wir innerhalb dreier Jahre keinen Krieg haben." Gleichzeitig hätte Bismarck vor den russischen Papieren gewarnt unter Hinweis auf die innere Lage des Zarenreichs.
Zu Ehren des 90. Geburtstages des Kaisers Wilhelm hatten die Beamten der Rbichspost und der Telegraphen 3 Rettungsboote gestiftet. Das eine, „Reichspost." ist auf Langeog - Westland in Dienst gestellt, das andere, noch im Bau begriffen, „Reichs- ^ telegraph," kommt nach Colbermünde, das dritte, „General-Postmeister," wird einer Rettungsstation an der schleswig-holsteinschen Küste zugeteilt.
Magdeburg, 20. Jan. Die „Magdeburgi- sche Zeitung" meldet, daß Bischof Dr. Kopp im besonderen Aufträge des Papstes dessen heißesten Se
genswünsche für die Wiederherstellung des Kronprinzen nach San Remo überbrachte.
Liegnitz, 19. Jan. Die Zahl der neuen Erkrankungen ist stark im Rückgänge begriffen; der bisherige Verlauf der Krankheit ist vorwiegend günstig. Oesterreich-Ungarn.
Wien, 18. Januar. Die „Deutsche Wochenschrift" teilt jetzt mit, daß vor Aufnahme der Kandidatur des Prinzen Ferdinand von Coburg mit dem Erzherzog Johann verhandelt wurde und zwar durch Kaltschew. Erzherzog Johann erklärte, er könne den Thron Bulgariens nicht annehmen, doch sei er bereit, im Falle Bulgarien zur Verteidigung seiner Existenz gezwungen werde und in einem Kampfe gegen fremde Vergewaltigung an ihn appelliere, seinen Degen für das Land und das Volk, dem er die größten Sympathien entgegenbringe, zu ziehen.
Bei dem gestrigen Hofballe wurde von dem diplomatischen Korps ausschließlich der Botschafter Prinz Reuß durch längere Ansprachen des Kaisers und des Kronprinzen ausgezeichnet. Auch Graf An- drassy erfreute sich großer Aufmerksamkeit.
Wien, 19. Jan. Wie in diplomatischen Kreisen verlautet, soll laut „Fr. Z." Minister Kalnoky sich über die polnische Lage dahin geäußert haben, daß keinerlei Wendung weder zum Guten noch zum Schlimmen eingetreten sei; einerseits gäbe die Situation noch zu den gleichen Befürchtungen wie anderseits zu den gleichen Hoffnungen Anlaß.
Frankreich.
Paris. Herrn Wilson rücken die Behörden jetzt schärfer auf den Leib. Im Hause Grevy's, in welchem auch Wilson wohnt, haben Untersuchungsrichter und Staatsanwalt eine Haussuchung vorgenommen. Viel gefunden über Wilsons Mitschuld an den Ordenshändeln werden sie kaum haben, denn so dumm ist der Schwiegersohn des Expräsidenten denn doch nicht, daß er alle belastenden Schriftstücke so lange aufheben sollte, bis eine Untersuchungskommission kommt.
Paris. Während die gerichtlichen Untersuchungen über den Ordcnsschacher noch immer fort- dauern, berichten die Zeitungen bereits wieder über einen anderen und weit schlimmeren Skandal. In einem übclverrufenen Hause sollen unlängst zwei Richter von der Polizei bei Verübung eines nicht näher zu bezeichnenden Verbrechens betroffen worden sein, und der Polizeibeamte, welcher so gefällig war, sie entkommen zu lassen, so auffällig rasch befördert worden sein.
Paris, 19. Jan. Der italienische Botschafter Menabrea teilte gestern auf dem diplomatischen Empfange im Ministerium des Auswärtigen Herrn Flou- rens mit, seine Regierung habe Befehl erteilt, daß die Beseitigung der Siegel und die Aufnahme des! Inventars von Husseins Nachlaß auf unbestimmte Zeit vertagt würde. Um 6 Uhr abends ließ Menabrea dann Flourens benachrichtigen, er habe soeben eine Depesche aus Rom erhalten, welche einen vollständigen Ausgleich des Zwischenfalls hoffen ließe.
Paris, 20. Jan. Das „Petit Journal" meldet aus Toulon: Diese Nacht erhielt die Marinedirektion versiegelte Instruktionen, alles bereit zu halten. Die Bevölkerung ist sehr gereizt gegen die Italiener. „Justice" glaubt, eine günstige Regelung des Florentiner Zwischenfalls sei bevorstehend.
Belgien.
Die Zahl der Klöster in Belgien ist von 1816 bis 1880 von 770 bis aus 1559 gestiegen. Seitdem hat eine Zählung der klösterlichen Niederlassungen nicht stattgefunden. Es ist aber Thatsache, daß sich dieselben namentlich in den letzten Jahren ^ stark vermehrten.
Italien.
San Nemo, 18. Janr. Es wird gemeldet, der Kronprinz habe zur Dementierung der Attentatsgerüchte angeordnet, daß die gewohnte Begleitung durch die dem Wagen bei Ausfahrten nachfolgenden Polizisten unterbleibe.
San Remo. 18. Jan. Ucber einen Ausflug der Kronprinzessin nach La Mortola bei San Remo auf die Besitzung von Mr. Hanbury schreibt eine Schleswig-Holsteinerin der „Kieler Zeitung" von der Riviera u. a. folgendes: „Die Kronprinzessin war sehr aufgeräumt und erzählte unter herzlichem Lachen ergötzliche kleine Geschichten. Im Laufe der sehr heiteren Unterhaltung wagte es eine ältere Dame der Tischgesellschaft, Mrs. Sp. „B., der Krankheit des Kronprinzen zu erwähnen. Dabei erzählte sie,
daß sie selbst einmal einen Kutscher gehabt, der nach dem Urteil der besten Aerzte am Zungenkrebs hätte leiden sollen und bereits von ihnen aufgegeben gewesen sei. Trotzdem habe sich schließlich doch die Diagnose der Aerzte als ein Irrtum erwiesen. Darauf antwortete die Kronprinzessin, beide Hände aus den Arm der Erzählerin legend, wörtlich: „O, ich danke Ihnen, daß Sie mir diese Geschichte erzählt haben; die hat mir wohlgethan! Aber wissen Sie, wir glauben keinen Augenblick, daß es Krebs ist; es ist eine vernachlässigte Erkältung, die
in-(unverständlich)-übergangen
ist; und es wird mindestens zwei Jahre dauern, um ihn wieder ganz zu bekommen." Weiterhin äußerte die Kronprinzessin: „Sie sollten ! meinen Mann sehen! Er fühlt sich so stark, ! er springt, er rennt, er geht, er tummelt sich umher ! — Der Maler Angeli in Wien, der häufig Mitteilungen der Kronprinzessin Viktoria über das Befinden des deutschen Kronprinzen erhält, bekam zuletzt eine Nachricht mit der Anmerkung: „Gottlob, es geht ganz gut!"
England.
London, 20. Janr. Nach einem Brief des „Standard" aus Shangai vom l9. Januar sollen 4000 Arbeiter, welche unter der Aufsicht mehrerer Mandarinen einen Wellenbrecher Herstellen sollten, um den Lauf der Hoanghofluten zu stauen, von dem plötzlichen Andrange des Wassers überrascht worden und größtenteils umgekommen sein.
Rußland.
In Petersburg geht es doch recht gemütlich zu. Wie die Nowoje Wremja meldet, wurden auf Befehl des Generals Gresser des Petersburger Stadthauptmanns nachts Massenhaussuchungen vorgenommen, bei welchen über 800 Personen verhaftet wurden. Als die Polizisten und Gendarmen in das Haus Spaßkajagasse Nr. 3 eindrangen, brach in demselben Plötzlich Feuer aus, welches sich mit großer Schnelligkeit im ganzen Hause verbreitete und des- ! halb binnen 2 Stunden einäscherte. Biele Hausbe- ! wohner, welche im Verdachte standen, nihilistische Proklamationen gedruckt und verbreitet zu haben, wurden während des Brandes verhaftet. Mit dem ! Hause verbrannte auch eine nihilistische Buchdruckerei.
> Afrika.
Massauah, 19. Jan. Bei der Rekognoszierung bis Saati wurde nirgends eine Spur von den Abessiniern entdeckt. (Nach einem Telegramm des Fr. Journ. beträgt die wirkliche Heeresstärke der Abessinier nach zuverlässigen Nachrichten insgesamt nur 40000 Mann).
Kleinere Mitteilungen.
Stuttgart, 18. Jan. Wegen Beteiligung au einem Raube wurde im Dez. 1886 der 34jährige Goldschmied Sick- ler von Birkfelden vom hiesigen Schwurgericht zu 5 Jahren Zuchthaus verurteilt. ES wurde damals als erwiesen angenommen, daß Sicklcr mit 2 Genossen einen Krüppel namens Siebet von Affaldern, welcher von Sr. K. Hoh. dem Prinzen Wilhelm 20 erhalten und diese in einer Wirtschaft am Leonhaeosplatz gezeigt hatte, nach Berg gelockt, ihn dort niedergeschlagen und des Goldstücks beraubt habe. Die Mit- thäterschaft Sicklers bei dem Verbrechen wurde insbesondere auf Grund der Aussagen eines der mitverurteilten Kumpane, Namens Warner, angenommen. Im Zuchthause hat jetzt Wörner zwei Mitgefangenen mitgeteilt, daß seine damalige Denunciation gegen Sicklcr falsch und nur ein Racheakt gewesen, weil Sicklcr ihn (Wörner) der Polizei verrate» habe. Sicklcr, welcher bereits über ein Jahr im Zuchthause gesessen, wurde auf Grund des Wörner'schen Bekenntnisses, das von dessen als Zeugen geladenen beiden Mitgefangenen beschworen ward, ein neues Verfahren bewilligt, das zu seiner Freisprechung führte.
Die „neue" Orthographie. Ein Gegner der neuen Orthographie legt seine Ansicht über den - Wert derselben in folgender artigen Fabel nieder:
^ Drei Hähne treten des Morgens früh Zusammen mit Gravität,
! Zu untersuchen, wer's „Kikeriki"
^ Wohl am korrektesten kräht.
Der älteste räuspert sich und läßt Ertönen sein „Kikeriki".
! „So nur ist richtig", behauptet er fest,
„Der Ruf — mit einfachem ,i/"
Der zweite nicht lange schweigsam bleibt,
Er stimmt für „Kükerükü"; z „Was kümmert's uns, wie der Mensch es schreibt,
^ So macht es am wenigsten Müh'."
! Da fängt der jüngste zu krähen au, Hellschmetternd sein „Kiekeriekie",