Herr! Dein und Deiner treuen Unterthanen innigster Wunsch ist nun erfüllt. Mit kaiserlichem Prunk betrittst Du feierlich den berühmten Dom Deiner alten Residenz, um, dem Vorbilde Deiner frommen Ahne folgend, die sichtbaren Insignien Deines vom Allmächtigen Dir verliehenen kaiserlichen Dienstes in Empfang zu nehmen und zugleich die heilige Salbung, die für Deinen großen Dienst unentbehrlich ist, entgegcnzunehmcn. Die Millionen Deiner Unterlha- ncn in allen Städten und Dörfern Deines gewaltigen Reiches jubeln und senden Dir zu Deinem Einzüge die innigsten Gebete nach. Die heilige Kirche empfängt Dich mit heißen Gebeten zum Herrscher aller Herrschenden. Wir sind im frommen Glauben, daß mit diesen unseren Gebeten die wirksameren Gebete Deiner frommen Ahnen sich vereinigen werden, welche Rußland gesammelt und geordnet haben, wie auch die Befürwortung der Heiligen, welche die Größe Deines von Gott Dir anvertrantcn Reiches vorausgesagt haben. Wir wollen in Demuth hoffen, daß die innigen Gebete der Gläubigen zum Himmel emporsteigen zum Throne des Allmächtigen und Gottes Segen durch den bevorstehenden religiösen Act auf Dich und das Dir anvertraute Reich hcrabkommen möge. Gott der Allmächtige, in dessen Händen sich das Schicksal der Kaiser und Kaiserreiche befinden, möge Dich und Dein Reich in Frieden und Sicherheit erhalten, Dir Weisheit schenken, aus daß Du Deine Unterthanen gerecht richtest; möge er Dir Standhaftigkeit und Kraft verleihen, auf daß Alles zum Wohle Deiner Unterthanen und zur Ehre seines allmächtigen Namens sich wende. Gesegnet seist Du, der im Namen Gottes kommt.
Moskau, 29. Mai. Das gestrige Ballfest in Grauowitaja-Palata ist auf's Glänzendste verlaufen. Das Kaiserpaar erschien gegen 9*/, Uhr u. verweilte bis 11 Uhr. Bei der Polnaise führte der Kaiser die Kaiserin, dann folgte eine Tour des Kaisers mit der Königin von Griechenland und den Gemahlinnen Waddington's und Jaurö's, während die Kaiserin mit Schweinitz, Waddington und Jaurv tanzte. (St.-A.)
Petersburg, 28. Mai. Die Stadt war während der verflossenen Nacht glänzend illuminirt. Die Häuser sind festlich geschmückt und die Straßen von der freudig bewegten Bevölkerung durchwogt. Ueberall herrscht eine musterhafte Ordnung. Rumänien.
Einer Meldung aus Bukarest zufolge sollte letzten Dienstag gelegentlich der Eröffnung der rumänischen Kammern einen Attentat gegen König Karl zur Ausführung gelangen; die Mitglieder der Verschwörung seien meistens Moldauer. Das Attentat selbst sollten zwei Polen ausführen. In Folge rechtzeitiger Benachrichtigung der Bukarester Behörden waren dieselben jedoch in den Stand gesetzt, die nörhigen Vorsichtsmaßregeln zu treffen.
Türkei.
Konstantinopel, 24. Mai. Die Pforte hat an die Mächte ein Rundschreiben gerichtet, worin sie, im Einklänge mit den Bedingungen des Berliner Vertrages, die Schleifung der Donau-Festungen verlangen.
Handel L Verkehr.
Stuttgart, 28. Mai. (Landesproduktenbörsc.) In der letzten Woche wurde viel Waizen umgesctzt, dagegen blieb heute der Verkehr sehr beschränkt. Wir notiren per 100 Kilogramm: Waizen, baierischer prima ^ 19.25—20.25, russischer prima 22.70.
Stuttgart, 28. Mai. (Meblbörse.) Suppengries 35-36 Mehl Nr. Nr. 1: 33-34 M., Nr. 2: 31.50
bis 32.50, Nr. 3: 29-30 Nr. 4: 24—25 Nr. 5: 16 -19 Kleie mit Sack 8—9
Lin vertuschter GriminalfaL.
(Fortsetzung.)
IV.
Fast achtzehn Jahre sind verflossen. Damals stand Ludwig Schmidt in einer Nacht an dem Bettchen seines einzigen Kindes. Das Töchterchen schlief so sanft, so ruhig, wie es wild in dem Innern des Vaters ausschaute. Finster wie die Nacht draußen, war die <Äirn des Mannes, der mit dem Leben zu ringen gewohnt war, seine Züge waren kranipfhaft verzerrt; aber schon zeigte sich der Bote des mildernden Seelenbalsams in seinem Auge: die Thräne.
Ein tiefer Seufzer quoll aus seiner Brust: „Ich soll Dich allein unter den fremden Menschen zurücklassen, die für bas Kind des bankerotten Selbstmörders nur Hohn und Spott besitzen? in der kalten Welt
sollst du allein Zurückbleiben — mutterlos, und bald auch vaterlos. Nein, besser, ich nehme Dich mit mir. O Gott, welch entsetzlicher Gedanke! welcher Dämon bläst ihn mir ein. Halt, halt! weh mir!"
Er wankte von dem Bettchen zum Fenster, das er aufstieß. Er sog die kühle Nachtluft in vollen Zügen ein, während sein Auge starr aus die menschenleere Straße blickte. , Und gibt es denn ipiiklich keine Rettung?" fuhr er in seinem Selbstgespräche fort, „zeigt sich kein Weg, den ich gehen kann? Satan, zeigst Du mir stets das geladene Pistol, um das entehrte Dasein zu enden. Wenn mein Bruder meine Verzweiflung kennte, aber er ist herzlos geworden, nachdem ihm in dem Nebellande das verfluchte Glück gelächelt, nein, ihn verfolgt hat. Nur ein Zehntel seines Glückes, und cs wäre nicht bis dahin gekommen. Es ist wahr, er hat mich schon einmal unterstützt; aber jetzt hat er mich zurückgewiescn, zurückgestoßen, mich mit Hohn — — O die ganze Welt ist nur werth, daß man sie verachtet, daß man sie flieht."
„Er trat wieder zu dem Bettchen der Kleinen, deren Gebiut das Leben der Mutter geraubt hatte. Bei ihrem Anblick wurde er weich gestimmt.
„Dich tobten kann ich nicht, Dich lassen — nein. O Gott! es muß sein. Und leben nicht Viele, welche so unglücklich gewesen sind wie ich? Ich könnte es nicht — Wohlan, rasch! Ohne Abschied soll ich von ihr scheiden? Ich darf nicht sterben." Er preßte die Häufte auf die wogende Brust und keuchte.
Plötzlich schien ihm ein Gedanke zu kommen; er stürzte in das Nebenzimmer, wo neben feinen Hand- lungsbüchern die geladene Waffe lag. Er schlug in den Büchern zurück und begann wieder zu rechnen. Seine Miene wurde nicht erhellt. Die Stunden verrannen, er saß noch immer und schrieb und rechnete. Der Tag fand ihn noch bei der Arbeit.
„Der Morgen ist da, und ich lebe noch", sagte er aufblickend. „Soll mir das ein Wink sein, hier aus- zudaucrn. Warten wir, was die nächsten Stunden bringen."
Er löschte die Lampe aus und trat an's Fenster. Lange stand er dort bewegungslos. Da schellte cs draußen. „Was ist das?" rief er und sah auf die Uhr, „es ist noch nicht nenn Uhr, und die Wechsel sollten mir schon präsentirt werden?"
Der Briefträger hatte geläutet und einen schwarzgesiegelten Brief gebracht. Ein schwarzes Siegel redet von Unglück. Das Schreiben lautete:
„Verehrter Herr Schwager. Vergeben Sie meinem Schmerz, daß ich Sie nicht früher von dem plötzlichen Tode meines geliebten Mannes in Kenntniß setzte. Heut vor vierzehn Tagen machte ein Herzschlag seinem Leben ein Ende. Trostlos stehe ich jetzt mit meinem Sohne allein und tausend Sorgen, die ich früher nicht kannte, stürmen auf mich ein. Es ist nicht etwa der Fall, daß wir uns in Noth befinden, im Gegentheil können wir uns reich nennen; um aber die Erbschaft anzutreten, fehlt uns jedes Dokument, das meine Trauung bewiese. Als mein William mich vor zehn Jahren aus dem väterlichen Hause entführte, waren Sie zugegen, leiteten gewissermaßen die Flucht, an die zu denken mir schrecklich war, da sie meinem Vater das Leben kostete. Er starb mit uns unversöhnt. Jetzt muß ich zurückdenken, da mir die nöthigsten Papiere — mein Trauschein besonders fehlen. Verschaffen Sie ihn mir, Herr Schwager, und Sie werden verbinden
Adele Schmidt".
„Mein Bruder tobt, kein Testament zur Stelle, keine Papiere!" Ein furchtbarer Gedanke durchzuckte den Kaufmann, der am Rande des Abgrunds stand. Er besaß die Papiere; sein Bruder hatte sie ihm, als er Adele dem Elternhause entführte und mit ihr nach England floh, übergeben. Er brauchte sie nur zu unterschlagen, konnte leugnen, daß seine Schwägerin wirklich mit William verheirathet gewesen sei, um wieder ein reicher Mann zu sein.
Er schwankte nicht lange. „Sollst Du Deinem Kinde entzogen werden? soll dasselbe eine Bettlerin sein?" raunte ihm der Satan zu. „Nein! nein!" rief es in ihm. „Jedes Thier hat den Selbsterhaltungstrieb in sich, die Natur predigt, daß wir nicht uns aufgeben dürfen, und ich sollte mich Fremden zu Liebe aufgebeu?"
Das Verbrechen war begangen; er leugnete frech, daß Adele jemals die rechtmäßige Frau seines Bruders gewesen sei. Ihn rührte nicht Ihre Verzweiflung. Als William Schmidt's Buhlerin verließ sie das Haus, welches ihrem Gatten gehört hatte, welches nach jedem Rechte das ihres Sohnes' war. Ihr Harry war zum
Bastard gestempelt worden, seine Geburt wie das Lie- besleben seiner Mutter von,dem Oheim gebrandmarkt.
Nur der Gedanke an ihren Sohn bewahrte die Unglückliche vor Selbstmord.
Dann machte sich der Stolz der Unschuld geltend. „Und wenn ich zehnmal aus meinem Eigenthum getrieben werde, ich war William's angetrautes Weib." Sie wendete sich zu dem kleinen Harry Robert: „Kind, Kind, Du bist jetzt namenlos, man hat Dir Deinen Namen gestohlen; Du mußt Dir ihn wiedererringen."
„Mütterchen, weine nicht; ich will immer folgsam sein und Dir Freude machen", sagte der neunjährige Knabe. „Wenn die Menschen uns arm machen, ich werde Dich um so mehr lieben. Die bösen Menschen! Der böse Oheim!"
Nicht ohne inneren Kampf hatte Ludwig die Austreibung der rechten Erben aus ihrem Besitzlhnm vollbracht, nicht ohne Regungen des Gewissens. Er ließ heimlich der Wittwe eine ziemlich bedeutende Summe bringen und nahm sich vor, die Geldsendungen zu wiederholen. Das vermochte er nicht; Adele Lchmidt verschwand plötzlich.
Als das Geld ihr verborgen und ohne den Geber zu nennen zugestcllt wurde, hatte sie es nicht bei Seite geschleudert, hatte sie nicht von der Zurückweisung eines Almosens ans böser Hand gesprochen und wie die Deklamationen heißen mögen; sie hatte es ohne Dank genommen. „Es soll mir dazu dienen, mir und meinem Sohne das Leben zu erhalten". Wenige Tage darauf hatte sie London verlassen.
Die unglückliche Frau begab sich in das Land ihrer Geburt, in die Schweiz. Ihr Vater, das wußte sie wohl, war längst, der geflohenen Tochter zürnend, gestorben. Sie fand dort keinen Verwandten — nur die Heimath und einen weißhaarigen Buchhalter ihres Vaters. Er war der einzige Freund, der ihr geblieben war. Selbst besaß er nur wenig Glücksgüter, aber er unterstützte mit ihnen nicht allein die einzige Tochter seines alten, verstorbenen Prinzipals. Seine Kenntnisse, welche in Betreff des Handels tief und eingehend waren, erleichterten ihr die Erziehung des Sohnes, der bei ihrem Tode, obgleich kaum siebenzehn Jahre alt, schon völlig auf eigenen Füßen stand und seine Mutter selbst hatte unterstützen können.
Harry Robert saß an ihrem Sterbebette und seine Thränen fielen auf ihre Hand. Da gelobte er sich und ihr, nicht zu ruhen, bis er ihre Ehre wiederhergestellt, bis er seinen Namen sich wiedererobert habe. Aus dem Namen der Mutter Frey und dem des Vaters machte er durch Zusammenziehen Freischmid, wie er auch die beiden Vornamen zu Heribert vereinigte.
Kurze Zeit nach dem Tode der Mutter verließ er die Schweiz und begab sich nach Deutschland, in die Stadt, wo sein Oheim wohnte. Mit eiserner Con- scquenz faßte er es in die Augen, in das Haus Ludwig Schmidt's zu gelangen. Erst nach neun langen Jahren glückte es ihm, dessen Haß die Zeit nicht gemildert hatte, indem das Gefühl der Rache noch so laut war, wie an dem Tage, da seine Mutter starb.
(Fortsetzung folgt.)
Altertet.
— Eine Schullehrer-Dynastie. Von Schulmonarchen hat man schon gehört, kaum aber davon, daß eine solche Schulmonarchie eine erbliche wurde. Dieser Tage starb im Dorfe Usseln bei Corbach der Lehrer Fr. Genuit, einer Lehrerfamilie angehörig, welche seit mehr als zwei Jahrhunderten das Scepter über die ABC-Schützen von Usseln schwang. Der erste dortselbst angestellt gewesene Lehrer Salomon Genuit versah seine Thätigkeit während 37 Jahren (von 1673—1710), sein Sohn Bartholdus Genuit wirkte über ein halbes Jahrhundert als Lehrer (von 1710—-1762), dessen Nachfolger im Amte, Johannes Genuit hat sogar über 58 Jahre das mühsame Amt versehen (von 1762 bis 1818) und der vierte seines Namens, Wilhelm Genuit, der Vater des jüngst Verstorbenen, trat die Stelle 1818 an und bekleidete sie bis zum Jahre 1860, zu welchem Zeitpunkte dieselbe Friedr. Genuit, welcher bis dahin in einem Nachbardorfe als Lehrer fungirte, übernahm. Welche reiche und aufreibende Thätigkeit der Verstorbene hier entfaltete, möge daraus hervorgehen, daß er 16 Jahre lang 140 Kinder in seiner Schule allein zu unterrichten hatte. Vorläufig wird er wohl der letzte seines Stammes gewesen sein, der in Usseln der Dorfschule vorsteht, da ein Sohn Reallehrer und der andere Geistlicher geworden- ist.