60. Jahrgang.
Aro. 131.
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Erscheint Dienstag, Donnerstag L Samstag.
Die Einrückungsgebühr beträgt 9 H p. Zeile im Bezirk, sonst 12 H.
Donnerstag, äen 5. November 1885.
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WoMifche WachrichLen.
Deutsches Reich.
Berlin, 3. Novbr. Graf Hatzfeldt begibt sich diese Woche auf seinen Botschafterposten nach London. Die Geschäfte des Staatssekretärs des Aeußeren hat er schon niedergelegt; die Ernennung seines Nachfolgers steht bevor. — Die Vorlage über den Nordostseekanal hat die Zustimmung des Fürsten Bismarck erhalten und geht sogleich dem Bundesrat zu, desgleichen die Vorlage betreffend die Ausdehnung der Unfallversicherung auf die Landwirtschaft.
Braunschweig, 2. Novbr. Auf dem hiesigen Bahnhose wurde der Prinzregeut von den Mitgliedern der Landesversammlung, den Abordnungen aus Stadt und Land, sowie den hohen Behörden bewillkommnet. Landtagsprästdent v. Veltheim richtete dann an den Prinzregenten eine Ansprache, in welcher er ihm im Namen des Landes für die Annahme der Regentschaft dankte und ihm im Aufträge der Landesvertretung die Versicherung der Freude, der Ergebenheit und Treue aussprach; die Landesversammlung werde es als ihre heiligste Pflicht ansehen, alles in ihren Kräften Stehende aufzubieten, damit das gute Einvernehmen zwischen der Landesregierung und der Landesvertretung stets aufrecht erhalten bleibe zum Heil und Segen des Landes und seiner Bewohner. Auf diese Ansprache antwortete der Prinzregent mit kräftiger, schneidiger, dabei herzlich warmer Stimme, indem er der Landesversammlung für ihre Gesinnung dankte, daß sie ihn zum Regenten berufen. Er komme mit dem festen Vorsatze, die weise väterliche Regierung des verstorbenen Herzogs fortzusetzen. Als Kaiser Wilhelm den Wunsch ihm gegenüber ausgesprochen hatte, er möge die Wahl der Landesversammlung annehmen, habe es für ihn kein Bedenken mehr gegeben. Dann dankte er für den liebevollen Empfang; dieser habe ihn tief bewegt. Er trete die Regierung des Landes an mit dem Vorsatze, das Wohl und Heil des Landes zu fördern, sowie die guten Beziehungen zu Kaiser und Reich zu pflegen; das walte Gott! Nach Beendigung der Ansprache trat infolge des Eindrucks, den sie aus die Menge ausübte, ein Augenblick tiefster Stille ein, dann aber ertönte erregt ein donnerndes Bravo und Hurrah. Es war ein prachtvoller Anblick, die hohe Gestalt des Prinzregenten, die Prinzregentin am Arme, die glänzende Versammlung abschreiten zu sehen. Bei der Fahrt zum Schlöffe herrschte ein solches Gedränge, daß kaum durchzukommen war.
Als der Wagen im Schlöffe einfuhr, ging die Flagge des preußischen Prinzen zwischen dem Reichsbanner und der Braunschweiger Fahne hoch.
Hages-WeuigkeiLen.
Stuttgart, 4. Nov. Ein heiteres Stückchen spielte sich gestern in einem hiesigen Bäckerladen ab, dessen Besitzer neben der Backstube sich einen Schweiusstall hatte bauen lassen. Der Bäckermeister hatte eben seine frischgebackenen duftigen Semmeln und Bretzeln auf dem Ladentische ausgebreitet und sich selbst zu einem stärkenden Trünke ins Nebenzimmer zurückgezogen, als der gefräßige Vierfüßler, welcher seinem Stall auf noch unerklärte Weise entkommen war, durch die offenstehende Thür von der Backstube aus in den Laden hereintrat, wo es in aller Stille die hübschen Backwaren verzehrte. Erst nachdem völlig Kabuls rasa" gemacht, verließ die Bestie unter freudigem Grunzen das Zimmer. Sobald der Bäcker die wohlbekannten Töne in so unheimlicher Nähe vernahm, eilte er aus dem Nebengemach heraus. Im selben Augenblick traten zwei Nachbarn in den Laden, um sich Bretzeln zu kaufen; daß der Bäcker für den Spott nicht zu sorgen brauchte, bedarf wohl keiner Bestätigung. N. Tagbl.
Murrhardt, 31. Okt. Das Ergebnis unserer gestern unter heftigem Wahlkampf vor sich gegangenen Stadtschultheißenwahl ist folgendes : Es erhielten Gerichtsschreiber H. Zügel 285, Schultheiß Furch von Fornsbach 282, Ratsschreiber Vogt von hier 278, Tuchmacher Jung 244, Apotheker Horn 238 und Stadtschultheißenamtsasfistent Stotz 159 Stimmen; die übrigen Stimmen zersplitterten sich. Von 776 Stimmberechtigten haben 637 abgestimmt.
Ehingen a. D., 2. Nov. Eine der bedauerlichen Mefferaffairen hat wieder in der Nacht vom Sonntag auf Montag in hiesiger Stadt einem jungen Leben ein Ende gemacht. Der 25 Jahre alte Taglöhner Peter Dolpp befand sich mit andern Gästen ganz friedlich in der Straußenwirt- schaft, wo der angetrunkene 20jährige Metzgerbursche August Schaupp allein an einem Tische schlief. Als um V-11 Uhr ihn der Wirt ausweckte und zum Heimgehen aufforderte, fuhr Schaupp ihm sofort an die Kehle. Dolpp wollte ihn daran verhindern, gegen den Wirt weitere Tätlichkeiten zu verüben, sofort wandte aber der mit einem starken und scharfen Stellmeffer (Knicker) bewaffnete Schaupp sich gegen ihn und stach mit aller Gewalt auf ihn los. Dolpp rettete sich, während zwei andere Gäste den wütenden Thäter ent- waffneten, hinter einen Tisch und brach dort mit den Worten: „mir wird
Iteuiblelsn. «Nachdruck verboten.)
Ein Krauenleöen.
Roman aus den baltischen Provinzen Rußlands.
Von Milly Pabst.
(Fortsetzung.)
Höchste Bestürzung malte sich auf Frau Harders Gesicht. „Die Unglückliche, wohin mag sie sich gewendet haben?!"
Plötzlich ging es wie jähe Erkenntnis über ihre Züge: „Feodor!" rief sie hastig. „Sie ist nicht allein gegangen! Sie hat sich von Boris Pawlo- witsch entführen lassen! O, jetzt geht mir ein Licht auf über das Verhältnis beider! Du bist betrogen, Feodor, schändlich hintergangen. Sie hat Deinen alten stolzen Namen in den Schmutz gezogen — ihn dem Gespötts der Welt preisgegeben! O, diese Schlange, diese hinterlistige Kokette!"
Die auf's höchste empörte Frau rang nach Luft. Die furchtbare Entrüstung drohte sie zu ersticken.
Feodor stand daneben, mit gekreuzten Armen, finster zusammengezogenen Brauen und düsterem Blick.
„Das ist das Ende vom Liede!" sprach er dumpf. „Mutter", „rief er dann, „einen unglückseligem Gedanken als die Verbindung mit diesem Weibe hättest Du nicht haben können — sie hat mich zum elendesten und ehrlosesten Menschen gemacht und ein edles, engelreines Wesen ebenfalls dem Unglück anheim gegeben — mag Gott Dir vergeben!"
Und fort stürmte er aus dem Gemach.
Frau Harders war wie niedergeschmettert. Welch' entsetzliche Früchte trug ihr Werk — diese Heirat, welche sie ihrer Meinung nach doch nur zum Glücke ihres einzigen Sohnes erstrebt hatte! Sie sah den Träger des stolzen Harders'schen Namens tief unglücklich, den Namen selbst entehrt, beschmutzt! Gebrochen sank die sonst so starke, selbstbewußte Frau zusammen. Ihr Irrtum, ihr Vergehen war furchtbar bestraft und langsam dämmerte in ihrem Geiste die Erkenntnis dessen auf, was sie so vielfach an Lina gesündigt.
Nun — mit der alten Energie richtete sich Frau Harders wieder auf — vielleicht konnte noch Manches gut gemacht werden. Einmal das Unrecht in seinem ganzen Umfange erkannt, wollte sie es auch sühnen. Noch heute wollte sie zu Falkenstein's hin und eine Versöhnung anbahnen. Die Erkrankung des Kindes, an der sie ja völlig schuldlos war, bot einen geeigneten Vorwand zu diesem Besuche.
Flau Harders traf sofort Anstalten zur Fahrt.
Im Waldschlößchen erregte ihr Besuch grenzenloses Erstaunen; man erkannte in ihrem höflichen entgegenkommenden Wesen garnicht die frühere hochmütige Frau Harders wieder und konnte nicht umhin, ihrer Liebenswürdigkeit gegenüber ein wenig aus der kühlen Reserve herauszugehen. Frau Harders klärte sofort den Sachverhalt über Jetty's Davonlaufen auf, umging aber wohlweislich die rohen Ausdrücke des bösen Buben, sondern schilderte lebhaft ihre Angst um das Kind, und ihre Bemühungen, es wieder zurückholen zu lassen. Bei dieser Schilderung stellte sich das erst so düster erscheinende Ereignis als ziemlich harmlos dar und den Bewohnern des Waldschlößchens war ein drückender Alp von der Seele genommen.
Frau Harders erkundigte sich nun lebhaft nach dem Befinden Jetty's, welche sie das reizendste, wohlerzogenste Kind nannte, das sie je gesehen; sie erhielt zur Antwort, daß die Kleine zwar nicht über Schmerzen klage, daß aber die große körperliche Schwäche Anlaß zu ernsten Befürchtungen gebe. Die geringste Aufregung könnte tödlich sein, sie dürste daher den Anblick der kleinen Kranken nicht genießen.
Nun erst rückte Frau Harders mit ihrer Hauptneuigkeit, der Flucht Aglaja's, hervor, und erging sich dabei in bitteren Klagen über deren Leichtsinn und Hinterlist. Lina konnte sich bei dieser Nachricht eines Gefühls von Genugthuung nicht erwehren. Wie oft hatte ihre gewesene Schwiegermutter damals ihr Aglaja als Muster und Vorbild von Liebenswürdigkeit und allen geselligen Tugenden hingestellt und nun konnte sie deren Wert ganz genau ermessen.
Man trennte sich nach einiger Zeit in anscheinend gutem Einvernehmen; Frau Harders sprach sogar davon, recht oft wiederzukommen.
Tags darauf saß Lina wieder am Bettchen ihres kranken Lieblings und