60 . Jahrgang.
Mo. 93 .
Amts- unä Intelkigeazbkatt für den Aezir^.
Erscheint Dienstag, Donnerstag L Samstag.
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Aamsta«, äen 8. Äugust 1885.
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Deutsches Reich.
— Der Kaiser wird am 13. oder 14. d. Mts. von Gastein zurück erwartet, und zwar begibt er sich dann nicht nach Berlin, sondern nach Schloß Babelsberg bei Potsdam, seinem Lieblingsaufenthalt, wo er alljährlich bis tief in den Herbst hinein in aller Stille zu verweilen gewöhnt ist.
— Der bekannte „kalte Strahl", der von Berlin aus schon manchen in der Entstehung begriffenen politischen Brand gelöscht hat, bleibt nicht aus, sobald die Franzosen von Revanche reden und schreiben. In neuester Zeit wußten sich die französischen Blätter, sogar der offiziöse „Temps", viel darauf zu gut zu thun, daß die Kavallerie an der Ostgrenze Frankreichs vermehrt werden solle. Hatte nun schon die neulich in der Deputiertenkammer von den Herren Chauvinisten in Scene gesetzte Colonialdebatte in Berlin verschnupft, so verschnupften die belletristischen Kavallerie-Manöver noch mehr und deshalb ist m der „Norddeutschen Allgemeinen" der Artikel erschienen, der in Paris wieder einmal die Wirkung eines kalten Wasserstrahles haben mußte.
— „Die Kreuz-Ztg.", welche jüngst die „Kölnische Ztg." wegen ihrer Behauptung, man sei in Berlin über die in Paris geplanten militärischen Maßnahmen stutzig geworden, verhöhnt hatte, schreibt jetzt angesichts der Auslassung in der „Nordd. Mg. Ztg.":
Es verdient sicherlich Beachtung, daß dies Organ eine sehr ernste Antwort auf die neueroings wieder besonders lebhaft hervortretenden französischen Revanchedrohungen in erster Reihe an die Adresse des als ein „gemäßigtes Blatt" geltenden „Temps" richtet. Bezeichnend für die in Frankreich auf Beherrschung der öffentlichen Meinung ausgehenden Strebungen ist es eben, daß dort auch die gemäßigteren Elemente mehr und mehr in einer wetteifernden Pflege des Chauvinismus die Befestigung wie die Ausdehnung ihres Einflusses suchen. Bei den bevorstehenden Wahlen erscheint es um so zeitgemäßer, daß von Berlin aus den erhitzten Gemütern im Nachbarlande hinsichtlich des leichtfertigen „Spielens mit dem Feuer" eine Warnung zukommt, die in Anbetracht ihrer nicht mißverständlichen Perspektiven wohl etwas abkühlend wirken wird.
— Die Berliner Staatsanwaltschaft hat die in dem Prozesse Stöcker wieder die „Freie Ztg." eingelegte Revision zurückgenommen. Nachdem die
Staatsanwaltschaft dies gethan, hat die Verteidigung auch ihrerseits die Revision, welche sie auf das von der Staatsanwaltschaft eingelegte Rechtsmittel angemeldet hatte, zurückgezogen.
— Die Post aus Ostafrika hat beunruhigende Nachrichten über die Sicherheit der dort in einzelnen Ortschaften sich aufhaltenden Deutschen gebracht. Die feindselige Haltung des Sultans Said Bargasch scheint mit der Abberufung des Generalkonsuls Gerhard Nohlfs eine neue Form angenommen zu haben. Auf den mit der Gründung einer wissenschaftlichen Station in Lamu beschäftigen Herrn Gustav Den har dt ist von den Soldaten des Sultans von Sansibar mehrfach geschaffen worden; derselbe getraut sich nur noch, bis an die Zähne bewaffnet und in Begleitung einiger treuer Suahelis seine Wohnung zu verlassen. Dem Uebermut des Sultans scheint durch die Nähe der deutschen Flottenabteilung noch kein genügender Dämpfer aufgesetzt zu sein. Er glaubt eben an England einen stärkenden Rückhalt zu haben.
Italien.
— Anarchistennester hat die italienische Polizei in den letzten Tagen in Monza, Mailand und Vimercale ausgenommen. Es heißt, man habe ein genaues Verzeichnis sämtlicher Arbeitervereine, eine Proskriptionsliste und andere Schriftstücke gefunden, durch welche der Zusammenhang der italienischen und der schweizer anarchistischen Bewegung dargethan werde.
England.
— Das Vögelein, das dem Londoner „Standard" von einem neuen Zusammenstoß der Russen uns Afghanen gesungen hat, ist eine Ente gewesen. Kein Mensch, weder in London, noch in Petersburg, noch sonst wo, hat von erneutem Schlachtgetümmel auf afghanischem Boden vernommen, einzig der „Standard" und dieser mag sich deshalb auch allein mit den dortigen Verhältnissen abfinden. Auch mit dem Tod Osman Digma's, des Lieutenants oder Generals — was im Sudan ungefähr dasselbe ist — des verstorbenen Mahdis ist es nichts, dagegen erscheint die in letzter Zeit vielgenannte Pall Mall Gazette jetzt mit der Nachricht auf dem Plan, Mr. Gladstone sei der Politik müde und wolle sich für seinen Lebensabend von den öffentlichen Angelegenheiten zurückziehen. Wenn's nur nicht auch erfunden ist; klug, sehr klug wäre es von Herrn Gladstone gewiß, aber eben deshalb will es einem nicht glaubhaft erscheinen.
Feuilleton.
Im Abgründe.
Roman von Louis Hackenbroich. (Verfasser des Romans: „EinBampv r.')
(Fortsetzung.)
Leo blickte seinen Vater scharf an, und dieser mußte wider Willen den Blick zur Seite wenden, er fühlte sich unsicher und machte eine ernste Miene.
Aber wie soll ich das versieben: Notwendigkeit? Jsmael Gantz konnte doch keinen Zwang auf Dich ausüben. Sprich, erzähle!"
„Zunächst sagte er mir, daß er in meinem Gefangenen einen Mann erkannt habe, der ihm eines Tages in schrecklicher Lage das Leben gerettet, und daß er, um eine Dankesschuld abzutragen, demselben das Mittel zu seiner Befreiung gewährt habe —"
„Aber das konnte Dich doch nicht beeinflussen? Abgesehen davon, daß es urkomisch klingt, wenn dieser Jsmael Gantz von Dankbarkeit redet —"
„Und dann teilte er mir andere Sachen mit, die mir so schwerwiegend erschienen, daß ich mich ohne langes Besinnen entschloß, ihm die Freiheit wiederzugeben. Diese anderen Mitteilungen kann ich indessen nur Dir allein wieder- holen, Vater, und so ungern ich sie wiederhole, so werde ich es doch thun, wenn Du es verlangst."
Die beiden Damen sahen sich erstaunt an, der Graf erblaßte; um die Sache kurz abzuschneiden, sagte er mit erzwungener Festigkeit und Ironie:
„Dann werdet Ihr wohl erlauben müssen, daß wir Euch einige Auges-- blicke allein lassen, damit mir Leo sein Geheimnis anvertrauen kann."
So wenig den Damen, deren Neugier geweckt war, diese Ausschließung lieb war, so gab es doch kein Mittel, um Leo zum Reden in ihrer Gegenwart zu bewegen, und Vater und Sohn begaben sich in ,d«s elfteren Kabinet.
„Vor Allem muß ich Dir mitteilen, Vater", begann dort Leo, „daß ich, nachdem mir der Banditensührer entflohen war, unß ich seinen Helfershelfer aus freien Stücken in Freiheit gesetzt «it Rücksicht auf mich selbst und
auf die Verantwortlichkeit, die ich dadurch auf mich geladen, sofort meine Entlastung an den Kriegsminister gesandt habe; seit gestern ist meine Verabschiedung in meine Hände gelangt."
„Hast Du denn total den Kopf verloren?" rief im höchsten Aerger der Graf aus, „Du häufest ja einen dummen Streich auf den anderen!"
„Ich habe ernstlich und reiflich überlegt, was ich that, und glaube nur der Notwendigkeit Rechnung getragen zu haben", versetzte ruhig Leo.
„Da bin ich doch immer neugieriger!"
„Das Resultat meines Streifzuges gegen die Räuberbande in den Pyrenäen , von dem meine Kameraden und meine Vorgesetzten nicht nur durch meinen Rapport, sondern auch durch meine Soldaten Kenntnis erlangen mußten, konnte nur Mißfallen bei denselben und Kopfschütteln erregen, zumal ich den wahren Grund, wegen dessen ich Jsmael Gantz entlassen habe, nicht angeben, sondern einen andern erfinden mußte."
„Und der wahre Grund?" forschte drängend der Graf.
„Ein Geheimnis, Vater, das Dich betrifft, das, wenn es nicht auf einer schmachvollen Verleumdung beruht, eine Entehrung unseres Namens birgt."
Obwohl Alles den Grafen auf diese Wendung hatte vorbereiten müssen, so fühlte er doch die Wucht des Momentes wie einen Schlag ins Gesicht. Leo entging die Bewegung seines Vaters nicht, und er fühlte seine eigene Beklommenheit und Angst sich verdoppeln. Leise fuhr er fort:
„Gantz hat mir erklärt, er besitze ein Papier, von Dir unterzeichnet, das Dich auf immer ruinieren würde, wenn es in die Hände der Justiz gelange."
Graf Villefleur erbebte; er antwortete keine Silbe.
„Er hat mich darauf aufgefordert, ihn zu entlassen, wenn ich nicht seine Rache gegen Dich heraufbeschwören wolle; anfänglich habe ich ihneinen elenden Lügner geheißen; als er aber mir genauere Einzelheiten vorhielt, habe ich nachgegeben. Habe ich nicht recht gehandelt, Vater?" fragte Leo, ohne den Grafen anzublicken.
Dieser hätte um keinen Preis eingewilligt, seinem Sohn gegenüber die Wahrheit einzugestehen, er hate trotz seiner unsagbaren Erregung während Leos Rede und namentlich infolge der augenscheinlichen Verwirrung seines