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— Wie der „Hamb. Korr." erfährt, werden demnächst für das Königreich Preußen Erhebungen betr. die Sonntagsruhe angeordnet werden. Bekanntlich sind solche auf die von nationalliberaler Seite erfolgte Anregung des Reichskanzlers für ganz Deutschland in Aussicht genommen. Es ist daher zu erwarten, daß in den übrigen Bundesstaaten in gleicher Weise vorgegangen werden wird.
— Ueber den Eindruck, welchen in Rotterdam die Wahl von Vlis- sin gen als Anlaufstation der subventionierten deutschen Dampferlinie gemacht hat, schreibt man der „Nat.-Ztg." von Rotterdam: „Die Nachricht, daß die deutsche Regierung Vlissingen gewählt hat, überrascht alle Welt. Man ist hier der Ansicht, daß diese Wahl aus besonderen taktischen Gründen erfolgt sei und die deutsche Regierung den Zweck verfolge, die Ueberflüssigkeit eines holländischen Anlaufehafens überhaupt zu demonstrieren."
Fr ank furt a. M., 22. Juli. Unter zahlreicher Beteiligung seiner Parteigenoffen wurde heute vormittag der Sozialdemokrat Hiller beerdigt. Eine große Menge Schutzleute zu Fuß und zu Pferde überwachten das Begräbnis.. Als einer der Anwesenden einen Kranz spendete und sagte: „die rote Schleife werfe ich Dir ins Grab", untersagte der dienthuende Polizeikommiffar jede Rede und forderte die Anwesenden dreimal zum Auseinandergehen auf. Da dieser Aufforderung nicht genügt wurde, machte die Polizeimannschaft von ihrer Waffe Gebrauch, infolge dessen mehrere Verwundungen vorkamen.
— Der zum Tode verurteilte Lieske, der Mörder Rumpffs, soll nun doch noch ein Begnadigungsgesuch eingereicht haben.
Oesterreich.
Gastern, 21. Juli. Bei seinem Eintreffen dahier heute abend sagte Kaiser Wilhelm zu dem ihn begrüßenden Statthalter Grafen Thun: Wie geht es dem Kaiser und der Kaiserin? Zu meiner dreiwöchentlichen hiesigen Exkursion bedarf ich zweier Sachen: recht gutes Wetter und viel Glück; das erstere hat sich zwar sehr schlimm angelaffen, aber ich hoffe, es wird sich schon ändern. Im Frühjahre bemerkte ferner der Kaiser, habe er sich sehr unwohl gefühlt, jetzt aber sei ihm viel wohler, und er hoffe, die Gasteiner Kur werde Heuer denselben günstigen Erfolg haben, wie in früheren Jahren.
Gages-Weuigkeiten.
* Ein wirkliches Meisterstück kunstvoller Tuchmosaikarbeit hat Herr Zuschneider Freund, im Geschäft von Herrn Ehr. Deyle hier, fertiggestellt. Es ist dies ein aus Tuchstückchen in schönster Farbenharmonie mit unsäglicher Mühe und großer Accuratesse zusammengestellter Tisch- Teppich. Das Mttelstück bildet eine Blumenvase mit Blumen, das königl. sächsische Wappen mit den sächsischen Landesfarben, die Einfassung bilden die Worte: „Zur Feier des Geburtstages I. M. d. Königin Carola". Wer diese, besonders für Damen, höchst interessante Arbeit zu sehen wünscht, hat hiezu Gelegenheit im Geschäfte des Herrn Ehr. Deyle, wo der Teppich einige Tage ausgestellt ist.
Riedlin gen, 22. Juli. Ein vermöglicher Geschäftsmann aus Erisdorf befindet sich samt seiner Frau seit einiger Zeit auf Reisen; vor seinem Abgang hat er einen Vertrauten zu Bewachung seines Eigentums in sein alleinstehendes Haus einlogiert. Indes ist an diesem Haus wiederholt ein Einbruchsversuch gemacht und in der zum Hause gehörigen benachbarten Scheuer Feuer eingelegt worden; der Wächter hat aber, wie er angab, die Versuche jedesmal durch seine Wachsamkeit vereitelt. Nachdem der Vertraute die Herrschaft von diesen Vorkommnissen benachrichtigt hatte, erhielt er die briefliche Zusage einer reichlichen Belohnung. Damit war der Zweck erreicht, denn es hat sich herausgestellt, daß die Einbruchsversuche vom Innern des
Hauses aus bewerkstelligt wurden, und ist es nun außer Zweifel, daß Einbrecher und Brandstifter der Wächter selbst ist.
Ebingen, 21. Juli. Letzten Sonntag fand hier eine von Anhängern der sozialdemokratischen Partei veranstaltete öffentliche Versammlung statt, m welcher der Reichstagsabg. Blos über die seitherigen Verhandlungen des Reichstags und die Haltung und Thätigkeit der sozialdemokratischen Fraktion referierte. Derselbe sprach sachlich und maßvoll, so daß auch die zahlreich vertretenen Anhänger anderer Parteien nicht unangenehm berührt wurden. Die Versammlung beschloß eine Petition an den Reichskanzler um Abschaffung der Sonntagsarbeit. Die Verhandlungen verliefen ohne jede Störung.
Dresden, 20. Juli. (Vom Turnfest.) Eine gestern versch. Zeitungen gemeldete etwas rätselhafte Nachricht über einen Streit beim Festmahl klärt sich dahin auf, daß gegen Schluß des Festbanketts ein in Han- pover geborener, jetzt in Pest wirkender Turnlehrer, Bockelberg-Ernö, die Rednertribüne betrat, um den deutschen Turnern Grüße zu entbieten und einen aus Karpathen-Edelweiß bestehenden, mit grün-weiß-roter Schleife geschmückten Kranz zu überreichen. Der Umstand, daß auf der Schleife eine Inschrift in magyarischer Sprache enthalten war und trotzdem der Kranz am Rednerpult aufgehängt wurde, führte zu Protesten in der Versammlung. Der Präsident des Turnfestes, Georgii (Eßlingen), erklärte hierauf, daß er den Kranz als ein Zeichen des Grußes aus Ungarn entgegennehme, entfernte aber denselben mit Recht von der Rednerbühne, als nicht an diesen Platz gehörig, worauf er am Aufgang zur Rednerbühne aufgehängt wurde; da jedoch die Versammlung auch dadurch nicht zufriedengestellt war, so wurde der Kranz schließlich ganz entfernt. Es scheint, daß hier eine gewisse chauvinistische Strömung die Oberhand erhielt. Warum sollte denn ein freundlich gemeinter Gruß nicht in magyarischer Sprache abgefaßt sein dürfen; übrigens gehörte er an die Nednerbühne insofern nicht, da jeder Schmuck an dieser absichtlich weggelasien worden war. — Gelegentlich des Begrüßungsabends der deutschen Turner wurde den beiden Organisatoren der deutschen Turnerschaft, Rechtsanw. Georgii aus Eßlingen und vr. meck Götz aus Lindenau bei Leipzig, die 25 Jahre als Vorsitzender und Geschäftsführer thätig gewesen sind, unter feierlicher Ansprache des Direktors Maul aus Karlsruhe ein kostbares Ehrengeschenk überreicht. Jeder erhielt ein kostbares silbernes teilweise vergoldetes Tafelbesteck in einer mit kunstvoller Ornamentik und entsprechender Widmung versehenen Truhe, aus deren unterem Fache ein goldglänzendes vierfaches k, aus Doppelkronen zusammengesetzt, entgegenleuchtete, ein baares Ehrengeschenk von je 1000 ^
Dresden, 22. Juli. Die Kampfrichter haben die Preise so verteilt, daß erhalten haben: Der Nordosten von Schlesien, Südposen, Brandenburg, der Norden von Hannover, Rheinland und Westphalen je einen, Mittelrhein sieben, Oberrhein einen, Württemberg vier, darunter Stuttgart den höch st en Preis überhaupt, Bayern drei, Thüringen einen, Königreich Sachsen sieben, Oesterreich fünf, England einen ersten, Schweiz einen zweiten, Amerika zwei zweite. Den ersten Preis erhielt der Stuttgarter Iennewein (derselbe »st Graveur, der Sohn des Schrift- gießersgehilfen Louis I., Neuchlinstraße).
Kgt. Standesamt ßalw.
Vom 18. bis 21. Juli 1885.
Geborene.
20. Juli. Emilie, T. d. Albert Palmer, Zigarrenmachers hier.
21. „ Gottlob Albert, S. d. Gottlob Schaad, Hilsswcichenwärters hier.
Getraute.
18. » Johann Michael Harsch, Maurer von Kenntheim, mit Anna Bertha Louise
Beißer von hier.
Gericht zur Stelle zu holen. Aus dem kurzen Verhör, welches der Gendarm- Wachtmeister mit mir anstellte, ward mir klar, was vorgesallen war. Das Gericht hatte bei mir die Siegel anlegen wollen, und als ich nicht erschien, vielmehr die Kunde kam. daß ich in größter Hast zu Pferde meinem schon am Morgen verschwundenen Affociö gefolgt sei, hat man Verdacht gegen uns gefaßt, daß wir gemeinschaftlich geflohen seien, und als bei der Inventaraufnahme der in der Bilanz aufgeführte Kaffenbestand sich weder in dem von mir offen gelassenen Geldschrank noch sonstwo im Hause vorfand, man vielmehr in meinem Pulte meinen Brief nach England entdeckte, in welchem ich meinem Freunde meine baldige Ankunft anzeigte, sahen die Gerichtspersonen ihren Verdacht bestätigt und glaubten, ich sei nebst Bougart mit dem Gelds nach Spanien hin entflohen, um von einem dortigen Hafen aus England zu erreichen. Sofort hatte man Gendarmen zu unserer Verfolgung ausgesandt, und das Unheil wollte, daß ich, statt bereits auf dem Rückweg nach Bayonne, noch immer fest auf der spanischen Grenze rastete, als dieselben mich fanden. Aber Protest und alle Unschuldsversicherungen meinerseits blieben erfolglos; ich wurde als Bankerottierer verhaftet, in Untersuchung gezogen und vom Schwurgericht zu dreijähriger Galeerenstrafe verurteilt. Ich mußte in den Bagno von Toulouse wandern, wo ich die drei qualvollsten Jahre meines Lebens verbrachte. Von diesen will ich Dir nicht erzählen, Kind. Du wurdest kurz nach meiner Verurteilung geboren, und im Bagno sah ich Dich zum ersten Male, als eines Tages Deine Mutter mit Dir mich dort besuchen durfte."
Unter dieser schmerzlichen Erinnerung ließ Baltimore den Kopf auf seine Brust sinken, und ein minutenlanges Schweigen entstand. Dann fuhr er fort:
„Deine Mutter hatte sich während dieser langen, schrecklichen Zeit von ihrer Hände Arbeit ernährt, bis sie gegen Ablauf des zweiten Jahres die Nachricht erhielt, daß ein alter Oheim von mütterlicher Seite, der in den Pyrenäen gelebt hatte, ihr sein kleines Vermögen, bestehend in seinem Häuschen nebst Garten und einigen Tausend Franken vererbt hatte. Ich riet ihr, dorthin mit Dir zu ziehen und von dem kleinen Erbteil bis zu meiner Heimkehr zu leben. So zogt Ihr nach den Pyrenäen, in denen Du Deine ersten Schritte gethan hast, in die Nähe des Mgnemaleberges. Zwar war mir
dadurch die Möglichkeit benommen, Euch von Zeit zu Zeit an den Besuchtagen im Kerker zu sehen, aber ich sah doch mit mehr Ruhe dem Ende meiner Strafzeit entgegen, da ich Euch vor Not geschützt wußte. Was die Pein der Kerkerstrafe betrifft, so will ich Dir nichts davon sagen, Therese; nur das wisse: Das Bewußtsein, unschuldig, an Stelle eines Andern, entehrt, zum Galeerensklaven erniedrigt zu sein, machte außer meiner Liebe zu den Meinen alles andere menschliche Gefühl verstummen; man hatte vor Gericht meine heiligsten Uuschuldsbeteuerungen mit Sarkasmen und Verachtung zurückgewiesen, und hatte mich als den elendesten Schurken gebrandmarkt, und gegen die Gesellschaft, die das gekonnt, gegen Gericht, Zeugen, Gendarmen, gegen die ganze Menschheit empfand ich ein Gefühl des Grolles, des Haffes, der Rache, das mich jeder Thal, jedes Verbrechens fähig machte. Man hatte mich in der grausamsten Weise mißhandelt, ohne daß ich das Geringste mir zu Schulden hattte kommen lassen, und dafür nährte ich von Tag zu Tag mehr und stärker den Entschluß, der Menschheit ihre Gefühllosigkeit und Grausamkeit heimzuzahlen. Das war meine Stimmung, als der heißersehnte Tag endlich erschien, an dem die Kerkerpforten sich mir zur Freiheit wieder erschließen mußten. Ich nahm Platz aus dem Postwagen, der mich Euch zuführen sollte, und nach mehrtägiger Reise, die mir fast endlos erschien, langte ich endlich in den Pyrenäen, in Cautere'S, an. Ich nahm einen Führer, da ich den Weg und die Lage des von Euch bewohnten Häuschens, das gänzlich vereinsamt aus der Straße von Cauterets nach dem Vignemale lag, nicht kannte. Der Mann ging für meine Elle, Euch wiederzusehen, zu langsam, und öfter als einmal blieb er hinter meinen hastigen Schritten zurück, so daß ich aus ihn warten mußte. Endlich — endlich lag mein Ziel vor mir, die kleine Hütte, die meine Welt barg, in der die Einzigen wohnten, die das Schicksal mir gelassen! O, mit welchem Gefühle der Glückseligkeit, mit welcher Wonne stürzte ich auf die niedrige Thüre zu, hinter der meine Frau in Sehnsucht der Heimkehr des so lange Vermißten harren mußte! Ich bedeutete meinen Führer umzukehren und öffnete stürmisch die Thüre.
(Fortsetzung folgt.)