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60. Jahrgang
Amts- unä IntekkigenMatt für äen Kezirk^.
Erscheint Dienstag, Donnerstag L Samstag.
Die Einrückungsgebühr beträgt 9 H p. Spalte im Bezirk, sonst 12 H.
Dienstag, äen 16. Juni 1885.
Abonnementspreis halbjährlich 1 ^ 80 durch die Post bezogen im Bezirk 2 30 H, sonst in
ganz Württemberg 2 70 H.
Amtliche Wekanrrtmcrchungerr.
Bekanntmachung.
Zum Gerichtsvollzieher der Gemeinde Stamm heim ist der hier wohnhafte Gerichtsvollzieher Wochcle bestellt worden.
Calw, den 12. Juni 1885.
K. Amtsgericht.
Frommarm.
politische Wachrrichten.
Deutsch esReich.
Berlin, 12. Juni. Die Abreise des Kaisers nach Ems, welche am Samtag oder Sonntag erfolgen sollte, ist vorläufig bis Mitte oder Ende nächster Woche verschoben worden. Als Hinderungsgrund wird die gegenwärtig herrschende rauhe Witterung bezeichnet, welche selbst die täglichen Nachmittagsspazierfahrten verbietet. Zunächst ist ein mehrwöchentlicher Aufenthalt in Ems beabsichtigt, von wo aus sich der Kaiser zu kurzem Besuche nach Koblenz begibt, falls bis dahin seine Gemahlin dort zum Sommer- aufentholt eingetrosfen ist; sodann ist ein Besuch bei den großherzoglich badischen Herrschaften auf der Insel Mainau in Aussicht genommen und schließlich die alljährliche Badekur in Gastein. Mitte Juli wird der Direktor der königlichen Oper, von Strantz, dort eintreffen, um in der Villa der Gräfin Lehndorff-Steinort die Dilettantenvorstellungen zu leiten, welche während des Aufenthaltes des Kaisers bis jetzt alljährlich, mit Ausnahme des vorigen Jahres wegen der Trauer um den verstorbenen Grafen Lehndorff-Steinort, daselbst stattgefunden haben. Die Rückkehr des Monarchen nach Berlin bezw. Babelsberg soll etwa gegen Mitte August erfolgen. — Der Kaiser hat geste.n abend 8 Uhr zum erftenmale nach seiner Krankheit die Oper besucht. — Fürst Bismarck wird in der letzten Woche dieses Monats hier zu kurzer Anwesenheit zurückerwartet. Nach der Vermählung des Grafen Wilhelm wird sich der Fürst zum Gebrauche einer Nachkur vorsichtlich nach Friedrichsruh begeben.
— Im „Berl. Tagebl." führt ein Afrikareisender aus, daß Englands Protektorat über Niger-Benus den deutschen Handel von einem Gebiete mit 25 Mill. Seelen nahezu ausschließt. Der Reisende ist der Meinung, England sei zu dem über die Küste von Lagos bis zum Königsflusse erklärten
Protektorat vollkommen berechtigt. Aber es habe direkt gegen die Beschlüsse der Berliner Kongokonferenz gehandelt, indem es die Niger- und Benuö-Ufer bis Lokodja, resp. bis Jbi unter sein Protektorat stellte. Es sei daher zu erwarten, daß die Reichsregierung diese englischen Uebergriffe nicht ruhig hinnehme. (Bekanntlich herrscht die Meinung, daß das Vorgehen Englands in dieser Sache auf Grund der Besprechungen Lord Rosebery's mit dem Reichskanzler erfolgt sei und daß Deutschland in anderer Richtung werde entschädigt werden. Es bleibt abzuwarten, ob und welche authentische Mitteilungen darüber in die Oeffentlichkeit gelangen.)
Frankreich.
— Der zwischen Frankreich und China geschlossene Friedensvertrag enthält einem Shanghaier Telegramm des „Standard" zufolge, nachstehende Bestimmungen: Französische Soldaten dürfen nicht chinesisches Gebiet, chinesische Soldaten nicht französisches Gebiet betreten; die Beziehungen zwischen Frankreich und Annam dürfen nicht derartig sein, um China Belege - heilen zu bereiten; eine Grenzkommisfion wird ernannt, welche alle Grenzfragen binnen 6 Monaten lösen wird; Franzosen, die chinesisches Gebiet, oder Chinesen, die französisches Gebiet betreten, müssen mit Pässen versehen sein; die Steuern in Poo fl n und Lang-son werden von den Chinesin eingezogen ; französische Konsuln werden an diesen Punkten ernannt werden, um die Handelsbeziehungen zwischen dem nördlichen Tongking und den französischen Provinzen Hunnan und Kwangfi zu überwachen; die Franzosen werden unverzüglich den Bau einer Eisenbahn in Tongking in Angriff nehmen. Wenn die Chinesen ein Gleiches zu thun wünschen, müssen sie erst die Franzosen zu Rate ziehen. Die Bestimmungen dieses Vertrages bleiben für zehn Jahre in Kraft. Die französischen Truppen auf chinesischem Gebiet werden unverzüglich zurückgezogen. Bestehende Verträge zwischen Frankreich und China bleiben unverändert.
Hcrges-WeuigkeiLen.
Leonberg, 11. Juni. Gestern abend kam ein elegant gekleideter Herr aus Stuttgart zu Fuß hieher, der auf Reklamation seiner Angehörigen wegen Irrsinns angehalten wurde und von seinem Bruder in Begleitung ekNes Fahnders der Stuttgarter Polizei mit dem 12 Uhr-Zug heute nach Hause gebracht werden sollte. In dem Augenblicke, als der Bahnzug am Perron des Stationsgebäudes anfuhr, sprang der Kranke, der sich bis dahin ganz gutwillig benommen hatte, so plötzlich unter den Zug, daß er von
Feuilleton.
Zm Avgrnnde.
Roman von Louiö Hackenbroich. (Verfasser des Romans: „EinVampy r.-)
(Fortsetzung.)
„Biaritz?" sagte sie erstaunt; „Ihr seid es?"
„Ich selbst, gnädiges Fräulein", antwortete der Koloß nicht ohne einige Verlegenheit. „Ich habe meinen Juan die Gesellschaft heimbegleiten lassen, weil ich versprochen hatte, bei Nachtanbruch wieder zu Hause zu sein. Aber es scheint, daß Sie nicht dem rechten Wege gefolgt sind?"
„Ich habe bei dem plötzlichen Unwetter meine Begleiter verloren und bin irre gegangen; glücklicherweise hat mein Irrweg mich hierher geführt."
„Gott sei Dank dafür! Die Wege sind so gefahrvoll in den Bergen!" sagte das junge Mädchens, indem es das Feuer schürte; „ich werde Ihnen trockene Kleider geben, denn Sie sind ja ganz durchnäßt."
Diejenige, welche sich so besorgt um Lucienne bezeigte, war keine Bäuerin aus den Pyrenäen; in modernster, eleganter Kleidung, und von graziöser Haltung verriet sie sofort ein Kind der Großstadt, und ihre Anwesenheit in der armselig, bäurisch eingerichteten Gebirgswohnug war Lucienne im höchsten Grade ausfallend, jedoch war es nicht allein das junge, schöne Mädchen, was Lucienne sonderbar in solcher Umgebung fand, sondern auch noch eine reich gekleidete Frau von krankhaftem Aussehen zog ihre erstaunten Blicke auf sich, um so mehr, als dieselbe den Eintritt einer fremden, neuen Person gar nicht zu beachten schien, sondern gleichmütig mit einem dicken Strauße Blumen spielte und dieselben mit Wohlgefallen betrachtete. Die Frau machte sofort auf Lucienne den Eindruck einer Irrsinnigen, und das junge Mädchen irrte nicht in seiner Annahme; die Frau war die Gattin Baltimores und ihre junge Genossin war Therese.
Diese letztere war auf einen Moment in ein Nebenzimmer getreten und kam nun mit einem Arm voll Kleidungsstücke zurück.
„Diese Kleidungsstücke sind von meiner Mutter", sagte sie, mit dem Blicke auf die arme Irre deutend. „Kleiden Sie sich um, und dann mache ich Ihnen eine kleine Stärkung zurecht. — Ihr, Biaritz", wandte sie sich an diesen, seid unterdessen so gut, sofort zur Familie des Fräuleins zu gehen, um dieselbe über ihr Schicksal zu beruhigen, und zu melden, daß das Fräulein gut aufgehoben ist und morgen zurückkehren werde."
Lucienne nahm dies mit dem aufrichtigsten Dank an; weniger erfreut war Biaritz über den ihm erteilten Auftrag; er machte eine bezeichnende Grimmasse, aber er wagte nicht zu widersprechen.
„Wie Sie befehlen, Fräulein Therese", antwortete er unterwürfig.
Er nahm schnell Abschied von seiner Frau, die er Katharina nannte, und welche die Dienste einer Magd zu versehen schien, stopfte seine Pfeife und verließ die Hütte. Wenige Minuten später hatte Lucienne sich umgeklei- oet und Therese machte ihr ein höchst schmackhaftes Abendbrod zurecht, das von den reichen Vorräten des armseligen Häuschens Zeugnis gab; Lucienne rührte indessen kaum etwas von alledem an, sondern begnügte sich mit einem Glase spanischen Weins und einem Stückchen Zwieback.
„Wie glücklich bin ich, Sie in dieser Wildnis gefunden zu haben; mix kommt es vor, wie ein Wunder, das ich mir nicht zu erklären weiß."
„Sie wissen", antwortete Therese lächelnd, „Wunder erklären sich niemals ; dennoch will ich Ihnen den Schlüssel zu diesem geben, nur nicht mehr heute Abend, denn heute dürfen Sie nur noch daran denken, gut zu schlafen, um sich von Ihrer Angst und Aufregung zu erholen. Morgen reden wir mehr, wie zwei gute Freundinnen. Wollen Sie", fragte sie mit kindlichem Ausdrucke, „meine Freundin sein, so lange Sie bei mir sind?"
„Für immer, Therese", entgegnete mit wohlwollendem Lächeln Lucienne; „Therese, so nannte Sie ja soeben Biaritz, wenn ich nicht irre."
„Therese Baltimore,-und Sie heißen?"
„Lucienne von Grandprs."
„Ein schöner Name, und wie vornehm das tlingt I — Aber nicht wahr,