5 . Seit« - Nr. 262

Rasolder Tagdlatt »Der Geiellichaster"

Samstag de« 7. November 1442

Der Ruhelose

Ein- Erzählung »um S. November Bon Eitel Kaper

NSK 2m Margen, unguten Sommer von 1923 ist damals an das Iohanneum. die alte, fast behäbige Lateinschule der n»rd- deutschen Handelsstadt, ein seltsamer Mann gekommen. Niemand bat ihn groß angekündigt, ganz plötzlich ist er vor der Prima qestanden ein Lehramtsbewerber wie viele ander« auch und hat sich als der Dicktor Jessen den langbeinige» ..alten He» re»' vorgestellt, die es gewohnt waren, alle Ding« mit Ge­lassenheit' zu nehmen. Man behandelte diese Bewerber mit einer jovialen Großzügigkeit und war es gewohnt, daß gewisse Spiel« «geln im Umgang gewahrt bliebe». So galt es als unmöglich, daß einer der jungen Lehrer in der Art des Rektors und der «tten Professoren zu regiere« an Hub. I« Handumdrehen war solch ein Eifriger sarkastisch »mgetaust und hatte es nun zu spären, wie rauh der Wind hier wehen konnte.

Der Doktor Jessen nun, er trug mit einer bestimmten Hart­näckigkeit noch immer den «ngearbeÄeten grauen Waffenrock der Frontsoldaten und als einzige» Schmuck das Eiserne erster, unterrichet« Geschichte. Das war damals ein Fach, bei dem man sich schwer vorstellen konnte, daß es einmal ein Hauptfach wer­den könne. Die Lehrpläne wechselten ständig, und die Behörde sah es nicht ungern, wen» der Stoff möglichst harmlos uud nachlässig behandelt wurde.

Irgend etwas fesselte «ns all« an der Persönlichkeit Jessens. Mr sahen ihn an freien Tagen oft draußen vor der Stadt auf langen, einsamen Wanderungen. Und der Instinkt zwang uns, d-m Rätsel dieses ernsthaften, ruhelosen Mannes nachzusinnen.

Es gab ein paar Schüler die auch an Doktor Jessen, dem Mann mit der fadenscheinigen grauen Joppe, ihren Witz pro­bierten. Aber die Scherze klangen schal und fanden kein rechtes Echo. Und als uns der feldgraue Doktor die große Tragödie Bis­marcks vor die Seel rückte, und als er, ganz schlicht und in freier Rede, vom Op-seroang der Millionen vor Verdun, an der Somme mb in Flandern berichtete, da war es totenstill in der Klaffe. Ms hier angeknüpft wurde, das spann sich fort auf den Spa­ziergängen. zu denen Jessen immer bereit war. Da sahen wir freilich, daß im Herzen dieses hageren, beherrschten Mannes ein Feuer brannte, das sich nicht löschen ließ. Und niemals zuvor borken wir bessere Worte über die Erbärmlichkeit der Zeit als auf solchen Gängen.

Es gah in jener Seestadt ein übles pazifistisches Skandalblatt, das seine ganze Wut gegen Kräfte richtete/ die eine Bewegung in die Starre der Zeit brachien. Dieses Blatt war es natürlich, das am schnellsten den Doktor Jessen aufspürte und verriet. Ein Landsknecht und ruheloser Revoluzzer, so schrieb die Zei­tung, sei mit Duldung der schimmerlosen Schulbehörde am Jo- hanneum tätig, um hier in der Stille Umstürzler und Milita­risten zu züchten. Am nächsten Tag kam der alte Rektor mit Jcffen in die Geschichtsstuude, »achde« sie zuvor lange konferiert hatten. Nie werden wir es vergessen, wie der kleine, weißhaarige Mann zu uns sagte:

Der Doktor Jessen hat m«, volles Vertrauen. Sie wissen, daß er sich sein Amt nicht leicht macht. Danken Sic es ihm mit Vertrauen und tätiger Mitarbeit!"

Er sah nur lenchtende Auge», als er das Klassenzimmer wie­der verließ, und er imchte sich verstanden.

Im Spätherbst 1823, in den ersten Tagen des November. Msschah er dann, daß Doktor Jessen nicht zum Unterricht kam. Es hieß, er sei mit unbekanntem Ziel verreist. Mr aber spürten, als dann die Zeitungen aus München berichteten, da müsse »nser feldgrauer Doktor dabei sein. Von ihm zuerst hatten ja alle den Namen Adolf Hitlers gehört, von ihm etwas über di« junge Bewegung im Süden des Reiches erfahren. Doktor Sesscn hatte uns von einer Kundgebuug i« Zirkus Krone derickrtet, die er erlebt hatte.

Ich habe in jener Stunde alle die wiedergesehen, mit denen ich draußen im Graben gelegen habe, mit denen ich zur Früh­jahrsoffensive antrat. Auf einmal waren sie gar nicht tot und ausgelöscht; sie lebten und grüßen uns: Wir heißen euch hoffen!"

Ja, so hatte der Doktor erzählt und hatte dabei einen sonder­lichen Glanz im Gesicht gehabt.

Wir hielten es kaum aus, die fünf Stunden Unterricht: dann stürzten wir zu den Aushängekästen der Zeitungen und lasen, was es Neues zu melden gab aus München. Das pazi- siische Blatt Überschlag sich in Verdammungen und heulte trium- fistische Blatt Lberschlu sich in Verdammungen und beulte trium-

KM

Zum 9. November

Die ewige Wache aus dem königlichen Platz in München.

(Atlantic, Zander-M.-K.)

phierend, der Putsch sei zusammengebrochen. Jetzt werde das Gericht sprechen.

An einem nebligen Novembertag stand Doktor Jessen noch einmal vor der Klasse. In fünfundvierzig Minuten gab er uns ein Bild des deutschen Schicksals vom Aufbruch 1914 bis zum Novemberverrat. Und als dann die Glocke läutete, da ging kei­ner hinaus, da mußte unser Lehrer aus München berichten. Bitter zuerst, fast stockend erwähnte er den Wortbruch, dann aber richtete er den Blick ins Weite.

Es mag ein mancher denken, wir seien abermals gescheitert", so sagte er und wog jedes Wort.Ich aber sage euch, daß diese Fackel niemals mehr ausgelöscht werden kann. Die Zeugen sind aufgestanden, und wir wissen nun wenigstens, wie sehr uns die Ketten schmerzen. Das läßt uns keine Ruhe, und wenn ich nun fortgehe, weil ich hier »icht mehr bleiben kann, dann hinter­lasse ich euch etwas, das ihr zu wahren habt. Es ist das beste Erbe eines Volkes und es ist ein wirklicher Auftrag. Die Flagge, di« das Blut der Opfer getrunken hat, wird niemand mehr ein­holen, so mächtig sich auch die Widersacher blähen und spreizen."

Wir haben danach vom Doktor Jessen Abschied genommen, der nun landauf und landab weiterzog, einer ungewissen Zu­kunft entgegen. Vergessen hat ihn niemand in den lanoen Jahren, so wenig man seine Mahnung vergessen konnte. Sein ernstes, schmales Antlitz hat vor uns gestanden, denn er war nur einer unter vielen, aber er war uns ein Sinnbild der deutschen Seele geworden, die ruhelos ist, bis der Tag ihres BE« anblicht.

Der revolutionäre SÄiller

H» seinem Geburtstag am 10. November

USK Lnter de» großen Klassikern des 18. Jahrhunderts die dem deutschen Volke in der Zeit größter politischer Zerrisse» heit und größter Not ein gemeinsames geistiges Vaterland schufen, steht Friedrich Schiller, der am 1v. November 1759 i» Marbach geboren wurde, obenan.

Schillers Geist ist es gewesen, der in den Deutschen zur Zeit napoleonischer Unterjochung den Gedanken a» die Freiheit wachgehalten hat. In jener llnglückszeit, als eine der Voraus­setzungen der napoleoniichen Politik die Entmachtung Deutsch­lands- erfüllt schien, als ein Mann wie der Freiherr vonr Stein in die Verbannung zog, ei» genialer Mensch und Dichtztt wie Heinrich von Kleist sich erschoß, um das Unglück nicht länger mff «sehen M müssen, und manche Deutsch« sich in würdeloser Ane^ennung der Fremdherrschaft überboten, i» dieser Zeit voll Not und Schmach habe« stch die Deutsche» an Schiller, Dichtungen, au sei»«» geradezu revolutionäre» dramatische» Schaffen, wieder auig«richtet und sich zusammengefunden zu deutschem Fühlen und zu o-pfermutigem Handeln, Er war ». der i» dieser Zeit in der Deutschen Volksseele das Bewußtst» lebendig hielt:Eine Grenze hat Tyrannenmacht".

Schillers Dichtungen find trotzige Manifest« des deutschen FreiheitswiLens, flammende Proteste gegen sozial« lluterdrük- ku»g und tyrannische Willkür. Mit vollem Bewußtsein stellt« Schiller die Bühne und seine Dichtungen auf de, Kampf ei». Seine Dramen wurde« zu geistigen Sturmtruppen beim Angriff auf politisch« Zustände und soziale Mißverhältnisse, sie sind der Weckruf, die Fanfare zum revolutionärem Kampf. Zuerst trat er als politischer und sozialer Kämpfer auf. So find z. B.Die Räuber" eine Proklamation der Freiheit des einzelnen,Fiesco" das Bekenntnis des echten republikanischen Gedankens und Kabale und Liebe" eine Anklage gegen gesellschaftliche und soziale Korruption. Dan» lautert« sich der Freiheitsgedank« imDon Larlos", der «» Protest gegen monarchischen und kirchlichen Despotismus und eine leidenschaftliche Korderuug nachGedankenfreiheit" ist.

Die inner« Geistesfreiheit verkündet Schiller m den philo­sophischen Gedichten. Und wo hat das Problem von Freiheit und Notwendigkeit eine treffendere Lösung gefunden, als in der Wallenstem-Trikogie? In derJungfrau von Orleans" sehen wir, wie in einem zusammen gebrochenen Volk dar Na­tionalbewußtsein und die Staatsgesinnung geweckt werde» u»d zum Sieg über di« Fremdherrschaft führen. Roch gewaltiger und eindrucksvoller zeigt unsWilhelm Teil" die siegreiche Erhe­bung eines geknechteten- Volks gegen die tyrarmisch« Be­drückung.

Schillers revoluBonstr« Sofft tritt «s Wevall » seinen Werken entgegen. Ob es die Fürsten, oi> «s die Kirche, ob es die Vorurteil«, Orde» und Gesellschaften ober sonstige Veran­staltungen st«d de« Menschen und die Völker zu unterdrücken, er ergreift überall mutig und entschlossen das Banner der Frei­heit. Schiller zeigt das ideale Bild eines deutschen Menschen und stellt dieses Bild völlig in Einklang mit seinem eigenen, geläuterten Wesen allen Verkümmerungen der Zeit entgegen. So sehen wir auch in demLied von der Glocke", wie stch über die Gedankengänge der -Französischen Revolution der vater­ländische Gedanke erhebt.

Scbillers revolutionäres Bekenntnis zu Volk und FreÄett

Ein italienisches Geschütz im Feuerkamps an der El-Alamein- Front. (Presse-Bild-Zentrale, Luce. Zander-M.-K.)

uliUiscn-üccntsscuurL vuac« vkncccc, osnzn /ncisre«. vecnoäu

137. Fortsetzung.)

Anna nnd Hans lieben sich, mit einer Liebe, die er­schüttert. Als der Schnee schmilzt, segnet der Pfarrer auch diesen Bund.

Jahre, sie steigen empor nnd vereinten, nnd alle tragen ein gerütteltes Matz an Sorgen, an Kampf nnd Leistung aller Art, für den Einzelnen, für das ganze Dorf, für die ganze Kolonie.

Der kleine Paul Kraftrecht verschießt seine ersten Pfeile in die Sonne. Er sieht Thomas in allem ähnlich.

Regina Kraftrecht hat einem Mädchen das Leben ge­schenkt und dem Kinde in der Taufe den Namen Herta geben lassen. Franziska sieht neidlos dem Mutterglück der Schwester zu. Ihr »ist es bis jetzt versagt.

Anna Devitz aber wird im zweiten Jahr ihrer Ehe mit Hans Devitz einSohn geboren, den Eberhardt Devitz, der Alte, über das Taufbecken hält:Dietrich soll der Enkel heißen, wie mein Vater geheißen hat."

Das Sorgcnjahr i §oo.

Jahre um Jahre rinnen dahin.

Joachim Kraftrccht und Eberhardt Devitz sind alt un­müde geworden.

Um die Jahrhundertwende erschüttert die ganze Ko­lonie die Nachricht: Eberhardt Devitz ist tot.

Weinend stehen die Kolonisten um den Sarg dessen, -er so sehr die Seele des Ganzen gewesen. Bon Wil- helmSdorf, von Sarepte, von Stahl am Karaman und von noch viel weiter her kommen die Trauernden. Selbst das Kontor in Saratow richtet an die Hinterbliebenen ein langes Beileidsschreiben.

. »Sie sind der Schulmeister von Wilhelmsdorf?" hält Hans Devitz ein schmales, dürftiges Männchen an.

»Ja, der bin ich." m

«Lassen Sie im Dorf bekanntmachen, ich, Hans Devitz,

möchte in einer Stunde zu den Wilhelmsdörfern rede». Es handelt sich um unser aller Interesse."

Ter Schulmeister nickt eifrig bejahend.Sofort! Ich schicke sogleich die Kinder herum!"

Was hast du eigentlich vor?" fragt Tom Kraftrcchr Hans Devitz.

Ich will in Saratow eine wichtige Sache zur Sprache ' bringen, und zwar die Landvermessnng. Dazu mutz ich wissen, daß wir in dieser Frage alle hinter uns haben. Dann nämlich kann man viel leichter etwas erreichen bei den Behörden."

Ndch einer Stunde ist jung und alt ans dem Torfplat- versammelt. Hans Devitz steht erlöst auf den Stufen zur Kirchentür und beginnt:

Es ist der Wunsch meines Vaters gewesen, den ihr alle gut gekannt habt, daß ich mich bekümmere um die neue Vermessung, damit wir für alle Zeit wissen, welcher Boden uns und unseren Kindern zu eigen ge­hören soll. Thomas Kraftrecht und ich wollen nach Sara­tow, um dieserhalb beim Kontor vorzusprechen. Vorher aber möchte ich wissen, daß ihr mit uns eines Sinnes seid. Wenn ich meine Bitte vortrage, möchte ich es in den, Bewußtsein tun, daß es unser aller Wunsch ist, den ich mit mehr Nachdruck vertreten kann.

In der Menge werden Stimmen laut:Das ist gut! Ein Devitz wird mehr ausrichten als wir! Er ist ganz der Sohn seines Vaters! Er soll es dem Kontor beibringen!"

»Ja", ruft Hans Devitz vernehmlich,das will ich ja! Aber wir müssen uns erst klar darüber werden, um was es sich handelt. Hört zu! Um uns Kolonisten Arbeit zu verschaffen, hätte sich weder die Regierung in Petersburg, noch das Kontor in Saratow zu bemühen brauchen. Sie hätten uns keineVorgesetzten" zu schicken brauchen, die uns die Arbeit anbefehlen. Wir haben nur einen großen Fehler gemacht: wir haben vergessen, daß diesenVor­gesetzten" allein das Recht znstand, uns Arbeit zu geben. Wir haben sie uns selbst finden wollen nnd auch ge­funden. Und darum allein ist den vielen ihr Handwerk verboten worden, das sie ansnben wollten. Das Kontor mußte irgend etwas zu tun haben. Wir sind nicht wie freie deutsche Ansiedler gehalten, sondern das Kontor schaut auf uns mit den Augen eines Gutsbesitzers auf seine Leibeigenen, denen er selbstverständlich die Arbeit zuteilt, deren Arbeit er überwacht. Habe ich recht oder nicht?"

«Ja, hundertmal recht!"

Wie mir mein Vater gesagt hat »nd wie die Aelteren unter euch ja auch wissen werden, sotten laut Gesetz vom 19. März 1764 jeder Kotvnistcnfamilie dreißig Tesja- tinen eigentümlichen Landes versprochen morden sein. Eigentümlich wie das Wort deutlich ansdrückt, haben wir geglaubt: zum freien Eigentum! Oder nicht?"

Ja, ja, freies Eigentum!"

Bei guten Ernten", und HanS Devitz wirft seinen Kopf in gewohnter Bewegung zurück,hätte das für eine Familie gereicht. Haben wir aber gute Ernten gehabt? Mußten wir nicht vielmehr in den letzten Jahren bei unserer Arbeit die eine Hand am Messer im Gurt halten, nm das Leben zn verteidigen? Kann man so ernten? ES heißt weiter in dem genannten Gesetz, daß ein Teil des Ackerlandes nnd der übrigen Znbehörigkeit frei gelassen werden mnß für die zukünftigen Kinder. Die Kinder sind wir, und unsere Kinder. Und jetzt ans einmal soll das Familienlandesanteilsnsiem eine Umteilnng erfah­ren auf die Anzahl der männlichen Seelen. Wißt ihr das"?

Ja, ja, ja, das wissen wir!"

Es will", fährt Hans Devitz fort,die Regierung, off« besser die Krone, dem Landmangel abhelfen, und die Generallandvermesserei ist ja begönne» worden. Aber die Sache ruht wieder. Und jetzt stehen wir da! Können wir ackern und anbanen, wenn wir nicht wissen, ob wir das Feld auch ernten werden? Vielleicht wird es einem andern Angemessen!"

0So etwas kann geschehen! Das hat uns noch gefehlt!"

Das will -ch jetzt denen in Saratow sagen, nnd daß wir uns dem Plan widersetzen, als deutsche Ansiedler in den Abgaben mit den russischen Kronsbauern gleich­gestellt zn werden! Wir haben Mißernten und Vieh­seuchen gehabt. Wir haben mühselig erst die Stepp« aufgsrissen, wir sind beraubt worden, verhindert, unserer Ackcrwirtschaft nachzngehen, da sollten wir Steuern und Abgaben tragen können wie die alteingesessenen russischen Kronsbauern?! Die Generalvermefsung ist schon 1788 begonnen worden, und seit der Zeit «Iso seit Jahren, warten wir auf unser« Zuschnitte! Und dre Not steigt! In seiner Sterbestunde hat mir mein Vater es ani die Seele gebunden, es denen in Saratow zu sagen. Ist es euch recht? Thomas Kraftrecht und ich sind auf den Weg dahin."

Da rufen sie laut nnd begeistert:Ja. ja! Er soll Misere Sache führen, wie sein Vater sie geführt hat, im­mer znm Nutzen unseres Kreises!" (Forts, folgt.)