seufzte er: Ihr armen Kinder! Doch er hatte nicht Zeit, sich Sem Bevauern hinzngeben, denn der Anblick, der ihm jetzt wurde, war zu tief schmerzlich, als daß nicht alles Andere für den Augenblick Hütte müssen in den Hintergrund treten. Kaum war der Stall geöffnet worden und der Doctor hatte die Fallthüre aufgehoben, die den unter demselben befindlichen dunkeln und feuchten Keller verschloß, als auch schon der dort drinnen sitzende Knabe zu schreien begann, zugleich von einem ÜLinkcl des Kellers in den andern flüchtend: „Schlagen nicht, schlagen nicht! — Hungern lieber — Hungern!"
Aber schon hatte der Doctor mir mächtiger Faust den Knabe:! erfaßt, und ihn emporhebend und zum Keller hinausstoßend, rief er : „Hier haben Sie Ihren Jungen! Und null machen Sie, daß Sie fortkommen!" — Brummend setzte er hinzu: „Erst wollen sie, man soll ihn kurz halten, damit er nicht zu licht im Kopfe werde, und iinn! — Hol' der Teufel alle die sentimentalen Spürnasen. — Aber Warnitz soll mir Rede stehen!"
Mcerheim hörte nicht mehr. Der Anblick des Knaben hatte ihn zu tief ergriffen. Wie verkommen, wie scheu, wie gedrückt sah er aus. Den ließ die innewohnende Angst, in die er versetzt worden war, zu keinem klaren Gedanken kommen. Er zitterte am ganzen Leibe; und selbst die liebevollen freundlichen Worte Mperheims fanden für jetzt noch keinen Eingang bei ihm. Im- - mer scheu blickte er umher, immer fürchtete er, die gewichtige Faust des Doctor Wunsiedel würde ihn erfassen und zu Boden schlagen, j Nur nachdem er das Haus verlassen, war cs, als ob der Knabe . aufzuathmen wage.
Und als sie weiter schritten, während der Wagen ihnen zur Seite langsam fuhr, als hie und da ein Vogel zu singen begann, war es, als ob die Seele deS Kindes ihre Flügel zu regen beginne. Das Auge begann Heller, klarer zu leuchten, und Meerheim gewann zu seiner Freude mehr und mehr die Ueberzeugung, daß derselbe nur durch die rohe, falsche Behandlung so hcrabgekommcn ! sei, daß eine gute, umsichtige, liebevolle Leitung und Führung hier nicht vergebens arbeiten würde.
Wie segnete er seinen Entschluß, hier eingegriffen zu haben. Immer mehr, immer freundlicher wußte er den Knaben anzuregen und zum Sprechen zu veranlassen. Und wenn auch die vergangenen Tage und Zeiten noch wie ein Alp auf Verstand und Ge- müth lagen, so gaben doch einzelne Antworten Zeugniß, daß die Nacht seines Geistes nicht für immer verschleiert bleiben werde. Getrosten.Muthes, voll Hoffnung und Zuversicht, fuhr er, nach einem halben Stündchen angestrengten Gehens, der Jdiotenanstalt des l)x. Hepder zu.
Und als er dieselbe erreicht, wie anders stellte sich Alles hier seinem Blicke dar. Wie freundlich, wie schön, wie einladend, vom umliegenden Wald vor rauhen Winden geschützt, lag das Haus, zeigte sich Garten und Feld. Hier im Garten waren einige Mädchen bei den Blumen beschäftigt; dort gruben andere auf dem Felde, indeß kleinere auf den Rasenplätzen vor dem Hanse sich tummelten, Reifen schlugen und Haschen spielten. O, es war ein freudiges Regen und Arbeiten. Und wenn nicht linkische Bewegungen, einige unartikulirte Laute, die gehört wurden, es vcrrathen'hütlen, man würde es kaum gewußt und bemerkt haben, daß inan sich nicht unter ganz vollsinnigen Kindern befände.
Reinhard, an der Hand Meerheims, schaute umher. Sein Auge belebte sich, und als er von seinem Begleiter jetzt gefragt wurde, ob er wohl gern hier bleiben möchte, zitterte er, schaute ängstlich auf und sagte, scheue Blicke um sich werfend: „Ja! ja! gern, herzlich! Aber Wunsiedel — Doctor — schlägt!"
Meerheim streichelte dem unglücklichen Knaben die Backen und sagte: „Doctor Wunsiedel kommt nicht hierher!" Und dem Doctor Hepder entgegengehend, der so eben aus dem Hause trat, und den er bereits von früheren Besuchen der Anstalt her kannte, sprach er: „Siehe, Reinhard, bei diesem freundlichen Manne wirst Du von nun ab bleiben, mir all den Knaben dort spielen und recht viel lernen!"
Wohl verfiel der Knabe wieder bei diesen Worten in seine frühere Aengstlichkeit und Schüchternheit, doch ein Wort des Doctors rief die Knaben von den Rasenplätzen her. Sie kamen und nahmen ihren kleinen neuen Kameraden in die Mitte und liefen nnt ihm lachend ihren Spielplätzen zu.
Ehe eine Stunde verging, und kaum daß Meerheim mit
dem Doctor Zeit gefunden, das Notwendige in Bezug des Knaben zu besprechen, war dieser bereits heimisch geworden.
Und Tage, Wochen, Monate gingen dahin. Es war liderbst geworden, die Bäume hatten sich entlaubt; Winter wurde es; Schnee lag auf Feld und Wald. Das Weihnachtsfest rückte heran; der heilige Christabend war gekommen. Die Weihnachts- bäume brannten und glänzten in den Stuben.
Meerheim hatte mit Treue und Gewissenhaftigkeit seinem Amte vorgestanden. Er hatte sich die allgemeine Liebe der Kinder, die Achtung der Eltern erworben. In das Haus des Kaufmann Arnfeld war er im Ganzen weniger gekommen, als man nach dem Vorgenannten hätte erwarten sollen. Es war eine gewisse Scheu, ein bangendes Gefühl, was ihn abgehalten.. Es heißt ja schon in einem älteren Liede:
Ich ging wohl um Dich meilenweit,
Wenn'S nur nicht zu Dir war'!
Und so möcht's auch ihm ergehen, ohne daß er sich dieses Gefühls doch so recht bewußt gewesen wäre. Vielleicht fürchtete er auch einen neuen Ausbruch der Heftigkeit des Kaufmanns. Wer konnte es wissen!
Heute aber, heute lenkte ei' seine Schritte rasch und freudig nach dem Hanse. Er war eingeladen, der Christbescheernng in der Familie beizuwohnen.
Und die Lichter waren angezündet, — der Baum brannte. Theodor jubelte und konnte sich nicht satt sehen an seinen Ee- scheuken. Wehmüthig, glücklich stand die Mutter, Gatte und Tochter hatten sie reich beschenkt. Auch Meerhcim war durch Kleinigkeiten bedacht worden. Jetzt aber öffnete sich die Thüre, Wendel, der Greis trat ein, an seiner Hand den kleinen Reinhard führend. Theodor erkannte seinen kleinen Freund und Spielkameraden sofort und lief ihm jubelnd entgegen. Doch Reinhard erwiderte seine Liebkosungen nicht, er drängte ihn sanft zurück, und zu der Gattin des Kaufmanns hinstürzend und dieselbe umhalsend und küssend, rief er: „Mama! liebe Mama! der Reinhard ist hier! Und das, das hat er Dir mitgebracht und selbst gemacht!"
Mit diesen Worten, indeß die Angeredete ihn vor Freude weinend umfing und an sich drückte, zog er sein Päckchen unter dem Arme hervor und entfaltete eine zierlich aus Stroh geflochtene kleine Tischdecke. „Das ist Dein!" rief er, „Christ heilige, hat es mir gesagt, Dir machen soll!"
So redete und sprach der Knabe, und man sah und fühlte ihm die Freude an, mit der er seine Geschicklichkeit darthat.
Arnfeld war zu dem Greise getreten. Er reichte ihm die Hand und sagte leise, aber von tiefer Erregtheit ergriffen: „Dies danke ich Ihnen. Ihr Wort zeigte mir den Abgrund, an welchem ich stand. Wäre es nicht geschehen, ich wäre vielleicht gegenwärtig ein Betrüger — wo nicht gar ein Mörder! Wie herrlich, wie schön hat der Kranke sich entwickelt!"
Der Greis entgegnete nichts; aber um seinen Mund lagerte es sich wie Freude und Zufriedenheit. Als jedoch in diesem Augenblick Theodor herzutrat, um auch ihm die für ihn bereit gehaltenen kleinen Geschenke zu übergeben, als die Frau des Hauses in tiefer sichtbarer Rührung kam, die Hand ihm dankend zu reichen, während dessen Reinhard in verzeihlichem Stolze seine Schreibe- und Rechenhefte Meerheim zeigte, zugleich die aufgetra- geneu Grüße von vr. Hepder bestellend — war es, als ob eine so recht tiefe Wehmuth ihn beschliche, als fühlte er sein Alleinstehen auf dieser Welt in diesem Augenblicke so recht tief und schmerzlich — und eine Thräne stahl sich unbemerkt aus seinem Auge. (Schluß folgt.)
Allerlei.
— In Deutschland wird fast mehr Bier als Wasser getrunken. Sollte man da den Bierfälschern nicht eben so auf dem Dache sein wie den Brunnenvergiftern? — Die Untersuchung des Bieres einer großen Brauerei in Breslau ergab: 8 Theile Dreiblatt-Extrakt, 1 Theil Pomeranzen-Extrakt, 8 Theile Dextrin, Theil Pikrinsäure mit deutlichen Spuren von Kupfer. Berliner Biere enthielten Qnassia-Extrakt, wilden Rosmarin und wässerig-spirituösen Krähenaugen-Extrakt (Strychnin und Dexrrin).
Redaktion, Druck und Verlag der G. W. Zais er'scheu Buchhandlung