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als Magd zu verdingen. Sie war nunmehr völlig er­wachsen und eine vollkommene Schönheit geworden. Die zarte, ätherische Gestalt, im grellen Widerspruche mit der Dienstbarkeit, welche ihr das Geschick aufgebürdet hatte, das große, seelenvolle Auge, die sanfte Röche ihrer Wan­gen machten auf Jeden, der Annetten zum ersten Male erblickte, einen tiefen Eindruck. Aber ihre theilnahmlose Verschlossenheit scheuchte wiederum die Menschen von ihr, denn es war, als ob man in ihrer Gegenwart nicht heiter seyn dürfte. So ward sie angestaunt, wie das Näthselge- bild einer fremden Welt.

Ihre Herrschaften waren immerdar mit ihr zufrieden. Jezt diente sie schon seit Jahren bei einer Jrländerm, die sich geraume Zeit eines langwierigen Prozesses wegen in Brest aufhielt. Nach Beendigung des Reichsstreites, der um ein sehr bedeutendes Erbe geführt wurde, wollte die Lady nach Amerika ziehen. Sie wünschte Annette dabin mitzunehmen; die arme Waise war leicht dazu entschlossen, ihre Gebieterin zu begleiten, denn sie wurde von dieser mit seltener Güte behandelt. Annette vergalt diese Milde mit einer eben so seltenen Anhänglichkeit und Ergebenheit.

Das Berhälimß der beiden Frauen wurde nicht ver­ändert, sondern beinahe noch inniger, als der Vicomte Da­tour sich um die schöne Jrländerm bewarb und ihr Herz gewann. Die Reise nach Amerika trat fezt in den Hin­tergrund; aber auch die Verbindung verzögerte sich, weil beide Brautleute erst den Ausgang des Prozesses abwarien wollten, dessen glücklicher Beendigung man entgegen sah.

Der alie Sachwalter, welcher für die Lady den Pro­zeß führte, hatte einen Schreiber, Louis Chorban mit Na­men, der des Rechtsstreites wegen oft in das Haus der Jrländerm kam. Er und Annette sahen sich oft, und so war eS natürlich, daß zwischen den beiden fimgen Leuten sich ein zartes Verhältmß ennpann. Aber diese Liebe glich wenig derjenigen, die man so oft bei diesen Ständen fin­det. Annettens Gefühle blieben auch fezt noch stumm und sprachlos, und sie schien nur um so mehr zu leiden, da sie wußte, daß sie von Louis geliebt wurde, und daß sie ihn wieder liebe.

Da nabm der Prozeß plötzlich eine unerwartete Wen- düng; der Gegner übergab dem Gerichte ein Dokoment, das alle Hoffnungen der Lady vernichten mußie. Nach wenigen Tagen folgte die Entscheidung des Gerichts: der Prozeß war für die Jrländerin verloren.

Die Lady war fett einigen Tagen unwohl und nicht zu sprechen. Louis trat mit bleichem Angesicht zu der Ge­liebten und brachte ibr die Nachricht. Annette sank er­schüttert in den Sessel. Mein Gott rief sie, auch sie, die gnädige Herrin, unglücklich! Sie hat mit so fester Zuver­sicht auf eine glückliche Entscheidung gehofft, und nun so plötzlich bricht das Unglück cm. Wie kann ich der Gebie­terin in diesem Augenblicke eine Nachricht bringen, die alle ihre Hoffnungen, ibr ganzes Lebensglück zerstört; fezt, wo sie so krank ist, daß sie nicht einmal mich vor sich gelassen.

Der also Klagenden harrte aber noch ein neuer, ein anderer Schmerz; mit bebenden Lauten gestand ihr Louis, daß er in den Geschäften seines Herrn Brest verlassen und vielleicht erst in einigen Wochen zurückkehren würde. Die Liebenden trennten sich mit jenen Träumen und Hoffnungen des Wiedersehens, die den Himmel, wenn auch nicht auf die Erde, doch in unsere Herzen niederzaubern.

Endlich kehrte Louis zurück; aber nicht Wochen, sechs lange Monate war er entfernt gewesen. Zuerst eilte er,

die Geliebte zu begrüßen; aber er fand das HauS ver­schlossen und leer. Er fragte, da ward ihm die Antwort: die Lady sey nach Amerika gereist. Die Erde bebte unter semen Füßen, das Licht der Sonne schwand vor seinen Augen, als er weiter forschte und ihm die Auskunft wurde: Annette sizl «m Kerker und ist als Kindesmörderin ange­klagt und überwiesen.

Mit matten, gebrochenen Lauten gab Louis seinem Herrn Nachricht über den Erfolg der ihm anvertrauten Geschäfte. Der Alte war zufrieden, aber er erschrak vor dem bleichen, verstörten Antlitze. Was fehlt dir, fragte er rheilnehmend, du bist krank, die Reise ist dir nicht gut be­kommen? Louis schüttelte das Haupt und stammelte nur: Annette sizt im Kerker. Ja, erwieberte der Anwalt ohne sonderliche Theilnahme; ich war von Gerichts wegen zu ih­rem Vertbeidl'ger ernannt, aber die Unglückliche war nicht zu erretten. Dort liegt ihr Todesurtheil.

Louis wankte und hielt sich mühsam an einem Stuhle aufrecht; aus seiner odemlosen Brust stöhnte es: Bei dem ewigen Gott, sie ist unschuldig! Bedenkt nur, Herr, ihr stiller reiner Wandel.

Der Alte lächelte fast spöttisch und wiederholte: Ihr reiner Wandel? Sie war immerdar rätbselbaft und ver­schlossen. Ich habe das Mädchen nie lächeln seben; ich habe sie nie auffauchzen hören, das sind die Kainszeichen, mit welchen Gott die Verbrecher zeichnet.

Wer soll rhr Verführer seyn? fragte Louis tonlos.

Sie Hai ihn nicht genannt, crwicdene der Anwalt ver­finstert, umsonst war selbst des Priesters Zuspruch. Das Gerücht nannie manchen Verdächtigen, selbst du wurdest nicht verschont.

Seht Ihr, Herr, rief Louis eifrig, so wie ich der Sünde verdächtig und dennoch rein und schuldlos bin, so ist es auch gewiß Annette.

Der Alte schüttelte nochmals den Kopf, er mochte wobl ahnen, was des Jünglings Herz brach, renn er sprach recht mitleidig: Ged schlafen, armer Louis. Erst auf ihr eigenes, freiwilliges Getäneniß wurde sie verurtbeilt.

Auf ibr eigenes Gestäntniß! lallte Louis dem Anwälte nach. Er wankte aus dem Zimmer auf sein enges Stübchen.

Im schmerzlichen Krampfe barten seine Hänve die Ak­ten ergriffen, welche Annettens Todesurtheil enthielten; be­wußtlos vatte er sie auf seine Kammer mitgenommen. Er las die ganze Nacht bis zum grauenden Morgen; welche Schauer entbüllten sich rbm; er durste, er konnte beinahe nicht mebr zweifeln; in jedem Blatte, vas er umschlug, trat Annettens Schuld klarer bervor. Am frühen Morgen des Tages nach Louis Abreise saben drei Fischer d«e Un­glückliche bleich unv verstört am Meeresstrande umberwan­ken, sich scheu umblicken, und da sie sich allein wäbnie, Etwas in die Fluchen schleudern; worauf sie sich in ban­ger Eile entfernte. Verdächtig war solch ein Treiben, den­noch wagten die Fischer nicht, die Flüchtige aufzuhalten; als aber die Männer sich nun dem Strande näherten, hat­ten die Wogen das Päckchen wieder ans Ufer zurückgeschleu­dert. Es war in eine Frauenschürze gewickelt, und als die Fischer diese öffneten, erblickten sie einen neugebornen Knaben, in dessen blutbedeckier Brust noch ein scharfes Messer steckte.

Die Unglückliche batte noch nicht die Stadt erreicht; ermattet war sie in einem Gestrüppe am Wege nieverge- sunken. Dort fanden sie die Fischer.

(Fortsetzung folgt.)