Der Nagel.
Ich machte im Jahre 1820 eine Reise durch Belgien. Als ich in die Nähe von Waterloo kam, regte sich in mir der Wunsch sein denkwürdiges Schlachtfeld zu besehen, und ich scheute den Umweg von einigen Meilen nicht.
Es war an einem warmen Tage im August. Ich hatte mich der interessanten Loca- litat wegen schon mehrere Stunden hcrumge- tricbcn, und begann nun in der brennenden Hitze einen Durst nach Rebcnblut zu fühlen, der dem Blutdurst des hier so schmählich ge- demüthigtcn Eroberers wenig nachgab. In einem unansehnlichen Wirthshause, das am Wege stand, durfte ich einen kühlen Trunk zu finden hoffen. Aber weder auf dem Flur noch in der Küche war, außer einigem Federvieh, eine lebende Seele zu erspähen. Ich öffnete mehrere Zimmer mit demselben Erfolg — Alles todt und wie ausgcstorbcn! Zuletzt kam ich an eine Thüre, die meinem Versuche, sie zu öffnen, nicht nachgcben wollte. Doch ließ eine breite Spalte bequem ins Zimmer schauen.
Seltsamer Anblick! Drüben stand auf einem Stuhl ein junger, hübscher Mann mit starren Augen und einem Gesichte, dessen Farbe von der weißgetünchten Wand, an die er sich lehnte, kaum abstach. Der an einen Nagel befestigte Strick, welchen er eben zu einer Schlinge um seinen Hals legte, ließ über sein Beginnen keinen Zweifel zu.
Ich sprengte durch einen kräftigen Fußtritt die Thür und kam zum Glück noch früh genug, um eine Sünde zu verhindern, die unverzeihlicher scheint, als alle, da sie die einzige ist, die nicht bereut werden kann.
Anfangs nahm der junge Mensch meinen tröstlichen Zuspruch mit dumpfem Trotz auf. Aber nach und nach gieng er in eine mildere Stimmung über. „Arme Mutter!" seufzte er vor sich hin. Ich sprach nun mit Rührung von den Pflichten der Kinder gegen die Eltern. Er hörte mich weinend an und erzählte mir endlich nach langem Drängen, was ihn zu jener furchtbaren That veranlaßte.
Es war eine alte Geschichte. Wilhelm hatte sich in die Tochter eines benachbarten Gutsbesitzers verliebt, und Gretchen erwiederte sein Gefühl mit der glühendsten Zuneigung. Das Paar glaubte für einander geschaffen zu seyn, und meinte, daß man es bei so großer
Gleichheit der Denkungsart mit der Ungleichheit der Glücksgüter nicht zu genau nehmen dürfe. So hielt denn Wilhelm getrost um Gretchen an. Aber ihr Vater, dem ein Habenichts auch ein Taugenichts schien, wietz den zärtlichen Freier mit Hohn ab. „Komm über's Jahr wieder" — sagte er — „und bring' als Frciwerbcr zehntausend Franken mit, dann will ich Dir sic geben." Das heißt so viel als nie — dachte Wilhelm und kaufte sich für den letzten Frank, den er besaß, einen eisernen Nagel und einen hänfenen Strick.
„Zehntausend Franken?" fragte ick. „Biel Geld ! Doch laß den Math nicht sinken! Ich bin zwar nur ein deutscher Schriftsteller, und da kannst Du wohl begreifen, daß die Franken mir nicht sehr hold sind. Aber deutsche Schriftsteller haben schon öfter Ideen gehabt, die ihre zehntausend Franken werth waren — warum nicht auch ich einmal? Wahrhaftig, in meinem Kopfe fängt so eine kostbare Idee an aufzublühen, und gieb Acht, in Jahresfrist ist die Frucht reif und Du fuhrst dein Grct- chen zum Altäre. Aber versprich mir auch, den Nagel dort nie mehr zu inkommodiren."
Wilhelm gelobte dicß, und da eben seine Mutter ins Zimmer trat, so wurde der Sache nicht weiter gedacht. Ich verweilte noch einen ganzen Tag bei den wackern Leuten, tröstete und ermuthigte den Sohn, besprach mich mit der Alten über die Mittel, ihn aufzuheitern und begab mich dann wieder auf die Reise, um in der Heimath an der Erfül- lung eines Versprechens zu arbeiten, welches ich ein Wenig zu voreilig und größteuthcils in der Hoffnung gegeben hatte, daß der auf- gcfchobene Mordversuch wohl auch ein aufgehobener seyn werde.
Nach einigen Monaten erschien meine Beschreibung jener Reise durch Belgien. Das Buch machte k,Es wurde sehr bald ins Französische, Englische und Holländische übersetzt, und mein Verleger honorirte mir eine Auflage nach der andern. Jetzt konnte ich dem Wanderungstricb von Neuem Genüge leisten. Es geschah, und ich kam auf meiner Fahrt nach dem südlichen Fränkrcich wieder durch jene erst jüngst bereisete Gegend, bei welcher Gelegenheit ich denn auch, um das Resultat meiner Bemühungen zu erfahren, bei Wilhelm einsprach.
Das alte niedrige Häuschen war verschwunden. An dessen Stelle erhob sich ein stattliches Gebäude, unter dessen malerisch