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Nagolber Tagblatt »Der Gesellschafter-
Freitag, de« 19. Mai 1889
Die Deutsche Reichsbahn im Jahre 1938
Lin Jahr höchster Anforderungen — 72,7 v. H. aller Reisenden und 7V,8 v. H. der Euter zu ermäßigten Tarife» befördert — Ueberschutz der Betriebsrechnung 252 Mill. RM.
In der Geschichte der Deutschen Reichsbahn wird das Jahr 1988 einen besonderen Platz einnehmen. Es stellte an dieses größte Unternehmen der Welt Aufgaben, die einzigartig in ihren gigantischen Ausmaßen gewesen sind. Andererseits erfuhr die Deutsche Reichsbahn durch die beiden weltgeschichtlichen Geschehen der Heimkehr der Ostmark und des Sudetenlandes eine beträchtliche Erweiterung ihres Aufgabenbereiches. Die wirtschaftspolitische Entwicklung im Altreich und die Eingliederung der ostmärktschen und sudetendeutschen Gebiete stellten derart hohe Anforderungen, daß die Deutsche Reichsbahn zeitweilig bis an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit beansprucht war. Im Altreich machte sich die Auswirkung des Vierjahresplanes mit der sich immer mehr vollziehenden Umstellung auf inländische Rohstoffe und die damit zusammenhängende Entstehung neuer Industrien auch im Betriebe der Reichsbahn immer stärker bemerkbar. Hinzu kamen die umfangreichen Transporte für den beschleunigten Ausbau unserer Befestigungsanlagen, die Beförderungen für den Vau der Reichsautobahnen, die besonderen Aufgaben im Zusammenhang mit der Umgestaltung deutscher Städte und nicht zuletzt der weitere wirtschaftliche Aufschwung, der eine allgemein erhöhte Beförderung von Personen und Gütern zur Folge hatte. So hat die Deutsche Reichsbahn im vergangenen Jahre eine Leistung vollbracht, die in einer um 17.7 v. H. gegenüber 1937 erhöhten Personenkilometerzahl im Personenverkehr und in einer um 17,8 v. H. erhöhten Tonnenkilometerzahl im Güterverkehr ihren statistischen Niederschlag gefunden hat.
Das Betriebsnetz der Deutschen Reichsbahn hat sich im Laufe der vergangenen Jahre mit der Rückgliederung der Ostmark und des Sudctenlandes sowie der llebernahme der Lübeck-Büchsner Eisenbahngesellschaft, der Braunschweigschen Landes-Eisenbahn- Gesellschaft und der Lokalbahn AE. in München um 9495 Kilometer auf 64VS1 Kilometer vergrößert. Das Streckennetz hat damit eine Länge von etwa dem eineinhalbfachen Erdumfang.
Einschließlich der Ostmark und des Sudetenlaudes beförderte die Deutsche Reichsbahn im Eesamtverkehr 2041,7 Millionen Personen. 72,65 v. H. wurden zu ermäßigten Tarifen befördert, so daß also praktisch nur etwa ein Viertel aller Reisenden den normalen Tarif für eine Fahrkarte bezahlt hatte. Auch der Güterverkehr, der etwa zwei Drittel der gesamten Betriebserträge einbringt, nahm stark zu. Auch hier kann, ähnlich wie im Personenverkehr, festgestellt werden, daß die zu Ausnahmetarifen heförderte Gütermenge anteilmäßig wieder zugenommen hat. Sie stieg von 70,3 v. H. im Jahre 1937 auf 70,6 v. H. 1938 (ohne Ostmark). Der außerordentlich lebhafte Güterverkehr, der selbst in den sonst verkehrsschwachen Monaten kaum merklich abflaute, stellte an die Leistungsfähigkeit des Betriebsapparates die höchsten Anforderungen und hatte zeitweise sogar dessen Ueberlastung zur Folge.
Infolge der Verkehrszunahme und der Ereignisse des Jahres 1938 ergaben sich auch für den Reichsbahnkraftwagen unerwartet große und teilweise völlig neue Aufgaben. Im Sudetenland boten die eingesetzten Kraftomnibusse und Lastkraftwagen in den erste» Tagen während und nach der Besetzung infolge umfangreicher Zerstörungen von Eisenhahnanlagen vielfach die einzige Beförderungsmöglichkeit.
Infolge der Zunahme der Leistungen haben sich die Erträge befriedigend entwickelt. Sie lagen im Personen- und Gepäck- verkehr im Altreich mit 1338,5 Millionen RM. um 12,3 v. H. höher als im Jahre 1937. Der Güterverkehr im Altreich schloß mit 3153,0 Millionen RM. Einnahmen gegenüber dem Vorjahre ab; das entspricht einer Zunahme von 7,5 v. H. Die Vetriebs- rechnung für das Jahr 1938 schließt mit Gesamterträgen in Höhe von 5133,5 Millionen RM. ab. Hiervon entfallen auf die Ostmark 318,1 Millionen RM. Die Eesamtaufwendungen beziffern sich auf 4881,4 Milionen RM., davon sind 376,3 Millionen RM. für die Ostmark. In den Aufwendungen sind bereits 120 Millionen RM. enthalten, die die Reichsbahn als feste Abgabe an die allgemeine Reichskasse zu leisten hat. Die Aufwendungen, welche die Kosten für die Betriebsfllhrung und für die Unterhaltung sowie Erneuerung der Bahnanlagen und Fahrzeuge enthält, lagen um 9,2 v. H. höher als 1937.
Außer den 252 Millionen RM. Betriebsübcrschutz standen der Deutschen Reichsbahn noch außerordentliche Erträge in Höhe von 111,7 Millionen RM. und der Vortrag aus 1937 mit 8,1 Millionen RM., insgesamt demnach 371,9 Millionen RM. zur Verfügung. Hieraus waren Zinsen und Dividende (142,2 Millionen RM.), die Rücklage für die Einziehung der Vorzugsaktien (36 Millionen RM.), Rückstellungen (12,5 Millionen RM.) und die Zuweisung zur Ausgleichsrücklage (96 Millionen RM.) enthalten. Ferner ist eine weitere Abgabe an die allgemeine Reichs- kasse in Höhe von 73,4 Millionen RM. ausgewiescn.
Die Entwicklung war, finanziell gesehen, durchaus gesund. Allein wenn man die Beträge zusammenfaßt, die die Reichsbahn für die allgemeine Reichskasse im vergangenen Jahre aufgebracht hat, wird diese Feststellung unterstrichen. Das sind allein rund 480 Millionen RM. zusammengerechnet! Die hohen Reuanforderungen für das Fahrzeugbeschaffungsprogramm und für die Neuanlagen in verschiedenen deutschen Städten machen es aber notwendig, zur Finanzierung den Kapitalmarkt in Anspruch zu nehmen. Wann die Deutsche Reichsbahn damit an die Öffentlichkeit herantreten wird, steht heute noch nicht endgültig fest.
»Mkottnarm- und »rükottnfrei«
Berlin, 16. Mai. Eine große Bedeutung für die Volksgesundheit und für die Klarheit und Wahrheit der Wirtschaftswerbung hat eine Verordnung über nikotinarmen und nikotin- freien Tabak, die der Reichsminister des Innern und der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft gemeinsam erlassen haben. Die Verordnung, die zunächst nicht die Ostmark und die sudetendeutschen Gebiete betrifft, tritt am 1. Juli 1939 in Kraft. Sie bringt, wie das NDZ. meldet, zum erstenmal eine reichsrechtliche Festlegung der Begriffe „nikotinarm" und „niko- tinfrci". Diese Klarstellung war erforderlich geworden, weil in zunehmendem Maße Mißbrauch mit der Anpreisung nikotin- freier Tabakerzeugnisse getrieben und es sogar so dargestellt worden war, als ob gewisse Tabakerzeugnisse gesundheitlich vollkommen unbedenklich wären und zum Beispiel selbst von Herzkranken konsumiert werden könnten. Die neue Verordnung schreibt nunmehr vor, daß als „nikotinarm" nur bezeichnet werden dürfen: 1. Zigaretten, Zigarettentabake und Pfeifentabake, die nicht mehr als 0,6 v. H. Nikotin (bezogen auf die Trockensubstanz) enthalten; 2. Zigarrentabake, Zigarren, Zigarillos und Stumpen, die nicht mehr als 1,8 v. H. Nikotin enthalten.
Als „nikotin fr ei" dürfen bezeichnet werden: 1. Tabake und Zigaretten, die nicht mehr als 0,1 v. H. und 2. Zigarren, Zigarillos und Stumpen, die nicht mehr als 0,2 v. H. Nikotin enthalten, immer bezogen auf Trockensubstanz. Als „n atiirlich
nikotinarm" oder „natürlich nikotinfrei" dürfen Tabake und Tabakerzeugnisse bezeichnet werden, die den erwähnten geringen" Nikotingehalt lediglich der Verwendung von nikotinarm oder nikotinfrei gewonnenen Tabakblättern verdanken. Die Verordnung bestimmt in entsprechender Weise, welche Erzeugnisse als »im Rauch nikotinfrei" bezeichnet werden dürfen. !
Aus dem Reichsführerlager der HI. i
Braunschweig, 16. Mai. Im Reichsführerinnen- und Reichs- I führerlager der Hitlerjugend sprach am Dienstag Stabschef s Lutze. Er stellte besonders die gemeinsamen Aufgaben von I SA. und HI. heraus, die Menschen weltanschaulich und körper- ! lich zu erziehen. Die Nationalsozialisten hätten auch in der ! Kampfzeit nicht mit den Waffen, sondern mit dem Herzen ihre s großen Erfolge errungen, und so würden sie auch weiter auf diese Weise die deutschen Menschen gewinnen. Reichsbauernführer Reichsminister Darre legte dar, was besonders auf landwirtschaftlichem Gebiete und auf dem Gebiete der Ernährung des deutschen Volkes im letzten halben Jahrzehnt geleistet worden ist. Dabei ging er sehr ausführlich auf die Marktordnung und ihre Auswirkungen ein und streifte in diesem Zusammenhang viele Gebiete der Weltwirtschaftslage. Er betonte mit großem Nachdruck, daß es keine nationale Sicherheit ohne die Sicherung der Ernährung im eigenen Lande gäbe. Sein Appell an die Ju- gendführerinnen und Jugendführer, sich mit aller Kraft für die Wiederverankerung des Volkes mit dem Boden einzusetzen, fand bei den Hörern begeistert e Aufnahme. .
Das Deutsche Rote Kreuz braucht Deiue Mitarbeit!
nsg. Das Deutsche Rote Kreuz ist nach dem Willen des Führers die Hilfsorganisation der deutschen Wehrmacht im Kriegs- sänitätsdienst. Es ist bereit, für den Sanitätsdienst des zivilen Luftschutzes, im Straßenunsallhilfsdienst, im Wasser- und Ee- birgsrettungsdienst, sowie zur Hilfe bei Katastrophen und Ver- kehrsunzlücken. Der Führer selbst hat die Schirmherrschaft über diese Organisation übernommen und sie zu einem Bestandteil des nationalsozialistischen Staates erklärt.
Ich rufe alle deutschen Männer und Frauen zur aktiven Mitarbeit auf, die gewillt und in der Lage sind, im Geiste des nationalsozialistischen Staates im Deutschen Roten Kreuz zu helfen, sei es als Angehöriger der DRK.-Bereitschasten, der DRK.- Schwesternschaften oder als fördernde Mitglieder der DRK.- Ortsgemeinschaften. Anmeldungen zur aktiven oder fördernden Mitarbeit nehmen alle Rotkreuzdienststellen bei den Landratsämtern entgegen.
Der Landesführer Xlll des Deutschen Roten Kreuzes:
Willy Liebel, DRK.-Generalhauptführer.
Sippenkundttche Bestandsaufnahme
Die große Aufnahme der sippenkundlichen Bestandsaufnahme des deutschen Volkes ist bereits vor längerer Zeit durch ein Abkommen eingeleitet worden, das der NS.-Lehrerbund, der Reichsnährstand und das Rassenpolitische Amt der NSDAP, geschlossen haben. Die hierbei entstandene Arbeitsgemeinschaft verfolgt das Ziel, durch die Verkartung der Kirchenbücher und die Schaffung von Dorfsippenbüchern und Stammtafeln eine umfassende sippenkundliche Bestandsaufnahme des deutschen Volkes zu ermöglichen. Jeder Volksgenosse soll damit die Möglichkeit erhalten, in kürzester Zeit und mit den geringsten Kosten und Mühen di« Quellen seines Blutes zu erforschen. Das Stammtafelwerk, auf das vor allem der NS.-Lehrerbund größten Wert legt, soll die Grundlage bilden für eine erbbiologische Bestandsaufnahme und damit für eine erfolgversprechende Rassenpolitik. Ferner für die menschliche Erbforschung und für die Geschichte des deutschen Blutes. Wie der NS.-Lehrerbund mitteilt, arbeiten bis jetzt rund 10 OOOdeutscheErzieherehren- amtlich an diesem gewaltigen Werk. Während der Reichsnährstand die Arbeit vor allem durch Bereitstellen der erforderlichen Mittel ermöglicht und fördert, leistet der NS.-Lehrerbund den Großteil der Verkartungsarbeit. Sobald in einem größeren Gebiet die Arbeit zu einem gewissen Abschluß gekommen ist, sollen die höchsten Staats- und Parteistellen gebeten werden, in das Werk Einblick zu nehmen, damit ihm von staatswegen die nötige Unterstützung zuteil werde.
»Iliegen-er Tuberkulose-Arzt" hat sich bewahrt
Das Reichsversicherungsamt steift in einem Rundschreiben an die Träger der Invalidenversicherung fest, daß sich die Einrichtung des „fliegenden Tuberkulose-Arztes" als ein vorzügliches Mittel zur Früherfassung von Tuberkulosefällen in verschiedenen Landesversicherungsanstalten bewährt habe. Es handelt sich dabei um eine fahrbare Röntgenanlage, die von einer Tuberkulose-Heilstätte aus unter der Führung eines Heilstättenarztes nach näherer Vereinbarung mit den Gesundheitsämtern, Amt für Volksgesundheit der NSDAP, oder der DAF., der NSV. oder sonstigen mit der Bekämpfung der Tuberkulose befaßten Organisationen oder Behörden zur Einzel- oder Reihendurchleuchtung betrieben wird. Die Träger der Invalidenversicherung, die bisher diese Einrichtung noch nicht getroffen haben, werden ersucht, sich diese Anlagen ebenfalls nutzbar zu machen. Das Reichsversicherungsamt betont, daß der Vehandlungs- erfolg der Tuberkulose weitgehend von der Früherfassung abhängig ist. Auf dieser Erkenntnis bauten sich bereits eine Reihe von Maßnahmen auf, die von den Trägern der Rentenversicherung getroffen wurden. Insbesondere habe sich auch das Schnell- einweisunasverfabren schon ieaensreich ausgewirkt
Giftiger Nebel über England
Eindrücke von einer Reise in die Heimat der Kriegshetze
Von Helmut Sündermann
»I.
Der »Spielplatz der reichen Leute"
Die Reise führt zum Schluß noch einige Tage nach Schottland. In Glasgow: das riesige Industriezentrum, die größten Schiffswerften der Welt. Vor den Toren Glasgows: das Land der Schlösser und Golfplätze. Der Unterschied zwischen den beiden Seiten Englands ist hier ein besonders drastischer und überraschender. Noch wenige Minuten vorher hat sich das Auto durch elende Gassen gezwungen, in denen Hunderttausende von Arbeitern ein trauriges Dasein fristen; jetzt tut sich eine Parklandschaft auf, das Land der Schlösser derer, die das Empire beherrschen.
In Schottland gibt es heute kaum mehr landwirtschaftliche Betriebe. Als im vorigen Jahrhundert die überseeische Einfuhr von Lebensmitteln im großen Stil einsetzte, verjagten die schottischen Gutsbesitzer ihre Pächter und stellten die ganze Bewirtschaftung auf Schafzucht und Wildjagd um. Aus den Aeckern wurden Parks. Furchthare Szenen haben sich damals in diesem Lande abgespielt. Es war eine Bauernaustreibung, die vor keiner Brutalität zurückschreckte: ganze Dörfer wurden niedergebrannt, um die Bauern, die sich der Entlassung nicht füge» wollten, zum Abzug zu treiben.
So wurde Schottland zum „Spielplatz der Reichen" — wie ein Schotte mir sein eigenes Land nannte. Und es ist die erstaunliche Lehre dieses Landes — ähnlich wie die von London —: nirgends wohnen unbegrenzter Reichtum und furchtbare Armut so Tür an Tür, nirgends sind die Elemente abgrundtiefer sozialer Gegensätze so ausgeprägt wie hier. Aber die herrschenden Schichten sind sich dessen bewußt und sehen sich vor. Das zaristische Rußland regierte mit der Peitsche, die Society regiert zwar nicht humaner, aber wirkungsvoller mit der Presse: mit den Phrasen der Demokratie überdeckt sie die mittelalterliche soziale Zurückgebliebenheit, sie lenkt die Reaktion des Unglücks der Massen von den wirklich Verantwortlichen ab, mit ihren Lügen- feldzügen chloroformiert sie das Denken des Volkes, veranlaßt es, mit der Maske des Weltbeglückers sich um Angelegenheiten anderer Völker mehr zu kümmern als um die Probleme des eigenen.
In solche Ueberlegungen und Gespräche in Schottland kam die Nachricht von der Entlassung Litwinows, die hier einschlug wie eine Bombe und von den Vertretern der Chamberlain- Politik mit lautem Wehklagen begleitet wurde, als ob ein ganz furchtbares Ereignis über die geprüfte Menschheit hereingebrochen wäre. Ein ganzer Himmel blütenweißer Träume scheint für manchen solcher verwirrten Köpfe mit dem Abgang dieser Lodzer Ehettofigur zusammengebrochen zu sein!
Die Begeisterung für einen „Kreuzzug" ist nun plötzlich auf den Nullpunkt gesunken. Sogar die gutgeölte Propagandamaschine bekommt einen beträchtlichen Schock. Rasch wird die stets zur Verfügung stehende Sonderplatte aufgelegt: Die bevorstehende Zusammenkunft zwischen dem deutschen und italienischen Außenminister stehe im Zeichen des italienischen Wunsches, den „Absprnng von der deutschen Politik" zu finden. Diese leider völlig abgeklapperte Melodie verfehlt allerdings ihre Wirkung völlig, und das Interesse für „die deutschen Bomber" hat schlagartig nachgelassen. Daß gleichzeitig Herr Chamberlain im Sinne einer Wahl des kleineren Uebels den irischen Forderungen nach Nichteinführung der Dienstpflicht in Nordirland nachgab und so einen ersten Schritt in Richtung des Anschlusses des noch unmittelbar unter englischer Führung stehenden Nordirland an den irischen Freistaat unternahm — alles das hat die Mienen der Chamberlain-Engländer zum Wochenende nicht heiterer gemacht.
Ein kleiner Mann spricht von großen Wahrheiten
Nach fast vierzehn Tagen Aufenthalt in der seltsamen und zum Schluß durch die Ereignisse veränderten Atmosphäre verlasse ich wieder die britische Insel, erfüllt vom Bedauern mit einem Volk, das so sehr das Opfer seiner Propaganda ist, daß es mit einer fatalistischen Ergebenheit sich damit abfindet, die
Legende vom Krieg glauben (und auch kräftig bezahlen) zu müssen, obwohl es weiß, daß sein Glück allein im Frieden liegen kann.
Ein Buch über die Propaganda, die mir als das wesentlichste Merkmal der gegenwärtigen Geistesverfassung Großbritanniens entgegengetreten ist, habe ich eingesteckt. Es ist von Mr. Mackenzie geschrieben, einem Mitarbeiter der englischen Propaganda- zcntralstelle. Darin finde ich einen bemerkenswerten Satz, der besagt, daß die Propaganda in Friedenszeiten wie eine Mattscheibe wirke, in Kriegszeiteu aber wie ein „giftiger Nebel" üher den Ländern liege. Es scheint mir, daß die englische Propaganda den Kriegszustand schon vorwegnimmt und daß alles das, was über das englische Volk seit geraumer Zeit verbreitet wird, mit dem Ausdruck »giftiger Nebel" wohl am besten bezeichnet wird.
Ich bin mir bewußt, daß eine Reise nur Einblicke zu vermitteln vermag; aber ich glaube die Dinge richtig zu beurteilen, wenn ich annehme, daß — einige wenige vernünftige, politisch weitblickende Persönlichkeiten ausgenommen — das englische Volk in seiner breiten Masse dem unerhörten Ansturm der Propaganda erlegen ist.
llnd doch habe ich noch zum Schluß der Reise ein berichtigendes Erlebnis:
Wir haben u. a. einen englischen Fahrgast an Bord, mit dem ich mich gerne unterhielt. Er ist ein kleiner Beamter, hat ebenso wie seine drei Brüder den Weltkrieg als Soldat mitgemacht und lebt heute irgendwo im englischen Industriegebiet. Vor dem Kriege war er mehrere Jahre in Indien und hat sich auch sonst den Wind der Welt um die Nase wehen lassen.
Ich vermeide rin politisches Gespräch, um den angnehmen Partner nicht zu vergrämen und die interessante Unterhaltung, die ein Bild vom Leben des englischen Kleinbürgers gibt, nicht zu stören. Als wir abends bei den Abendmeldungen die Nachricht von dem Abschluß des deutsch-italienischen Militärpaktes erfuhren, beginnt er, von sich aus, über die gegenwärtige englische Politik Urteile zu äußern, die mich in ihrer Klarheit und Entschiedenheit aus dem Munde dieses Mannes aus dem Volk überraschen.
Er spricht davon, mit welchem Aergernis er — und mit ihm viele Bekannte — die Lügenmeldungen über Deutschland verfolgt. Er ist vor einem Jahr eigens hinübergefahren, um zu sehen, was wahr daran ist. Er berichtet von einem Gespräch, das er kürzlich in seinem Betrieb mit andersgesinnten Arheits- kameraden führte: „Ich habe ihnen erklärt, daß ich als alter Soldat jederzeit bereit bin, wieder für mein Land zu kämpfen. Aber ich bin nicht bereit, für andere, etwa für Polen, nochmals in den Krieg zu gehen. Da sagten meine Kollegen, ich sei ein „Faschist". Ich habe mich darüber gewundert und es ihnen gesagt. Bisher hat es doch immer geheißen, daß die Faschisten den Krieg wollen. Ich will aber doch den Frieden, und da soll ich jetzt auf einmal ein Faschist sein?"
Die Erinnerung an diese Auseinandersetzung hat ihn gesprächig gemacht. Er spricht von den Verbindungen zwischen der englischen und amerikanischen Rüstungsindustrie und der Presse in den beiden Ländern mit einer Offenheit, die wunde^nimmt. Das besondere Kennzeichen Deutschlands scheint ihm zu sein, daß hier solche Einflüsse keine Rolle spielen. Er ist überzeugt, daß die Politik der Vernunft, wie sie von Hitler und Mussolini betrieben werde, sich durchsetzt, weil sie in ihren Worten und in ihrem Handeln auch die der internationalen Propaganda unmittelbar ausgesstzten Völker auf die Dauer stärker überzeugen als alle noch io raffinierten Künste, hinter denen die Mackit des Geldes unv ine Sehnsucht nach Kriegsverdienst steht. Das Wort derer, die im Krieg selbst gefachten haben, sei auf die Dauer wirkungsvoller als die Posaunen von Leuten, die zwar in der Politik Antreiber seien, in den Schlachten aber im Hintergrund blieben.
Schweigend habe ich diese Worte gehört, und ich habe dem englischen Volk im stillen etwas Abbitte geleistet für die vorgefaßte Meinung.
Der „giftige Nebel" mag im Augenblick die Gemüter gewinnen. Den gesunden Sinn des einfachen Mannes beeindruckt stärker die Stimme der Wahrheit, das Argument der Vernunft.
Und jetzt, wo ich im schaffenden Leben Hamburgs wieder den Gruß der deutschen Heimat erlebe, weiß ich, wie viel es für unser Volk bedeutet, daß hier kein giftiger Nebel das Denken verwirrt, sondern der entschlossene Wille zum Leben der Nation das große Gesetz ist, das alle vereint.
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