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Ragulder Latzblatt »Der «eseklfch«fter"

Montag, den 2. Januar 1038

Wohnungsbau in Württemberg

Bon der Württ. Landeskreditanstalt wird u a. mitgeteilt:

Mit der Jahreswende soll der Oessentlichkeit ein Rückblick auf den Württ. Wohnungsbau seit dem Umbruch und ein Ausblick auf die Zukunft gegeben werden. Der Rückblick ist zugleich eine Art Rechenschaftsbericht über die Förderung des Wohnungs­und Sieblungswesens durch die öffentlichen Stellen Württem­bergs. Nach der Krise des Jahres 1932, die auch in Württemberg einen beträchtlichen Rückgang des Reinzugangs an Wohnungen mit sich gebracht hatte, setzte in unserem Lande eine überaus stacke Wohnungsbautätigkeit ein; sie erreichte in den Jahre» 1936 und 1937 mit einem Rohzugang von rund 18 000 Wohnun­gen ihren Höhepunkt, erzielte aber auch im Jahr 1938 beacht­liche Ergebnisse. Der gesamte Wohnungsbestand in Württem­berg lägt sich Anfang 1938 auf rund 750 000 Wohnungen veran­schlagen. Hierunter befanden sich rund 213 000 nach dem 1. Juli 1918 erstellte Neuwohnungen. Der Anteil der Neuwohnungen am gesamten Wohnungsbestand betrug daher in Württemberg 28,4 v. H. und lag damit beträchtlich über dem Reichs­durchschnitt von 24,5 o. H., aber auch über dem Anteil an­derer größerer Lander, der beispielsweise in Peußen 24,7 v. H., in Bayern 25,1 o. H. und in Baden 21,8 v. H. ausmachte.

Innerhalb des Reiches (durchschnittlicher Wohnungszugang 20,3) war mit Ausnahme von Anhalt, wo besondere Verhältnisse oorliegen, der Reinzugang an Wohnungen in Württem­berg am höchsten. Dies hat seine Ursachen in der ausge­sprochenen Liebe des Schwaben zum eigenen Haus- und Grund­besitz, seinem starken Sparsinn, dem guten Stand der Grundkre- ditorganisationen und in der durchgebildeten Wohnungsbauför­derung, die in der Württ. Landestreditanstalt ein zweckmäßiges Kreditinstrument sür die Beschaffung der zweiten Hypotheken und gleichzeitig für die treuhänderische Durchführung der För­derungsmaßnahmen des Reichs besitzt. Im Durchschnitt der 5 Jahre 1933/37 betrug der Reinzugang an Wohnungen 14 548 auf das Jahr. Unterstellt man auch nur, bescheiden gerechnet, 7000 RM. Baukosten je Wohnung, so entspricht dies einem jähr­lichen Aufwand von rund 100 Millionen RM. sür den Woh­nungsbau; da der Rohzugang an Wohnungen größer war, ist auch die tatsächliche Aufwendung noch höher gewesen.

Gemessen an dem Zugang neuer Haushaltungen durch Ehe­schließungen ergibt sich für Württemberg ein besonders günstiges Bild der Wohnungsbautätigkeit. Setzt man den Reinzugang an Wohnungen etwa mit -er Zahl der Eheschließungen in den 8roß- «ad Mittelstädte» i» Beziehung, so entfielen 18331837 aus 100 Eheschließungen in Preußen 38, in Bayern 47, in Sach­sen 44, in Baden SS, i« gesamten Reich 40, in Württemberg da- gege» SS Wohnungen. An öffentlichen Wohnungsbaumitteln, also Mitteln für den sozialen Wohnungsbau, hat das Land Württemberg durch die Landeskreditanstalt seit dem Umbruch zur Verfügung gestellt iusgesamt 21,4 Millionen RM., mit deren Hilfe 13 800 Wohnungen errichtet werden konnten. Verglichen mit dem Nachbarland Bayern (unter Berücksichtigung der ver­schiedenen Einwohnerzahlen) hat Württemberg damit in diesem Zeitraum 36 u. H. mehr Mittel bereitgestellt und sind mit diesen Mitteln 81 ». H. solcher Wohnungen mehr errichtet worden.

Ei» ähnliches BUd ergibt sich bei der Betrachtung der Lei­stung der einzelnen Städte. Während in dem Ver- gleichszeitraum der Reinzugang an Wohnungen in den gesamten Großstädte» des Reiches 20,7 v. H. auf 1000 der Bevölkerung ausmachte, betrug er in Stuttgart 34,2, bei den gesamten Mittelstädten 24, in Ulm dagegen 41,5 und in Heilbronn :>8,S. Stuttgart steht damit an dritter Stelle im Reich unter de»

Großstädte», Ulm an fünfter und Heilbronn an siebter Stelle unter den Mittelstädten.

Auch im Jahre 1938 kann Württemberg seinen Vorsprung in der Wohnungsbautätigkeit gegenüber den anderen Reichstei­len aufrecht erhalten. An Landesmaßnahmen zur Förde­rung des Wohnungsbaus wurden im Jahre 1838 rund 6 300 000 RM. zweit« Hypotheken der Laudeskreditanstalt gegeben, mit derer; Hilfe rund 3600 Wohnungen erstellt wurden. Dazu kom­men noch rund 260 000 RM. Jnstandsetzungsdarlehen für 230 Wohnungen. Daneben wurden Kleinsiedlungen und Volkswoh­nungen sowie Landarbeiterwohnungen mit Hilfe von Reichsdar­lehen gefördert.

Für die nächste Zukunft ist davon auszugehen, daß auch die deutsche Almwirtschaft auf Vierjahresplan und Wehr- haftmachung ausgerichtet ist. Jusolange muß der Wohnungs- und Siedlungsba« zurücktreten. In welchem Ausmaß dies der Fall ist und wie dabei der soziale Wohnungsbau berücksichtigt wer­de» kann, dafür werden vor allem die Entschließungen des Ge­neralbevollmächtigte» für die Bauwirtschaft, Dr. Todt, maßge­bend sei».

Die Deutsche Reichspost in Württemberg

Der stetige wirtschaftliche Aufschwung im Jahre 1938 mit der vollen Entfaltung von Arbeit und Produktion inmitten eines gewaltigen politischen Geschehens brachte eine erhöhte Inan­spruchnahme der vielgestaltigen Einrichtungen der Deutschen Reichspost mit sich. Die gesteigerten Aufgaben in allen Dienst­zweigen des Reichspoftdirektions-Bezirks Stuttgart konnten durch erhöhte Leistungen der Gefolgschaft und durch weitgehende Verkehrsverbesserungeu erfüllt werden.

Um den Postbenutzern die Einlieferung von Postsendungen zu erleichtern, sind 5 Stadtpoststellen und 1 Postagentur neu einge­richtet worden. Bei mehreren Postämtern des Reichspostdirek- tions-Bezirks wurde der unbeschränkte Postgutdienst nach einer Anzahl größerer Orte im Altreich neu eingeführt. Die Postver­sorgung des platten Landes konnte durch eine neue Landkraft­postlinie mit 10 Poststellen verbessert werden. An bereits be­stehenden Linien wurden weitere 29 Poststellen neu errichtet. Die Zahl der Briefzustellungen ist an 6 Orten vermehrt worden. Die Paketzustellung konnte in 4 Orten durch Einsatz von Kraft­wagen verbessert werden.

Zur Verbesserung der Brief- und Paketbeförderung von Stutt­gart nach dem Schwarzwald und den verkehrswichtigen Orten des oberen Neckartals wurde im Juli ds. Js. zwischen Stuttgart und Horb eine Kraftkurspost und daran anschließend eine Kraft­güterpost bis Rottweil eingerichtet. Weitere Kraftgüterposten zur Beschleunigung der Paketbeförderung wurden auf 6 Strecken eingerichtet und auf 2 Strecken, um die Frühpostverbindung zu verbessern. Eine neue Kraftgüterpost zwischen Tübingen und Böblingen befördert die in Orten an der Neckar- und Zoller­bahn abends aufgegebenen Briefsendungen auf den Reichspost- nachtflug StuttgartFrankfurt (Main)Berlin.

Skandal um den Filmjuden Tannenzapf§

LLou Blum ein guter Freund der angeklagten Verbrecher

Paris, S. Dez. Die Skandalafsäre der Filmjuden Na- than-Tannenzapf und Genossen nimmt von Tag zu Tag immer größere Ausmaße an. Ursprünglich meldete die Presse, , daß es sich bei den Betrügereien dieses aus Rumänien stammen- s

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den jüdischen Prachtexemplars nur um sieben Millwnen Fran­ken handle. Von einem Tag zum andern erhöht sich die Summe der Unterschlagungen und Betrügereien, sodaß jetzt schon von 700 Millionen Franken gesprochen wird, die in die unergründlichen Kassen der jüdischen Verbrecher flössen. Der' Matin" meldet auf Grund der gerichtlichen Untersuchung, daß bereits mehr als 50 Personen unter Anklage gestellt seien.

Ebenso wie derMatin" stellen auch andere Blätter, darun­terJour" undLiberia", die Frage, wer die Beschützer des Ju­den Nathan-Tannenzapf und seiner Genossen gewesen seien, die so lange Jahre und ungestört ihre Betrügereien durchführen konnte». Bekanntlich war der Jude Hirsch alias Cerf bei den Volksfront-Regierungen persona grata. Bei festlichen Empfängen und Eastmahlen der Lande Tannenzapf-Hirsch waren wieder­holt Volksfrontminister und namhafte Volksfrontjuden, an der Spitze Leon Blum, zu Gast. DerJour", der schon im Jahre 1935 einen großen Enthüllungsfeldzug über die Skandalafsäre Pathe-Nathan durchführte, Nagt die Volksfrontregierung Leon Blums an, der ein guter Freund der angeklagten jüdischen Gau­ner sei, daß sie gleich nach ihrer Regierungsübernahme die ge­richtliche Strafverfolgung dieser Verbrecherbande verhindert habe.

DerPetit Parisien" hat eine Notiz gebracht, die in Kreisen des Justizpalastes großes Aufsehen erregt hat. Das Blatt be­richtet von einem Justizrat, der einem bekannten Restaurations­besitzer in Dijon seiuerzeit auf die Frage, was er von den Ak­tien der PathL-Rathan-Eesellschaft halte, geraten habe, diese Aktien sofort zu verkaufen, denn er, der Justizrat, werde die Besitzer wegen großer Betrügereien in Kürze verhaften lassen. Wie derPetit Parisien" bemerkt, handelt es sich uni den im Anschluß an den Stavisky-Skandal auf geheimnisvolle Weise ums Leben gekommenen Justizrat Prince. Welchen Zu­sammenhang der Tod Princes, der seinerzeit gräßlich verstüm­melt auf den Eisenbahnschienen auf der Strecke DijonParis aufgefunden wurde, mit dem schon im Jahre 1935 laufenden Betrugsskandal Pathe-Nathan hat, müsse schnellstens geklärt werden.

Me man in Japan Neujahr feiert

A» 1. Januar hat jeder Japaner Geburtstag

Weihnachten in einer der japanischen Großstädte das bedeutet für einen in Japan lebenden Deutschen keinen gar so großen Unterschied zu unserem Fest. Gewiß, die frohe und innige Stimmung, die sich schon in den Wochen vor Weihnachten über alle deutschen Städte und Dörfer breitet, fehlt dort gänzlich. Die Weihnacht, die dir japanischen Groß­städter feiern, ist nicht mehr als eine Mode, die man mit zahlreichen anderen westlichen Sitten und Bräuchen aus Amerika übernommen hat.

Ganz anders ist es am Neujahrstag, dem eigentli­chen Fest der Japaner. Schon die letzten Tage des alten Jahres haben mit denJahresschlußmäikten", denFesten des Jahresvergessens" und den vielen häuslichen Back- und Kochvorrichtungen ein buntes Gepräge, bis in der Silve­sternacht um 12 Uhr in allen buddhistischen Tempeln die Glocken 108 mal läuten. In dieser Nacht schläft keiner, son­dern man fitzt beisammen und itzt langfädige Nudeln, die einlanges Leben" verbürgen sollen. Denn das Neujahrs­fest hat neben der Freude über den Beginn eines neuen Jahres noch eine besondere Bedeutung: Am 1. Januar hat jeder Japaner Geburtstag! Der persönliche Geburtstag hat für den einzelnen gar keine Bedeutung und kann getrost vergessen werden. Mit dem Alter hat es überhaupt etwas Besonders auf sich. Das neugeborene Baby ist am Tage der Geburt ein Jahr alt. Ist es nun beispielsweise im Oktober geboren, so wird es zu Neujahr bereits zwei Jahre alt!

Früher feierten die Japaner dies wichtigste all ihrer Fe­ste drei Wochen lang, heute nur noch etwa 16 Tage. Am 1. Januar werden die Flaggen gehißt, die Neujahrskiefer und der Bambus stehen vor jedem Hauseingang und über der Haustür hängt ein Strohreifen, an dem Farnkraut, immer­grüne Zweige, Krebse, Apfelsinen und Seetang befestigt find als Sinnbilder für ein glückliches und langes Leben. Auf den blitzsauberen Straßen gehen festlich gekleidete Menschen von Haus zu Haus, umglückliches Neujahr" zu wünschen, und die Kinder in ihren leuchtend bunten Kimo­nos spielen Federball oder beschäftigen sich mit dem geist­vollen Spiel der Eedichtkarten. Mit Vorliebe schreibt man auch selbstgedichtete Verse in chinesischen Schriftzeichen auf Seide oder feines Papier; das ist der sogenannteSchreib­beginn im neuen Jahre".

Am 5. Januar findet im kaiserlichen Palast das Neu­jahrsbankett statt, und da an diesem Tage keine Negie­rungsgeschäfte erledigt werden, feiern die Regierungsbe­hörden im ganzen Lande. Am 6. Januar ist das lustige Fest der ersten Feuerlöschübungen im neuen Jahr, am 7. Ja­nuar derSieben-Kräuter-Tag", an dem in jedem Haus­halt aus sieben Kräutern unter lustigen Gesängen ein Brei gekocht wird zum Schutz gegen einen unheilbringenden China-Vogel" eine Sitte, die auf einem uralten Glau­ben beruht. Am 8. Januar ist der Tag der großen tradi­tionellen Truppenparaden, und so geht es weiter, bis am 15. Januar das feierliche Verbrennen des Neujahrsfchmucks und der Spielbälle am Tor der Stadt unter kunstvollen Tänzen die lange Reihe der Festtage beschließt.

Es ist das Schöne und Gewinnende cm diesen japanischen Festen, und das macht sie unserem Weihnachtsfest ver­gleichbar wie hier Neuerworbenes und Althergebrachtes Hand in Hand geht, wie man getrost die moderne Truppen­parade neben demSieben-Kräuter-Tag" feiert. Der Japa­ner nimmt zwar freudig die westlichen Errungenschaften auf, mit der gleichen Festigkeit aber ehrt und liebt er das Althergebrachte und bält daran fest. Das hängt zutiefst mit der Verehrung seiner Ahnen zusammen. So beruht jeder kleine, sorglich gehütete Brauch auf einer früheren Bege­benheit oder auf einem Aberglauben seiner Väter, und zu jeder Handlung kann man auf Befragen die Geschichte ihres Ursprungs erfahren. So sind die kleinen Kinder mit dem gleichen Ernst und der gleichen Begeisterung dabei, wenn es gilt, die geheiligten lleberlieferungen einzuhalten, die ihre Großeltern pflegen. Dennam Neujahrstage, da fühlt man sich wie im Zeitalter der Götter". F. W.

Der Camelot mit den Schweinchen

Histörchen von Heinz Steguweit

Diese Erzählung ist unheimlich, sie könnte von E. Th. Hoffmann erdacht worden sein, stünde nicht hinter ihrem Geheimnis die Chronik der Stadt Paris, die der Begeben­heit mehr als zwei hohe Folien unter dem Datum des 2. Ja­nuar 1910 widmen mußte. Es ist die Geschichte vom Ca­melot mit den Schweinchen. Dieser Mann war ein Krüppel, die Straßenjungen verspotteten ihn wegen seines Buckels; Pierre d'Arvenoise hieß der Schelm, er handelte mit Zei­tungen und stellte sich bei jedem Wetter am Pont de Sol- ferino auf. Sein Geschäft ging aber schlecht, darum steckte er den Zeitungshandel auf und füllte seinen Bauchladen, einen tragbaren Kasten, mit Saisonartikeln; kam die Oster­zeit, bot er Frühlingsblumen seil; kam Weihnachten, ver­kaufte er bunte'Paarten und billiges Kinderspielzeug, so­genannte Eefängnisüroeit. Zum Jahreswechsel dachte sich der bucklige Pierre d'Arvenoise einen besonderen Scherz aus, denn der stadtbekannte Krüppel hatte Ideen. Wer also in den letzten Tagen des Dezembers von 1909 über den Pont de Solserino ging, der sah an seinem Traglasten eine Menge aufblasbarer Gummischweinchen hängen; der rosa­farbene Leib dieser Gebilde trug allemal die Jahreszahl 1909! Und dsr Camelot pries diese Ware, seine Stimme war schon seit zwanzig Jahren stockheiser:

- Kauft Elücksschweinchen!

Es ist verständlich, daß nachdenklichen Spaziergängern eine Unstimmigkeit auffallen mußte, wenn sie sich die Jah­reszahl dieser kleinen Ferkel betrachteten; was hatte es für einen Sinn, ihnen 1909 aufzumalen, wo doch das Elücks- tier zu 1910 gratulieren sollte? Wer so zweifelte und den Camelot befragte, der erhielt eine logische Antwort. Pierre d'Arvenoise blies nämlich eins seiner Eummischwein- chen auf, stellte es prall auf die Beine; sogleich entwich die Luft unter lautem Quieken aus dem kleinen Rüffel; eine halbe Minute dauerte es, dann fiel das Glücksschwein matt und leer auf die Seite; mit ihm schrumpfte auch die eben noch fett leuchtende Zahl 1909 zu einem jämmerlichen Nichts zusammen.

Ein Sinnbild, meine Herren!"

Wie oben gesagt: der Krüppel Pierre d'Arvenoise hatte Ideen. Für diesen symbolischen Scherz fanden sich viele Käu­fer, jeder nahm sich vor, eine halbe Minute vor Silvester­mitternacht das Eummiferkel aufzublasen, damit Schlag 12 Uhr alle Herrlichkeit von 1909 den Hoffnungen aus 1910 weichen sollte. Welche Pointe für eine gastliche Tafelrunde kurz vor dem Jahreswechsel:

Mit dieser an sich kaum erschütternden Begebenheit be­gnügt sich indessen nicht die Chronik der Stadt Paris. Es geschah nämlich, daß ein Rudel ungezogener Straßenkinder den bucklichen Camelot zu verspotten kam, und sie weideten sich an der Wut des armen Camelots, dessen Klagerufe über den Pont de Solferino laut zu hören waren.

Da am 30. Dezember 1909 dichter Schnee fiel und zu dem Schnee noch ein barbarischer Frost sich gesellte, gossen die Uebermütigen eine hohe Kanne Wasser auf die Brücke, just auf die Stelle, wo d'Arvenoise am Mittag zu stehen pflegte. Als der Händler mit seinen Schweinchen kam, rutschte er aus. Unter Lachen und Johlen machten sich die kleinen Uebeltäter über seine Ware her; nicht ein einziges Eummi- tierchen fand sich mehr in dem Kasten, als die Polizei den schwerverletzten Händler zum Krankenhaus trug. Dort starb der Aermste nach zwei Stunden.

Die Nachforschung nach den schuldigen Jungen gestaltete sich keineswegs schwierig Am Neujahrstag wurden etwa zwanzig kleine Särge aus dem Apachenviertel getragen, währeiid in den Straßen der Bürger rätselhafte Erkrankun­gen gemeldet wurden. Zuerst löste die sofort eingesetzte Polizei dieses Geheimnis nicht, dann aber kam die ruhelos forschende Aerzteschaft zu dem Ergebnis, daß eine Massen- vergiftung durch Arsenik vorliege. Während die schwachen Kinder des Sündenviertel diesem llebel nicht gewachsen waren, konnten die Erwachsenen der Boulevards durchweg gerettet werden, lleberall aber war man bemüht, die alles andere als Glück verheißenden Eummigebilde ins Feuer zu werfen, denn ihre Mundstücke waren nnt schlechter, giftstosf- licher Farbe bemalt; wer dort hineinblies, war ein Ge­zeichneter des Todes, und die übermütigen Kinder hatten dieses Hineinblasen am häufigsten und hemmungslosesten besorgt.

Wer aber zieht die metaphysische Summe dieser unheim­lichen Geschichte? Ist es billig, von Gottes Strafe zu reden? Gewiß, die spöttischen Kinder find alle gestorben; aber Kin­der sind Kinder, fie sahen in ihrem Hohn nicht das Ver­brechen, eher das ausgelaffene Spiel. Zudem: das Herz der Apachenmütter wollte zerbrechen unter so viel Trauer.

Zum andern: Hat Pierre d'Arvenoise. der grimmige Buckel, seinen eigenen Tod gerächt? Wie verderblich seine Ware war, wußte er nicht; die Eummiblasen bezog er von der Fabrik, die kleinen Rüffel malte er mit einer Farbe an, die ihm ein berüchtigter Hehler billig verkauft hatte. Nein, der Krüppel war ahnungslos. Wie viel Unschuldige litten Schmerzen! Von ihnen trägt mancher noch heute an den Folgen der Silvesternacht. Wer schaut dem Schicksal in die Rüstkammer seiner Unbegreiflichkeiten? In Paris glaubt keiner mehr an die glückbringenden Schweinchen, ob sie nun aus Marzipan, Gips oder Gummi geformt werden. Um die Jahreswende steht mau sie nicht mehr in den Schaufenstern der Boulevards.