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„Wer hat 1914 angesaagen
Der schicksalsschwere Juli-Ausklang vor 25 Jahren
Wenn ein Ereignis von so ungeheurer Tragweite, wie es ein Krieg ist, der zum Weltkrieg wurde, einbricht, so lautet die Frage, die die Völker bewegt, vor allem: „Wer sing an?" Die Verantwortlichen aber bemühen sich vor allem, den Beginn der andern Kriegspartei zuzuschreiben oder durch Provokation zuzuschieben. Die historische Wahrheit über die Kriegsschuld ist nach Oeffnung der Archive der beteiligten Staaten für jeden klar, der nicht voreingenommen ist. Dokumente wie Taten ergeben deutlich, daß gerade Deutschland nun endlich zum Kriege zu bewegen die heißeste Sorge der Entente-Staaten gewesen ist. Aber das „Anfängen", der Beginn der Mobilisierung und der Beginn des Erenzübertritts machen für die Oeffentlichkeit der beteiligten Länder den eigentlichen „Anfang" aus. Dazu sei schon jetzt bemerkt, daß Rußland vorsorglich bereits im Frühling 1914 sibirische Regimenter nach der Westgrenze schickte' — damit sie „rechtzeitig" im Sommer 1914 bereitständen.
Das Versailler Diktat stützt sich bekanntlich auf die „Ergebnisse" einer Kommission der sogenannten Friedenskonferenz, welche am 29. März 1919 in einem Bericht u. a. die folgenden Sätze produzierte: „Der Krieg ist von den Mittelmächten ebenso wie von ihren Verbündeten, der Türkei und Bulgarien mit Vorbedacht geplant worden, und er ist das Ergebnis von Handlungen, die vorsätzlich und in der Absicht begangen wurden, ihn unabwendbar zu machen." Man sieht etwas allzu deutlich hier den „Dreh" auf die juristische Formel für einen zu Verurteilenden, um die eigene tendenziöse Zuspitzung dieses Verdikts zu verschleiern. Aber genauer, als wie mit dieser Charakterisierung der angeblichen „Ahsichten" der Mittelmächte hätte die Entente wohl kaum ihr eigenes Verhalten charakterisieren können, wie es sich nach Oeffnung der Archive und Heber» sicht der Tatsachen darstellt. Besonders wichtig war die Oeffnung der russischen Archive, wo schon 1917 die bolschewistische Regierung voll Eifer das zaristische Regime bloßstellen wollte. Die deutsche „Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen" hat diese Doknenmte gründlich auswerten können; allmählich öffneten sich auch die anderen Archive.
Daß der Weltkrieg schon mit dem Schuß von Sera- jewo auf den Thronfolger Oesterreichs begann, daß also die erste konkrete Tat gegen die Mittelmächte und nicht durch sie geschah, sollte eigentlich auch die Logik der Beschuldiger Deutschlands begreifen. Dieser Attentatsbeschluß war schon im Januar 1914 in Toulouse von panslawistischen Terroristen gefaßt worden. Damit war aber schon die ganze panslawistische Phalanx, von Rußland bis zu den Tschechen, Serben und anderen slawischen Elementen in Bewegung gesetzt. Angesichts der bereits erfolgten russischen Mobilisierung war auch die Kriegserklärung Deutschlands an Rußland nur noch ein Schritt post festum. Aber in den Augen der Welt ließ sich Deutschland nun als derjenige hinstellen, der „angefangen" hatte — nicht Rußland mit seiner sibirischen Mobilisierung und den Ende Juli erfolgten Truppenzusammenziehungen, nicht der Panslawismus mit seinen Beschlüssen vom Januar 1914!
Der Engländer, Lord Grey, hat zwar später die „Alleinschuld Deutschlands" in der Formel gemildert: die Schuld sei nicht einer einzelnen Nation aufzubürden, sondern auf Ursachen zurückzuführen, die sich durch mehrere Menschenalter hinziehen. Aber wenn bereits am 21. Februar 1914 der russische Außenminister Sasonow in Odessa auf einer Konferenz die Erzwingung der türkischen Meerengen beschloß, wenn im April 1914 Englands König, Georg V., in Paris Rußlands nähere Heranziehung mit Frankreich bestimmte, so sah dies schon bedenklich aus. Frankreich wollte Elsaß-Lothringen, und als Poincare sich zum Zaren nach Petersburg begab, wo bei dem Festmahl die „Montenegrinerinnen", jene an die russischen Großfürsten verheirateten Prinzessinnen, die am russischen Hof eine böse deutfchenhetzerische Rolle gespielt haben, schon freudetrunken, die gelungene Einkreisung und den gesicherten Kriegsgewinn flüsternd verkündeten, so sehen wir, wie weit sich die bewußte „Absicht" aus der Gegenseite verfolgen läßt.
In der Tat griff Rußland auch sofort in die serbische Angelegenheit ein, als am 19. Juli Oesterreich, nach Verständigung mit Deutschland, ein scharfes Vorgehen gegen Belgrad beschlossen hatte, das sich auf die Untersuchung der näheren Umstände bei dem Zustandekommen des Attentats bezog. Am 24. Juli wurde auf diese Forderung hin in Rußland beschlossen, zwei westliche und zwei zentrale Bezirke sowie die ganze Flotte mobil zu machen. Auch Serbien hatte mobilisiert. Am 26. Juli war in England Probe-Mobilmachung angesagt — Kaiser Wilhelm dagegen kehrte erst am 27. Juli von seiner gewohnten Nordland- reiss zurück!
Am 28. Juli erklärte Oe st erreich Serbien den Krieg, in der Hoffnung, dadurch eine lokale Begrenzung ohne russische Einmischung herbeizuführen; am gleichen Tage hatte aber Frankreich Rußland mitgeteilt, daß es seine VUndnis- pflicht gegenüber Rußland erfülle, wenn Oesterreich Serbien angreife. Am 29. Juli befahl der Zar auf Drängen seiner Generäle die allgemeine Mobilmachung. Das konnte nicht wieder rückgängig gemacht werden, obwohl Kaiser Wilhelms Telegramm an den Zaren noch einmal mäßigend gewirkt hatte. Der Stein war bereits ins Rollen gekommen. Am 30. Juli wurde die russische allgemeine Mobilmachung wiederum verkündet. Am 1. August, vier llhr dreißig, wurde Frankreich mobilisiert; um fünf Uhr ordnete der deutsche Kaiser die Mobilmachung an. Die Kriegserklärung durch den Botschafter Grafen Pourtalös in Petersburg erfolgte um sechs Uhr, da die russische Mobilmachung stricht widerrufen worden war.
Allgnftanfang einst und jetzt
Niemals im letzten Vierteljahrhundert ist sich die Wett »er Bedeutung des Tages, an dem das gewaltigste Völker, ringen aller Zeiten entbrannte, so bewußt geworden wie am 2. August 1939. Ob dieser schicksalsschwere 2. August 1914, der erste Mobilmachungstag, im deutschen Volke lebendiger ist als bei unseren Gegnern im Weltkrieg, das bleibe dahingestellt. Eins aber ist gewiß: die Mahnung, die jener Tag vor 25 Jahren der Welt ins Gewissen ruft, kommt zu rechter Stunde, denn heute will es fast scheinen, als ob das machtpolitische Spiel in Europa sich wieder zu der gleichen Stelle und Spannung entwickelt hätte, aus denen vor einem Vierteljahrhundert das große Kriegsdrama entsprang. Handelt es sich wirklich um die gleiche Stelle, die gleiche Spannung, die gleichen Fronten? Ke-
_ Ragolder Tagblatt „Der Ge sellschafter'
rade hierüber wurde in den letzten Atonalen sowohl im Lager der autoritären, wie der demokratischen Staaten lebhaft gesprochen. Die sogenannten Sieger im Weltkriege bemühen sich ganz besonders, die Ähnlichkeit der Situation zu unterstreichen und zu ihrem Vorteil zu deuten. Die Unterlegenen im großen Völkerringen dagegen berufen sich auf den gewaltigen inneren und äußeren Wandel, den ein Vierteljahrhundert unserer Zeitgeschichte hervorgerufen hat.
Es ist mühselig zu streiten, zu fragen: Ist oderwird es so wie 1914? Nichts in der Weltgeschichte wiederholt sich. Wo große Ähnlichkeiten auftauchen, da gibt es dennoch wieder gewaltige Unterschiede, die keine klaren Vergleiche mehr zulassen. Wenn etwas ähnlich ist, dann die Politik Englands, Frankreichs und derVereinigten Staaten von Amerika. England arbeitet wieder an einem Einkreisungssystem gegen Deutschland, an einer Auseinandersetzung mit der größten Macht des europäischen Kontinents. Frankreich ist wieder sein Bundesgenosse. Beide Staaten wissen jenseits des großen Wassers einen amerikanischen Präsidenten und eine amerikanische Rüstungsindustrie, die sich ein großes Kriegsgeschäft keinesfalls entgehen lassen wollen. Gleichgeblieben ist auch die Blindheit, mit der englische und französische Politiker den Glauben hegen, ein Krieg, selbst ein siegreicher Krieg, würde ihnen Sicherheit, Freiheit und Friede auf Erden bringen. Allein diesen Analogien stehen Unterschiede gegenüber, die gerade in den beiden demokratischen Staaten Westeuropas nicht mehr richtig übersehen werden.
Die Welt, gegen die sie heute bereit sind, zum Kampfe anzutreten, ist nicht mehr die gleiche uneinige und morsche Welt, der sie sich 1914 gegenübersahen. Deutschland hat sich so gründlich gewandelt, daß ein Mensch, der zwischen 1912 und 1939 in geistiger Umnachtung gelebt und nun wieder sein klares Bewußtsein erlangte, sein Vaterland nicht mehr wiedererkennen könnte. An der Seite Deutschlands steht kein Oesterreich-Ungarn, das den Keim des Verfalls in sich trägt. Der Bundesgenosse Deutschlands ist vielmehr ein Italien, das sich gleichfalls völlig verwandelt hat und mit lebensnotwendigen Ansprüchen und einer ungeheuren Dynamik sein Zukunftsrecht fordert. Im Fernen Osten aber ist eine Weltmacht aufgestanden, Japan, das alles andere als ein englischer Verbündeter ist und in Ostasien einen heroischen Kampf mit der britischen Weltmacht führt. Hinzugekommen sind weiter die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die Großbritannien seit 1914 den Vorrang der ersten Wirtschaftsmacht erfolgreich streitig machten und die heute, selbst wenn Großbritannien jemals noch einen künftigen Weltkrieg gewinnen könnte, Europa einschließlich England sein Zukunftsschicksal diktierten.
Vollkommen geändert hat sich auch die deutsche Reaktion aus die politische und militärische Einkreisungsstrategie Großbritanniens und seiner Verbündeten. Adolf Hitler hat in seiner Wilhelmshavener Rede in diesem Frühjahr darauf hingewiesen, daß die deutsche Politik von 1939 nicht gleich der deutschen Politik von 1908, 1911 oder 1914 tatenlos einer Einkreisung zufehen wird. Dieses Wort des Führers wurde bereits Wirklichkeit, als Deutschland und Italien einen politisch-militärischen Bündnispakt abschlof- sen, der nach dem Urteil englischer und französischer Fachkreise das stärkste Machtmittel ist, mit dem die autoritären Staaten einer etwaigen neuen Verletzung des Weltfriedens durch die Westmächte, ähnlich der aus dem Jahre 1914, begegnen können. Die heutige deutsche Regierung spart auch nicht mit Rücksicht auf ein politisch schlecht beratenes und unkluges Parlament mit den Ausgaben für die Landesverteidigung. Sie hat das gesamte Volk in den Dienst der Landesverteidigung gestellt, es zur Mitarbeit und zum Opfer verpflichtet, ohne die einem Ueberfall der Westmächte nicht erfolgreich begegnet werden kann.
In diesem Wandel der Tatsachen liegt die stärkste Garantie dafür, daß sich die Ereignisse von 1914 niemals wiederholen werden. Es ist wahr, die Welt der Sieger des Weltkrieges hat wenig dazugelernt. Sie hat vergessen, daß der Sieg nur durch ein außerordentlich seltenes Zusammenspiel glüÄicher Umstände errungen werden konnte. Sie übersah, daß selbst dieser Sieg kein Triumph war, keine Grundlage schuf, auf der der Weltfrieden und die Gerechtigkeit hätten aufgebaut werden können. Sie setzte sich weiter darüber hinweg, daß die Kosten des Sieges an Gut und Blut, aber auch an Ansehen und politischer Weltgeltung in gar keinem Verhältnis zu den Erwerbungen im Diktat von Versailles standen. Weder England noch Frankreich stehen heute so stark und angesehen in der Wett da, wie sie es 1914 waren. Daß aber Deutschland, Italien und Japan heute angesehener dastehen als 1914, dafür genügt ein Blick in die Weltpresse. eine Unterhaltung mit einem kühl denkenden Bür-
Donnerstag, de» 3. August 1S3S
ger Frankreichs, Englands oder eines anderen europäischen Staates. Wer mit ihnen von den Taten des Duce oder Adolf Hitlers in den letzten drei bis vier Jahren spricht, der weiß, mit welcher Hochachtung und Bewunderung sie solchen Leistungen gegenüberstehen. Es gibt nicht einen Politiker in Frankreich oder England, dem sie Gleiches zutrauen.
Der Vormarsch im Weste«
Deutsche Schicksalslage vor 25 Jahren
Von Oberstleutnant a. D. Venary
Osten oder Westen, wo ist der erste Schlag zu führen? Das war die Frage, die immer wittrer die leitenden Köpfe der deutschen Eeneralstabschefs beschäftigt hatte, seitdem das Gespenst de« Zweifronten-Krieges am politischen Horizont geisterte. Der damalige Ehef des Eeneralstabes, Ge? neralfeldmarschall Graf von Schlieffen, sah mit Fug und Recht in den Franzosen und Engländern die gefährlichere« Gegner, die man ausgeschattet haben mußte, bevor di« schwerfälligen russischen Massen gefechtsbereit waren.
Er hatte aber auch erkannt, daß eine rasche Entscheidung im Westen nur zu erzwingen war, wenn man sich nicht aks einen Durchbruchsversuch durch die mit allen Mitteln neuzeitlicher Technik ausgebaute französische Festungszone a» der Maas und Mosel einließ, sondern sie nördlich durch Belgien umging, um mit starkem rechten Flügel die Armee« der Westmächte zu schlagen und auf die Schweizer Grenze zu werfen. Sein Amtsnachfolger, Generaloberst von Moltke, hatte seinen Plan mit geringen, in politischen Erwägungen wurzelnden Abänderungen, die zugunsten eines verstärken Schutzes des Reichslandes mit einer bedauerlichen Schwächung des Angriffsflügels sich abfanden, beibehalten. -
Sieben Armee marschierten Anfang August 1914 im Westen auf, von denen fünf mit dem Drehpunkt Metz den durch Belgien und Nordfrankreich vorstoßenden, entscheidungsuchenden Schwenkungsflügel bilden sollten. Die belgische Maasfestung Lüttich drohte ihnen den Weg zu fperren? Ein Handstreich von sechs beschleunigt mobilgemachten Brigaden sollte sich ihrer bemächtigen. Um ein Haar wäre es an der Wachsamkeit und der verbissenen Kampfzähigkett der Belgier gescheitert, wenn nicht die Tatkraft eines Mannes, des Generals Ludendorff, die eine der Angriffskolonnen in nächtlichen Ortskämpfen durch den Ring des Fort» bis in den Stadtkern vorwärtsgerissen, wenn nicht das deutsche Wundergeschütz, „die dicke Berta", den Widerstand der Forts gebrochen hätte. Der Weg war frei. Das große Marschieren begann Tag um Tag, Meile um Meile auf den endlosen, schnurgeraden, pappelumsäumten Straßen Belgiens und Frankreichs, in Hitze und Staub, in Rege« und Kälte, mit brennenden Füßen, mit drückendem Tornister, aber immer nur einen Gedanken im Herzen: ran an den Feind! ' -
Dörfer, Städte zogen wie im Traum vorüber. Reiter- patrouillen im Eoldhelm mit wehendem Roßhaarbusch tauchten auf und verschwanden, Freischärler schossen heimtückisch aus nächtlichem Hinterhalt, aber das große Erlebnis, die Schlacht, ließ auf sich warten. Da endlich, an der belgisch- französischen Grenze, stellte sich der Gegner, aber nur für Stunden, für ein, zwei Tage. Der „Furor teutonicus", der Angriffsschwung der deutschen Infanterie, brachte die Franzosen, die vorher schon in den Reichslanden bei Mülhausen, Lagarde und Saarburg die deutsche Kraft gespürt hatten, vom 22. bis 24. August bei Longwy-Longuyon, bei Neuf- chateau, die Engländer bei Le Lateau und ein paar Tage später (29. bis 30. August) beide gemeinsam bei St. Quentin zum Weichen, die Allgewalt deutscher und österreichischungarischer Haubitzen und Mörser brachte die belgischen und französischen Festungen und Sperrforts Namur und Man- beuge, Givet und Manonvillers zu Fall. Tote und Verwundete, zerschossene Batterien, weggeworfene Tornister und Gewehre zeugten den Verfolgern von der Schwere ihrer Niederlage.
Und wieder galt es: marschieren und nochmals marschieren. Flüsse und Ströme wurden überschritten, deren Namen man kaum je gehört, die bald in jedermanns Munde waren, die Oise, die Marne, der Curcg, der Erd und der Pt. Morin. Schon sahen Husaren- und lllanenstreifen die Nadelspitze des Eiffelturmes am Horizont, schon kündeten Wegweiser: 35, 30 Kilometer bis Paris, schon glaubte man sich am Ziel, am Vorabend des Erfolges. Da wandelte sich am 5. September das Bild. Kanonen dröhnten, Maschinengewehrfeuer flackerte auf. Der Feind hatte Front gemacht, die Schicksalswende des Weltkrieges, die Marneschlacht, erhob ihr Hauvt.
Randbemerkungen
Snflationsgespenst in Polen
Die englisch-polnischen Anleiheverhandlungen haben trotz langer Bemühungen nicht das Ergebnis gezeitigt, das sich die Warschauer Regierung erhoffte. Dieses geht eindeutig aus der Enttäuschung und Verwunderung hervor, die sich in den Spalten der polnischen wie französischen Presse findet. Es gibt kaum eine Stimme in Polen, die ihren Aerger und ihre Enttäuschung verbergen kann. Die meisten Blätter jammern bedenklich darüber, daß sie von ihrem mächtigen Verbündeten kein Gold erhielten. In diesem Jammer offenbart sich zugleich die beginnende Einsicht, daß Polen dazu bestimmt ist, für die Engländer seine Haut zu Markte zu tragen und daß dieser Opfergang den Engländern nicht einmal einige Unzen baren Goldes wert ist. Welche Folge« wird nun dieses „Mißverständnis" Mischen den beiden Verbündeten haben? Auch hierüber belehren polnische Blätter die Oeffentlichkeit zur Genüge. Man liest Sätze wie: „Polen braucht das englische Gold, um eine zusätzliche Ausgabe von Zahlungsmitteln zu Jnvestierungszwecken zr»- decken". Ausgabe von Zahlungsmitteln bedeutet aber, wenn -Glicht gleichzeitig die Golddeckung verstärkt oder aber wie in Deutschland die Produktionsleistung gesteigert wird, Inflation. Jedermann in Polen ist sich letzten Endes auch dieser bevorstehenden Aussicht bewußt, die unabwendbar scheint, wenn Polen weiter derartig viel Geld für die Mobilisierung seiner Wehrmacht und eine überdimensionale Rüstungsverstärkung ausgibt. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, daß sich die polnischen Blätter bemühen, die Bevölkerung zu beruhigen, ihr die zunehmende Angst vor dem Jnflationsgefpenst zu nehmen. In Frankreich steht man dieser unerwarteten Entwicklung der englisch-polnischen Zusammenarbeit gleichfalls unangenehm berührt zu. DK Franzosen haben sich seit einigen Monaten daran gewöhnt, in Großbritannien die große Melkekuh zu sehen, die überall mit Gold und Geld einspringt, wo es gilt, Bundesgenossen für die Einkreisung zu erwerben. Daß England auf einmal
nicht so tief in den Beutel greifen will, wie es die garantierten verbündeten Staaten wünschen, will Frankreich nicht recht in den Sinn. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, daß bei neuen polnischen Betteleien Frankreich in London den Vermittler spielt, so wie es ja auch seit Wochen die zerrissenen Fäden zwischen London und Moskau stets ne« zusammenzuknüpfen versucht.
Schwarz-Rot schreckt Holland
Die Niederlande werden seit Wochen von einer heftigen inner- und parteipolitischen Krise geschüttelt. Die schwarz- rote Opposition, bestehend aus den der früheren deutsche« Zentrumspartei ähnelnden Katholiken und den Sozialdemokraten hat auch das Kabinett der Fachminister unter dem bisherigen Regierungschef Colijn gestuft. Unter diesen Umständen befürchten viele Holländer die bevorstehende Bildung einer schwarz-roten Koalitionsregierung, deren Wirken Deutschland, insbesondere Preußen in der Aera Vraun-Severing so viel geschadet hat. Die Katholiken besitzen im holländischen Parlament von 100 Sitzen 31 Mandate. Sie haben damit eine Schlüsselstellung inne und können entweder mit den linksgerichteten Sozialdemokraten oder den nach rechts orientierten Antirevolutionären ei« Bündnis eingehen. Die bisherige Zusammenarbeit Mische« Katholiken und Antirevolutionären scheiterte an der Ablehnung der Katholiken, das Finanzprogramm der bisherigen Regierung Colijn zu unterstützen. Holland steht gegenwärtig vor der Aufgabe, die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, die Vergrößerung der Rüstung und neue Verteidigungs- -araßnahmen für die niederländischen Kolonien zu finanzieren. Allein patteipolitische Erwägungen veranlaßten die Katholiken dazu, für das Finanzprogramm der Regierung die Verantwortung abzunehmen. Ministerpräsident Colijn trat darauf zurück. Ein nunmehr mit der Regierungsbildung beauftragter katholischer Politiker scheiterte, so daß Königin Wilhelmina Colijn. der persönlich im ganzen