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Mittwoch den 22. Dezember 1920
94. Jahrgang
Mnzösis-e Beinchimge» Sder Ie«tschl«»d »ich de» ZisimmMch.
Von Pfarrer Dr. Victor Klemperer.
(Schluß).
Wir zu Hause wissen gar nicht wie ungeheuer weit es Preußens Macht durch die Revolution gebracht hat, weit hinaus über alle fridericianische und wilhelminische Macht. Die Weimarer Verfassung hat Deutschland zusammengeschmiedet und das muß ein Franzose freilich besser wissen als der Deuische, welche Kraft aus politischer Konzentration entspringt. Und nun — das ist die fixe Idee der Franzosen (und etlicher den Franzosen höchst willkommener Bayern dazu) — nun gibt es gar kein Deutschland mehr, sondern nur noch ein einziges Großpreußen I Die Münchner Maitage haben es im vergangenen Jahre gezeigt. Vielleicht haben die Preußen, denen alles Böse zuzutrauen ist, die ganze Münchner Räterepublik selber ins Leben gerufen, um Gelegenheit zum Eingreifen zu erhalten. Jedenfalls haben sie die Gelegenheit mit skrupelloser Brutalität benützt. Und die „Münchener Kommunisten haben für den König von Preußen gearbeitet, und heute ist Bayern, an Händen und Füßen gefesselt, ohne Heer, ohne bodenwüchsige Einrichtungen, nicht mehr imstande, Preußens hassenswerten Griff abzuschütteln". (S. 136.) Die armen Franzosen I Sie haben den Krieg gewonnen, aber „den Frieden gewonnen" haben sie picht, sie haben die Aufrichtung eines zentralistischen Preußen-Deutschlands zugelassen, statt den rheinischen Pufferstaat zu schaffen und den Süden vom Reich zu trennen. Man muß versuchen, was sich nachholen läßt — dann wird man auch Deutschland selbe«- den besten Dienst leisten, indem inan das Zerstückelte auf seine alte Größe, auf Philosophie und Dichtung zurückoerweist. Der beste gegenwärtige Demsche hat es , dem Verfasser selber gesagt : Professor Foerster. Got reiste von der Schweiz, wo er die deutschen Pazifisten kennen gelernt hat, durchs Elsaß nach Berlin. Auf Berliner Boden spielen die meisten Kapitel d.s Buches, doch ist auch München mit einigen Abschnitten bedacht. Der Verfasser richtet sein Augenmerk keineswegs nur auf die hohe Politik, sondern . sucht seinen Landsleuten die ganze gegenwärtige deutsche „Kultur" (immer in höhnischer Aniührung gedrucki) vor Augen zu stellen. Das Kino, die Anpreisung antikonzeptioneller Mittel, Magnus Hirschfeld, das Nachtleben, „Die Büchse der Pandora" — alles wird beschrieben, und es bleibt kein gutes Haar an Berlin, dessen sämtliche Bauten, wenn es nach dem guten Geschmack ginge, vom Erdboden vertilgt werden müßten — „das Zeughaus ausgenommen, das nach dem Muster des Pariser Jnoalidenhauses gebaut ist". Es gibt kein Gebiet, von dem Got etwas anderes zu berichten wüßte als Häßlichkeit, Schwäche, Entartung, Verfall, Gemeinheit. Haß schärft den Blick, aber er fälscht und verengt ihn auch. Doch sind der Haß und die Schadenfreude noch nicht das Jämmerlichste an diesem Buche, denn sie sind wenigstens echt. Dagegen ist die Verachtung falsch; denn was ich verachte, davor zittere ich nicht. In einem Punkt rühmt sich der Verfasser ganz besonders der französischen Ueberlegenheit. Das barbarische Berlin kennt keine Geselligkeit französischen Stils, keine „Salons". Dennoch: einige halbwegs mögliche Salons werden uns zugestanden, und Got hat sie sogar eifrig besucht. Er war bei Madame von Gerlach, er hat bei Herrn Paul Casstrer, dem Gatten der berühmten Schauspielerin Tilla Durieux und dem Mäzen der unabhängigen ZeitungS- leute, Tee getrunken, er ist im „salon cogmopolite" der Komtesse Treuberg ein und aus gegangen. Es ist ein besonderer Reiz seines Buches, daß er all die Persönlichkeiten zu porträtieren sucht, die er in Berlin und anderwärts kennen gelernt hat: Militärs, Politiker, Journalisten, Revolutionäre aller Schattierungen. Oft ist es nur eine sehr äußerliche Skizze, manchmal dringt er tiefer, fast immer führt er üble Nachrede, auch über die, die ihm vertrauensvoll begegnet sind. Der eine ist zu rot, der andere zu militaristisch, alle sind sie Boches, und also ist man jedem Mißtrauen und keinem Dank schuldig. Eigentlich kennt er nur drei edle Ausnahmen. Der Münchner rote Heerführer Ernst Toller, dem Verfasser aus Bern bekannt, wird mit herablassendem Verzeihen behandelt, weil er doch wenigstens ein Idealist, wenn auch mit grundfalschen Anschauungen, sei. Der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner ist eine reine Seele gewesen und hat Frankreich über alles geliebt und Preußen über alles gehaßt und hat auf Clemenceau gebaut und hat die Deutschen von ihrer tiefen Schuld überzeugen wollen. Das stimmt alles ziemlich genau — macht uns nur den Politiker Eisner nicht ganz so wert wie dem französischen Beurteiler- Aber Eisner war doch schließlich auch nur ein Strebender für Got. Den vollkommenen Menschen unter den Deutschen — gibt es das? Ja, diese eine unglaubliche Ausnahme hat sich freilich „auch fast entschuldigt, ein Deutscher zu sein" — ihn steht Got in dem Professor Foerster. Der Mann „ist Preuße und. was schlimmer ist, aus Berlin stammender Berliner"; aber ihm ist die Gnade zuteil geworden, aus einer Seereise hat ihn das Werk eines Jesuitenpaters zur katholischen Mystik bekehrt. Das ist in Frankreich jetzt sehr im Schwünge, fromm und schwärmerisch zu sein; aber die französischen Schwärmer — stehe Claudel! — sind gute Franzosen, wie denn franzö
sischer Katholizismus immer Gallikanismus gcwesen ist: der deutsche Bekehrte, Foeister, dagegen (und dafür ist er neben Rousseau zu stellen, und dafür muß ihm Unsterblichkeit auf Jahrhunderte hinaus verbrieft werden) will die rheinische Republik und ein freies — prcußenfreies! — Süddeutschland, damit in den geschwächten Kleinstaaten die deutsche Philosc- phie, der deutsche Idealismus wieder blühen könne. Da wird er denn freilich von dem Franzosen wie ein Heiliger gepriesen. Aber ich will dem Verfasser nicht unrecht tun. Er hat noch etwas Gutes in Deutschland entdeckt. Zwar keinen weiteren Mann, aber doch ein Wort, eine Bezeichnung, die aus freiere Gesinnung, auf demokratisches Wesen hinweist — wenn auch ein bißchen deutsche Schadenfreude dabei ist. In einem Restaurant der Potsdamer Straße stand „Kaiserfleisch" auf der Speisekarte, viancke cke l'blmpe- reur. Wißbegierig ließ sich der Doktor der Philosophie, der sieben Jahre in Deutschland gelebt hat, dies offenbare Revolutionsgericht bringen. Es waren „zwei schöne Schnitten Schweinebraten, die sich in Sauerkraut wälzten". Und Got philosophiert: Der Kaiser dem Schwein gleichgesetzt! Früher hätte solche Majestälsbeteidigung jahrelanges Gefängnis eingetragen. Und heute darf man! ... Er weiß nicht, daß man.auch früher von Kaiserfleisch reden durfte und von Kaiserschmarren und vielen ähnlichen guten Dingen, welche auf kaiserliche Art oder eines Königs würdig znbereitet waren; er weiß auch nicht, wie erbärmlich sehr er fick mit solchem Schnitzer verrät. Es geht ihm mit der deutschen Sprache wie mit dem deutschen Wesen: er weiß im Grunde herzlich wenig davon. Wir wollen es ihm nicht weiter übelnehmen. Er soll uns ja nicht über das deutsche Wesen belehren. Sonde: n nur darüber, was der Franzose von Deutschland weiß, hält und erhofft. Und diese Aufgabe erfüllt Got mit erfreulichster Deutlichkeit. Wir wollen für die Belehrung dankbar sein.
Tages-Neuigkeite«.
Die Lage unseres Verkehrswesens.
Berlin, 21. Dez. Auf Einladung der deutschen weltwirtschaftlichen Gesellschaft sprach dsr.Reichsoer kehrsminister Dr. Grüner über den Eisenbahnabmgngel. Er führte aus, wie das Ende des Krieges, die überhastete Demobilmachung und die Auswirkung der politischen Bewegungen in Deutschland dazu beigelragen haben, das deutsche Eisenbahnwesen zu zerrütten. Die finanzielle Notlage der Eisenbahn geht aus diese Zeit zurück. Für das Jahr 1920 haben wir mit einem Fehlbetrag von etwa 15 Milliarden zu rechnen. Der vom Minister gebildete Sachverständigenbeirat hat erklärt, zum Ausgleich zwischen Einnahmen und Ausgaben werden energische Erhöhungen aller Einnahmen bewirkt werden müssen. Dazu werde sich eine allgemeine Erhöhung i. sbesondere der Gütertarife nicht umgehen lassen, trotz der schweren Belastung, die darin für das deutsche Wirtschaftsleben liegt.
Die schwarze Schmach.
Berlin, 21. Dez. General Gouraud hielt am 14. Dez. im großen Saal der Universität Straßburg einen Vortrag über das „Koloniaiwerk" Frankreichs. Im Verlaufe seines Vortrags, welcher des öfteren von lebhaftem Beifall unterbrochen worden ist, spricht der Redner das Lob der Senegalesen aus, deren Bewunderer er ist, sowie dasjenige der marokkanischen Schützen und der anderen Kolomaltruppen. Die Truppen Afrikas und die Truppen Senegals haben Frankreich 500 000 Kämpfer gegeben, von welchen 100 000 gefallen sind. Die Geschichte des Kolonialwerks, so endigte der Redner, sei als ein großzügiges Werk der französischen Republik aufzu- faffen. Kommentar überflüssig!
Kohlenmangel in der sächsischen Industrie.'
Dresden, 2l. Dez ?sDer Kohlenmangel zwingt die sächsische Industrie, zahlreiche Betriebe stillzulegen. Durch dos Abkommen von Spaa macht sich der Mangel noch mehr bemerkbar. Zahlreiche Aufträge vom Ausland mußten rückgängig gemacht werden, da die Verträge nicht erfüllt werden können.
Tine Rede Dr. Escherichs.
Augsburg, 21. Dez. Der Landeshauptmann der bayrischen Einwohnerwehren Forstrat Dr. Escherich weilte als Ehrengast der Augsburger Einwohner- und Stadlwehr zu deren Weihnachtsfeier in Augsburg, wobei er eine Rede hielt. Er führte darin u. a. aus, Bayern könne seine Wehren nicht entbehren, das sei ausgeschlossen. Bayern werde nicht noch geben «Sehr richtig), weil ein Nachzeben seine Vernichtung und die des Reiches bedeuten würde.
Die Setreideschiebung in Sachsen._
Dresden, 21. Dez. Der Untersuchungsrichter beim Landgericht Dresden gibt bekannt, daß das Gesamtoermögen des Hofrats Rosenthal, der bekanntlich in die Getreideschiebungen verwickelt ist, beschlagnahmt worden ist, da mit einer Strafe von etwa 500000 ^ zu rechnen sei. Hofrat Rosenthal soll sich übrigens in Berlin befinden. Es sind Beamte unterwegs, um ihn auf seinem Gesundheitszustand zu untersuchen und gegebenenfalls festzunehmen.
Ein Gespräch mtt Dryander.
Der Berliner Vertreter der Londoner „Daily NewS" nahm Gelegenheit, den Hofprediger Dr. Dryander unmittel
bar nach seiner Rückkehr von HauS Doorn aufzusuchen und ihn über seine Eindrücke zu befragen. Dryander wies zunächst die in Deutschland und im Auslande immer wiederkehrenden Behauptungen über den körperlichen und geistigen Zusammenbruch des Kaisers ins Reich der Fabel. Der Kaiser sei bei guter Gesundheit und im vollen Besitze seiner Nsrven- und geistigen Spannkraft. Er beschäftige sich jetzt hauptsächlich mit dem Studium der Altertumskunde und der Geschichte. Wilhelm II , so erzählte Dryander weiter, spricht nur wenig über seine früheren Feinde und über den LügenfAvzug, den sie gegen ihn entfesselt haben und noch immer führen. Er schaue hoffnungsvoll nach Amerika hinüber, von dem er annehme, daß es am ehesten den Kriegshaß begraben werde. Seine große Hoffnung sei die Aussöhnung Amerikas mit Deutschland, die wirtschaftlich und kulturell beiden Ländern zum Nutzen gereichen werde. England dagegen erwähne der Kaiser nur wenig in seinen Gesprächen, am meisten hätten ihn die Angriffe gekränkt und verstimmt, die englische Geistliche von der Kanzel herab gegen ihn gerichtet hätten. Aus die Frage des englischen Korrespondenten, ob des Kaisers Furcht, Lloyd George werde auf seiner Aburteilung bestehen, sich gemindert habe, erwiderte Dryander lachend: „Dieser Gegenstand wurde in unseren Gesprächen überhaupt nicht berührt.- Wir halten keine Zeit für derlei Unsinn." Zum Schluß richtete der engl. Journalist an den Seelsorger die Frage, ob der Kaiser sich am Krieg schuldig fühle. Dryander wies das weit von sich: „Warum sollte er sich als kriegsschuldig fühlen? Er kämpfte gegen den Krieg und verursachte ihn nicht. Wenn die Wolken von Lüge und Leidenschaft erst zerstoben sind, wird die Geschichte den Kaiser von dieser schändlichen Anklage freisprechen. Ich kannte ihn seit seinen Bonner Tagen im Jahre l885, ich war sein Seelsorger, und mit der Kenntnis seines Wesens, die ich mir durch meine Stellung erworben habe, erkläre ich, daß sein einziges Lebensziel die Erhaltung des Friedens war. Wenn die Entente-Staatsmänner nur ebenso wenig Schuld am Kriege tragen wie der einsam Verbannte, dann weiden sie nachts gut schlafen können."
Mühlenindustrie und Getreidebewirtschaftung.
Die Süddeutsche Mühlenvereintgung teilt m>t, daß sie mit den streikenden Mühlen keinerlei Gemeinschaft hat. Die der Siiodeulschen Mühlenvereintgung angehörenden Betriebe stehen, trotz aller Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen haben, nach wie vor im Dienste der Zwangswirtschaft, deren Aufhebung im jetzigen Augenblick sie für verhängnisvoll halten würden, da unler den zur Zeit noch bestehenden Verhältnissen die Freigabe des Getreideoerkehrs eine erhebliche Verteuerung des Brotes und diese die Notwendigkeit einer allgemeinen Lohnerhöhung im Gefolge haben würde. Weitere Lohnsteigerungen müßten, ganz abgesehen davon, daß die ohnehin schwer kämpfende Industrie sie nicht würde tragen können, zu einer weiteren Verteuerung der ganzen Lebenshaltung führen und damit unabsehbare Folgen nach sich ziehen
Ein Protest deutscher Professoren und Politiker.
Ein ungarisches Gericht ist im Begriffe, nach oiermona- ttger öffentlicher Verhandlung zehn des mehrfachen Morde» angeklagte Mitglieder der ehemaligen ungarischen Sowjetregierung zum Tode durch den Strang zu verurleilen. Gegen dieses noch nicht gefällte Urteil protestieren namhafte Politiker sowie Vertreter der Wissenschaft, Literatur n. Kunst. Sie fordern Nichtanwendung der Todesstrafe für politische Verbrechen und Begnadigung der angeklagten ehemaligen Volkskommissare, damit auf diese Weise der erste Schritt zur Versöhnung getan werde. Für Deutschland hoben diesen Protest unterzeichnet: Professor Juso Brentano, Hans Delbrück, Ernst Troeltsch, Walter Schücking, Albert Einstein, Nicolai, Maximilian Harden, Heinrich Mann, Bernhard Kellermann, für den deutschen Gewerkschastsbund Karl Legten, Rudolf Wifsell, Gertrud Hanns, Johannes Saffenbach, Paul Umbreit, weiter Konrad Hauß- mann, Mitglied des Reichstages, Severing. preußischer Minister, Hermann Müller, Reichskanzler a. D., Gustav Bauer, Reichskanzler a D., Georg Led-bour, Wilhelm CriSpien, Rudolf Hilferding, Rudolf Breitscheid. Eduard Bernstein, Philipp Schetdemann, Otto WelS, Georg Gradnauer, Irene TorbeS-Moffe.
Wie wir hören, beabsichtigen die Unterzeichner deS Protestes, um jeden Schein einer parteipolitischen Kundgebung zu vermeiden, in nächster Zukunst einen ebenso flammenden Protest gegen den schrankenlosen Terror in Rußland zu veröffentlichen. Hierbei beabsichtigen sie insbesondere dem Gesichtspunkt Geltung zu verschaffen, daß in Rußland auS politischen Rücksichten eine ungleich größere, in die Hunderttausend gehende Zahl von Menschen hingeschlachtel worden ist, und daß es sich hierbei zum großen Teile auch um Personen handelt, die nicht in den Kämpfen des Bürgerkrieges gefallen sind, sondern um Geiseln, die ohne jegliches gerichtliches Verfahren an die Wand gestellt wurden, obgleich sie nicht das Geringste gegen die Sowjetregierung unternommen hatten. Man erwartet von diesem Proteste eine nachhaltige Wirkung auf Moskau.
Das französische Mißtrauen.
Paris, 2>. Dez. Während die Meldungen aus Brüssel die Vermutung aussprechen, daß eS zu einer Verständigung zwischen den Ententedelegierten und der deutschen Kommission kommen werde, bemüht sich ein Teil der hiesigen P-esse nach