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Donnerstag den 8. Juli 1920
94. Ishrgan-
Neue Streikmelhoden.
Dir vom Reichsstatistischei! A>nt ausgenvnimene Statistik der Sfieiks und dlnssperrungen, die sich bekaimtlich mit der Statistik der Generalkommisston der Gewerkschaften nicht ganz deckt, Hai bisher an einem großen Uebelitand gelitten. Es war nämlich der Begriff des Streiks viel zu eng gefaßt. Deshalb beioni das Reichsarbeiisblait jetzt, bei der Veröffentlichung der Streikziffern für das Jahr 1918, daß sie nur als Mindestziffern betrachtet werden können, da eben eine große Anzahl Streiks infolge der alten, zu engen Fassung des Begriffs statistisch nicht ersaßt wurden. Erst jetzt ist das Reichsstatistische Amt bemüht, dies wenigstens für die Zukunft zu korrigieren, indem es zwischen wirtschaftlichen und politischen Streiks unterscheidet, also den früheren Streikbegriff fallen läßt, weil er durch die Verhältnisse überholt ist. War man in den ersten Jahren der Streikstatistik davon ausgegangen, unter Streik „jede gemeinsame Arbeitseinstellung mehrerer gewerblicher Arbeiter zum Zweck der Durchsetzung bestimmter Forderungen beinr Arbeitgeber" zu verstehen, so sah man sich schon bald gezwungen, nicht nur solche Arbeitseinstellungen zu rechnen, die auf die Durchsetzung bestimmter Forderungen bei dem Arbeitgeber hinzielien, sondern auch Sympathie- und namentlich politische Streiks in die Statistik mit einzuziehen. Immer noch aber blieb man dabei, nur die gewerblichen Arbeitsstreitigkeiten zu berücksichtigen, die zur Durchsetzung irgend einer Forderung unternommen wurden. Tatsächlich hat sich auch diese Begriffsbestimmung nach doppelter Richtung hin als zu eng erwiesen. Einmal ließen sich so die Arbeitseinstellungen von Angestellten und Beamten nicht erfassen, wie sie freilich erst 1919 aufgekammen sind, an deren Möglichkeit aber die alten Bestimmungen des Bundesrats vom 10. Juni 1898 auch nicht entfernt gedacht hatten. Auch Handarbeiterstreiks hatte man nicht für möglich gehalten.
Dann aber hat der Begriff des Streiks, wie er bisher der Statistik zugrunde gelegen hm, sich auch insofern als zu eng erwiesen, als immer nur an die Durchsetzung bestimmter Forderungen gedacht wurde, nicht an jene allgemeinen Regungen des politischen Willens oder ganz allgemein der politischen Unzufriedenheit, wie sie sich heute immer wieder im gewerblichen Leben geltend machen. Man denke an den Demonstrationsstreik gegen den Versailler Vertrag, den die U S. P in der Hoffnung entfesselte, die Arbeiterschaft der Entemeiänder würde die Kundgebung mitmachen — natürlich wieder eine Spekulation auf Solidaritätsempfindungen, die der Arbeiterschaft der feindlichen Länder gänzlich fremd sind. So haben die Ereignisse dazu geführt, dem Begriff der Streiks neuen Inhalt und neue Fassung zu geben. Unsere Reichsstatistik versteht darunter ,,die gemeinsame Arbeitseinstellung mehrerer Arbeitnehmer eines oder mehrerer Betriebe zur Erzielung eines bestimmten gemeinsamen Zwecks". Sie will daher fortan ume! scheiden zwisckieu wirtschaftlichen Streiks, bei denen dieser Zmcck in der Durchsrtzung bestimmter wirtschaftlicher Forderungen besteht, u, politischen Streiks, bei denen ohne Rücksicht auf die Durchsetzung wirtschaftlicher Forderungen die gemeinsame Arbeitseinstellung erfolgt, um politische Wirkungen anszulösen". FürdieAnssperrungen könnte man ähnliche Gesichtspunkte gelten lassen; allein das ist bloße Theorie, weil es eben politische Aussperrungen bisher überhaupt noch nicht aegeben hat und in absehbarer Zeit auch nicht geben dürste. Ueberhaupt kommen die Aussperrungen aus der Mode — die Machtverhältnisse haben sich so verschoben, daß die Arbeitgeber dieses Kampfmittel fast niemals mehr benutzen. Im ganzen Jahre 1918 hat es im Deutschen Reich nur eine einzige kleine Aussperrung gegeben.
Ueberaus lehrreich ist, airs der Reichsstatistik der Streiks zu ersehen, wie in den Kriegsjahren, die ja zunächst mit dem wirtschaftlichen Burgfrieden begonnen, die Zahl der Streiks ursprünglich sehr gering gewesen ist, 1917 aber anschwoll u. 1918 schon einen sehr bedeutenden Umfang annahm. Wir wissen ja, daß das Jahr 1919, dessen Statistik wohl erst nach mehreren Monaten veröfftnilicht werden wird, seinen Vorgänger wiederum erheblich übertriffc und Riesenstreikziffern aufzuweisen hat. Vergleicht man nun aber die Ziffern von 1918 mit denen früherer Jahre, so ergibt sich das folgende, auf den ersten Blick überraschende Bild:
^ Ä«hr JahreSv*rchsch»ttt
1904-1908 INW—r»is 1917 ,918
Gerechnete Anzahl der verlorenen Arbeitstag« bei
Errett»
An»sperrungen
Streiks «nd Aussperrungen zns.
2 581 686
844 840
3 12s 9»«
6 959 814
, 744 IS«
9 70» Sb2
« 381 472
4 889 022
tl 190 494
1 889 S»8
8 409
t ««2 302
5 217 982
1808
L 219 2»9
Eine Betrachtung dieser Zahlen lehrt zweierlei: einmal, daß die Strelklnst 1918 gewaltig gestiegen ist; zweitens aber, daß die Zahl der verlorenen Arbeitstage im Durchschnitt der Jahre 1904 bis >9l3 höher war als 1918; nur das Jahrfünft 1899 — 1903 wies eine niedrigere Ziffer auf Wie ist das zu erklären? Die Antwort finden wir ain besten, wenn wir auch die Zahl der Arbeilskämpfe in Betracht ziehen. Da ergib! sich, daß sie im Verhältnis zu der in die Streiks und Aussperrungen verwickelten Arbeiter vor 1914 ganz erheblich germaer war als 1918, Das heißt also, daß jeder Arbeits- kampf vor dem Kriege erheblich länger zu dauern pflegte als während der Kriegssahre. In der Tal kam es damals in
der Regel eben nur zum Streiken, nachdem die Gewerkschaften ihn sorgfältig vorbereitet hatten; dann aber entspann sich ein erbittertes Ringen der beiden Gegner, nur den anderen möglichst auf die Knie zu zwingen. Die neue Erscheinung aber, die wir heute erleben und die 1919 noch in außerordentlich viel größerem Maße statistisch in Erscheinung treten wird als 1918, ist die, daß eine Unzahl von Streiks, teilweise von kurzer Dauer, vom Zaun gebrochen werden, die wir zum Teil als wilde Streiks werden bezeichnen müssen, die also ohne Zustimmung einer Berufsorganisation, ohne vorhergegangene Ansage und durchaus nicht auf Grund eines Mehrheitsbeschlusses der Streiklustigen erfolgen.
Fiir die Bedrohung des Arbeitsfriedens sind diese Streiks besonders gefährlich. Sie decken sich freilich mit dem Begriff, den der Reichskanzler Bauer am 7. Oktober 1919 in der Deutschen Nationalversammlung für den Streik festzulegen suchte, nicht. Er bezeichnet« den Streik damals, offenbar in dem Glauben, es handle sich noch um Verhältnisse, wie sie früher geherrscht hatten, als „das letzte mit höchster Selbstzucht anzuwendende wirtschaftliche Kampfmittel zur Durchsetzung der Forderungen der Arbeiter und Angestellten".
Aber so liegen die Dinao heute nicht mehr. Vielmehr wird jeden Tag wegen irgendeiner Kleinigkeit ein Streik angezettelt oder terroristisch erzwungen. Vorznbereiten braucht man ihn ja schon deshalb nicht mehr, weil die wirtschaftliche und politische Stellung der Arbeitgeber so empfindlich geschwächt worden ist, daß ste häufig als kampfkräftiger Faktor nickt mehr in Betracht kommt. Auch darf nicht vergessen werden, daß sich gerade bei den wilden Streiks eine völlig neue S tr eikm eth v d e ausznbilden scheint, die ja auch ganz im großen von gewissen Kräften, die auf die Beseitigung der gegenwärtigen Regierung oder aller Ordnung überhaupt abzielen. angewendet werden: ste sucht nicht mehr den ganzen Betrieb aus einmal zu treffen, sondern nur seine empfindlichste Stelle. Wie die USP. oder die KPD. die ja vielfach völlig ineinanderfließen, mehrfach bestrebt gewesen sind — und leider mit Erfolg bestrebt sind — unser ganzes Wirtschaftsleben, durch Lähmnng der Kohlenerzeugung und des Eisenbahnwesens stillznlegeu, so sucht man bei wilden Streiks einen Großbetrieb nur an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen, indem man ihn nicht als Gesamtheit „bestreikt", sondern zunächst nur einzelne, für den Fortgang des Betriebes aber unentbehrliche Arbeitergruppen, z. B. Heizer und Maschinisten, zur Arbeitsniederlegung veranlaßt, um so den ganzen Betrieb von innen heraus lahmznlegen. Das ist also jene Art des japanischen J i'u Jitsu, durch die man den Gegner kampfunfähig macht, indem man ihn an irgend einer besonders empfindlichen Stelle einer Nervenlähmung unterwirft.
Man lasse sich über die Gefahren der Lage nicht dadurch täutschen, daß in den letzten Wochen verhältnismäßig wenig Streiks gemeldet wurden. Einmal darf nicht vergessen werden, welche maßlose Schädigung des deutschen Bolksvermögens der Generalstreik während der Kapptage und nachher verursacht, wie sehr er die Teuerung verschärft hat. Andererseits ist von einer Abnahme der Streiklust in allen den Betrieben nichts zu spüren, in denen eine nachträglicke Bezahlung der Streiktage auch bei verunglücktem Streik heute die Regel zu sein pflegt — beispielsweise also in manchen städtischen Betrieben. Vorsichtig find die Streikwütigen nur dort gewor den, wo ste einem Privatbetrieb gegenüberstehen, der innerlich bereits so geschwächt ist, daß ungewiß ist, ob die Arbeiter durch einen längeren Kampf gewinnen. Die Streikkassen aber find heute nicht mehr so prall gefüllt, wie vor einem Jahre. Und vor allem: die Ironie der Geschichte will es, daß die empfindliche Entwertung des Geldes, die zum großen Teil durch die Minderung der Arbeitsleistung hervorgerufen wurde, nun eben auch die Streikkassen trifft. Eine Arbeiterschaft, die einen Tagelohn von sagen wir 30—40 erhält —. es gibt viele Arbeitergruppen, die ganz erheblich mehr beziehen — muß in ihren Streikkassen gewaltige Summen zur Verfügung haben, will sie durch den Streik nicht wesentlich zurückkommen. Nur aus diesem Grunde ist augenblicklich eine gewisse Streikmüdigkeit zu beobachten.
Äuf alle Fälle scheint es uns eine der obersten Pflich teil der heutigen Regierung zu sein, im Interesse der Gesamtheit Vorsorge dafür zu treffen, daß wir in Zukunft vor den vernichtenden Wirkungen unverantwortlicher Streiks bewahrt werden. Es läßt sich mit Händen greifen, wie die wahnwitzige Teuerung, unter der wir zu leiden haben, ebenso wie die galoppierende Schwindsucht, der der Wert unseres Geldes verfallen ist, durch die unaufhörlichen Streiks immer ärger werden. Was gedenkt die Regierung zu tun, um diesem Uebel zu steuern, unter dem doch letzten Endes keineswegs nur das Bürgertum leidet, sondern auch die Arbeiterschaft selbst? Wo bleibt die längst versprochene Gesetzgebung zur Ausschaltung gewerblicher Streifigkeiten?
Deutscher Reichstag.
Dienstag-Sitzung (Schluß).
Die deufichnationalen Abgg. Mumm und Gen. fragen nach der Rückbeförderung der in Sibirien und Mittelasien weilenden deutschen Kriegsgefangenen. — Reichskommifsar Stück! en erwidert, die aus Ostasten zu erwartenden Ge
fangenen seien zum Teil schon hier, zum Teil noch unterwegs. Jedenfalls sei die Gegend östlich des Baikalsees bereits geräumt. Was die Gefangenen aus Sibirien westlich des Baikalsees betreffe, so sei hier das Rote Kreuz mit der Vermittlung befaßt. *
Unter Hinweis auf die Tatsache, daß nunmehr bereit- sieben Minister im Ausland weilen, und die Einberufung der anderen zu erwarten steht, teilt Präsident Löbe mit, daß der Reichskanzler anheimgestellt habe, die Reichstagsverhandlungen bis nach Beendigung der Konferenz in Spaa zu vertagen. Das Haus schließt sich diesem Ansuchen an und setzt die noch auf der Tagesordnung stehenden Interpellationen ab.
Das Haus schreitet dann zur Beratung des Antrags Allekotte (Z) betreffend Ergänzung zum Gesetz über Steuerabzug vom Arbeitslohn.
Allekotte begründet den Antrag, dessen Tragweite darin besteht, bei Einkommen bis zu 15 000 ^ für jeden Arbeitstag 5 ^ steuerfrei zu lassen und für jede zum Haushalt des Arbeitnehmers zählende Person täglich 1.50 Dagegen soll bei Einkommen von !5 bis 30000°^ der Steuersatz auf 15 Prozent erhöht, bezw. stufenweise bei Einkommen von 500000 an ein Abzug von 50 Prozent erhoben werden.
Dr. Brau n (Soz.) stimmt diesem 'Antrag zu.
Leopold (DR) bittet, auch die Naturalbezüge der Landarbeiter zu beachten.
Nach längeren Auseinandersetzungen zwischen den Sozialdemokraten und den Unabhängigen wird der Entwuri in allen drei Lesungen angenommen.
Das Diätengesetz
für die Reichstagsabgeordneten ist im 8 3 durch den Ausschuß insofern geändert worden, als für unentschuldigtes Fernbleiben 50 statt 100 abgezogen werden sollen. 8 3 wird schließlich gegen die Unabhängigen angenommen, ebenso der ganze Entwurf. Desgleichen wird der Gesetzentwurf über die Anwendung der Meistbegünstigung auf nicht meistbegünstigte Länder ohne Debatte in allen drei Lesungen angenommen.
Zum Gesetzentwurf über die vereinfachte Form der Ge setzgebung für die Zwecke der Uebergangswirtschaft verlangt Frau Zietz (USP) genaue Beratung. - Erste und zweite Lesung werden erledigt. Gegen die dritte Lesung erhebt Abg. Rosenfeld (USP) Widerspruch.
Das Haus vertagt sich daraus auf unbestimmte Zeit.
Präsident Löbe gedenkt zum Schluß der am kommenden Sonntag erfolgenden Abstimmung in Ost- und We st preußeu und spricht den Wunsch aus, daß die Abstimmung eine überwältigende Kundgebung für das deutsche Vaterland und ein Bekenntnis der Treue zur Heimat bringen werde. (Stürmischer Beifall, Händeklatschen, an dem sich auch die Tribüne beteiligt.) Schluß 4 Uhr.
Die Konferenz von Spaa.
Fehrenbach an die Presse.
Spaa, 8. Juli. Reichskanzler Fehrenbach empfing heute vormittag die hier anwesenden deutschen Vertreter der Presse und etwa 60 ausländische Journalisten. Er erklärte ihnen n. a.: Die Hoffnungen und Wünsche der deutschen Delegation habe ich bereits dacgelegt. Wir sehen die Konferenz von Spaa unter einem internationalen Gesichtspunkt. Wir sind bereit, ehrlich am Wiederaufbau der Welt zu arbeilen, und, soweit es im Bereich der Möglichkeit liegt, den Vertrag von Versailles zu erfüllen. Die Möglichkeit dazu hängt von unserer Leistungsfähigkeit ab, die Leistungsfähigkeit wieder von der Ruhe im Innern. Unser Augenmerk inuß darauf gerichtet sein. Lebensmittel zu beschaffen, um unser Volk zu ernähren, und Rohstoffe, um unsere Industrie zu beschäftigen. Dann wird es möglich sein, zu den ungeheuren Steuern auch noch die Wied ergut m ach u n g s last en in gewissem Umfange auf uns zu nehmen. Wir begrüßen mit Genugtuung, daß uns in Spaa Gelegenheit gegeben ist, in kontradiktorischen Verhandlungen die wirtschaftliche Lage Deutschlands zu besprechen. Wir werden alles offen und freimütig anfzn- klären suchen.
Auf schiefer Bahn!
Spaa, 6. Juli. Außenminister Simon erklärte in Spaa dem Vertreter der „Deutschen Allgemeinen Zeitung": Die Bereitwilligkeit der Alliierten, in anderen Fragen nach- zngeben, wird offenbar von der Erledigung der militärischen Frage abhängig gemacht. Die führenden deutschen Persönlichkeiten sind denn auch entschlossen, soweit es die Verhältnisse gestalten, in der militärischen Frage Zugeständnisse zu machen. Das ganze Problem wird an zuständiger Stelle als ernst, aber nicht hoffnungslos betrachtet. Es wird sich darum handeln, statt der gegenwärtigen militärischen Form irgend eine andere Methode für den Schutz des deutschen Wirtschaftslebens zu finden.
Die Derhandlungsdauer.
Spaa. 6. Juli. Zwischen Lloyd George und Millerand bestand noch gestern über die Konserenzdauer Meinungsverschiedenheit. Lloyd George will angensckieinlick, daß die Form