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Montag den 26. April 1920

94. Jahrgang

Nr. 96

Deutsche Nationalversammlung.

Berlin, 24. April. Was siir ein MenicheuincUerial heut­zutage auf der Bundesratestrade sitzt, müssen wir schaudernd alle Tage mit ansehen. Nun aber kommt der Befund auch in das stenographische Protokoll. Prof. Kahl kommt näm­lich vor Eintritt in die Tagesordnung auf seinen Zusammen­stoß mit dem Reichsjustizminister Blunck vor 10 Tagen noch einmal zu sprechen, da inzwischen festgestellt worden ist, welches Zitat dereinst der erste Engländer auf dem Throne von Hannover gebraucht und Bluuck dem Prof. Kahl iürzlich entgegengeschleudert hat, nämlichProfessoren, Huren und Tänzerinnen kann man überall für Geld haben". Sogar den Demokraten verschlägt diese Feststel­lung ans eine Weile den Atem und das Zentrum ist geradezu erstarrt. So etivas hatte man von der demokratischen Leuchte Blunck, zumal dieser Mann jetzt doch die Bundesratestrade ziert", nicht erwartet. Hätte er am 15. April das Zitat ' gekannt, so hätte er den Herrn Minister zur Ordnung ge­rufen. sagt sogar der Mehrheitsprästdent Fehrenbach. Aber Blunck. den Kahl um Z u r ü ck n a h m e u n d E n t s ch u l d i- gung ersucht, hält es mit der Würde eines preußischen Reichsjustizministers vereinbar, diese Anstandspflicht nicht zu erfüllen und schimpft unentwegt weiter über die niedrigen Verdächtigungen" des Abg. Kahl, dem gegenüber diesen Aeußerungen des demokratisch-republikanischen Gentle­man nur übrig bleibt, nicht nur die Professoren­schaft, sondern ganz Deutschland zum Richter in dem . Anstandskonflikt aufzurufen. Die Mehrheit aber hat inzwischen ihren Mut wiedergefunden, sie lacht!

Ans der Tagesordnung stehen verschiedene Vorlagen, die von dem Hauses das schließlich nur noch etwa 70 Anwesende zählt, eiligst hintereinander angenommen werden, darunter als wichtigste die sog.Verreichlichung" der Eisen­bahnen und die Erhöhung der Postgebühren. Den Uebergang sämtlicher Eisenbahner! an das Reich preist der Zentrumsminister Bell als Großtat des Einheitsgedan­kens. In Wahrheit haben die Bundesstaaten aber, wenig stens zurzeit, nur eine Last abgewälzt. Zu einer drückenden, ja »ermalmenden Last sind in der glorreichen Republik die Bahnen geworden, die jetzt mit einem schauerlichen Defizit arbeiten, während sie früher das Hauptaktikum der Länder waren. Sie stehen mit einem fiktiven Wert von 48 Milliarden zu Buch, aber das Reich, das das Geld in Papier nämlich auszahlt, hat davon keine Einnahmen, sondern muß das Defizit allen Reichsangehörigen aufhalsen. Ob als Staatsangehörige oder als Reichsangehörige ge­schröpft werden wir auf jeden Fall.

Dasselbe tut die P o st, die stets früher durch Verbilli­gungen den Verkehr beben wollte, jetzt aber so verteuert, daß sie auf eine Verringerung des Verkehrs um 30 Proz rechnet.. Auch die Z w a n g s a n l e i h e von l 000 die jeder Telephonbesitzer entrichten soll, wird^von der Natio­nalversammlung genehmigt. Sie soll doch den Willen des Volkes ausführen, aber anscheinend ist sie ständigfalsch verbunden".

Freitagssttzung.

Vizepräsident Dr. Dietrich eröffnet die Sitzung um 3.20 Uhr: Anfragen.

Aus Anfrage Dr. Düringer (DR.) wegen Zollfrei- heit von aus dem Elsaß eingesührten Baumwollwaren wird regierungsseitig geantwortet, daß die betreffenden Waren nach Beseitigung einiger Unstimmigkeiten mit der französischen Regierung nunmehr wieder zollfrei sind.

Nus Anfrage Hoch (Soz.) wegen Regelung der Holz- versorgnng wird regierungsseitig geantwortet, daß die Regie­rung das Holzgeschäst überwache und mit den Zentralbehör­den der Länder Vereinbarungen treffe. Auf einen Ausgleich zwischen den Ländern betreffs des Brennholzes werde beson­ders geachtet werden.

Es folgt die 3. Beratung des Gesetzentwurfes über die Befriedung der Gebäude des Reichstags und der Landtage.

Ueber das Gesetz wird, weil es eine Verfassungsände­rung bedeutet, namentlich abgestimmt.

Es wird mit 290 gegen 15 Stimmen angenommen.

Es folgt die 3. Beratung des Gesetzentwurfes des Rsichs- wahlgesetzes.

8 2 des Gesetzes wird mit geringer Majorität angenom­men. (Die Ausübung des Wahlrechtes ruht für die Soldaten).

In der Gesamtabstimmung wird das Gesetz mit 301 Stimmen angenommen.

Es folgt die 1. Beratung eines Gesetzes betreffend Ver einigung Koburgs mit Bayern in Verbindung mit okm Gesetzentwurf betreffend das Land Thüringen.

Die beiden Gesetzentwürfe werden in 2. und 3. Beratung" erledigt und in der Gesamtabstimmung angenommen. (Beifall.)

Präsident Fehrenbach spricht im Namen der Natio- ""^Ersammlung Thüringen, dem Herzen Deutschlands, das s/*" in Weimar ans Herz gewachsen ist, die herzlich-

Wünsche für eine gedeihliche Entwickelung uns. Möge Beffall)^"^ Bayern blühen und gedeihen. (Stürmischer

Tcr Gesetzentwurf für die Gewährung von Straffreiheit

und Strafmilderung in Disziplinarsachen wird in 2. und 3. Lesung angenommen.

Bartschat (Dem.) begründet einen Antrag betreffend Aufhebung der Verhandlungen - über die Heraufsetzung des Grundlohnes und Ausdehnung der Verstcherungspflicht in der Krankenversicherung. Die Regierung möge alsbald den Entwurf einer neuen Verordnung votlegen.

Molke nbuhr (Soz.) widerspricht dem Antrag.

Behrens (DR.): Die Verordnung, die der Antrag aufheben will, bringt eine ganz falsche Tendenz in die Ver­sicherung. Die Verordnung führt zum Rnin^der Kassen. Der 6. Ausschuß besteht aus Wirtschaftspolitikern, nicht aus Sozialpolitikern. Solche Verordnungen sollten im 7. Aus­schuß beraten werden.

Becker-Arnsberg (Z.): Die Verordnung ist ein Schritt zur allgemeinen Volksverstcherung.

Dr. Most (D.V.P.) stimmt dem zu. Die Verordnung würde zur Sozialisierung des Aerzteftandes führen.

' Brühl (Unabh.) spricht gegen den Antrag. Die Kran­kenkassen brauchen Geld. Sie sind am Ende ihrer Leistungs­fähigkeit. Die bessersituirten Arbeiter müssen für die schlechter- simierten eintreten.

Der Antrag wird angenommen.

Nächste Sitzung morgen Nachmittag 1 Uhr: Verreichlich­ung der Eisenbahnen, Postgebühren u. a.

Schluß gegen öV« Uhr.

Samstagssitzung.

Berlin, 24. April. Präsident Fehrenbach eröffnet die Sitzung um 1.20 Uhr.

Vor Eintritt in die Tagesordnung erklärt Dr. Kahl (D.V): Der Reichsjustizminister hat in Bezug auf mich neulich das Wort des hannoverschen Königs Ernst Au­gust auf die Professoren angezogen. Dieses lautet: Pro­fessoren, Huren und Tänzerinnen kann man überall um Geld haben. (Pfui!) Diese frivole schwere Beleidigung lasse ich mir nicht gefallen, auch nicht für meine Fraktion und für den Stand der deutschen Professoren. Ich fordere Zurücknahme und Ausdruck des Bedauerns. Durch Vermit­telung des Herrn Präsidenten ist mir der Entwurf einer' Erklärung des Ministers zugegangen, die aber unzureichend ist. Erfolgt keine genügende Erklärung, so muß ich mir weitere Schritte Vorbehalten.

Reichssustizminister Blunck legt dagegen nachdrücklich Verwahrung ein. Kahl habe seinerseits vom Winkeladvokaten in herabwürdigender Weise gesprochen. Um ihm vor Augen zu führen, wie verwerflich es sei, allgemeine Werturteile bei einem Stand zu fällen, habe der Minister den Ausdruck des hannoverschen Königs angezogen, ohne sich diesen Ausdruck eines verrotteten und moralisch verkommenen Monarchen zu eigen zu machen. Ihm das zu unterstellen, sei eine niedrige Verdächtigung. (Lärm links.)

Präsident Fehrenbach weist diesen Ausdruck zurück.

Dr. Kahl (D.V.P.):Im Auslegen seid nur recht munter, legt ihr's nicht aus, so legt was unter." (Beifall rechts, Lärm links.) Ich rufe Deutschland zum Urteil da- rüber auf» ob ein Mann, der so leichtsinnig mit der Ehre anderer umgeht, an der Spitze des Reichsjustizministeriums stehen kann.

Präsident Fehrenbach weist diesen Ausdruck zurück. Wenn ihm der Wortlaut des Ausspruches jenes Königs ge­genwärtig gewesen war, hätte er ihn zurückgewiesen.

Der Ausschuß für die Geschäftsordnung beantragt, die Genehmigung zur Strafverfolgung des Abg. Becker Oppeln (Soz.) in einem Privatklageverfahren nicht zu erteilen. Der Antrag wird angenommen.

Der gleiche Ausschuß stellt den gleichen Antrag betreffend die Abg. Geyer Leipzig (US.) und Dr. Geyer-Sachsen (U.S.) auf Grund einer Strafanzeige des Rates der Stadt Leipzig, weil politische Motive Vorgelegen hätten, nicht aber eine ehrlose Handlugsweise. Der Antrag wird Angenommen.

Der gleiche Ausschuß stellt den Antrag betr. den Abg. Braß (US) in der Landesverratsangelegenheit. Dagegen liegt ein Antrag vor, die Genehmigung zur Strafverfolgung zu erteilen und ein weiterer, die Sache an den Ausschuß zu­rückzuverweisen, da die Sache nicht genügend geklärt sei. Nach längerer Geschäftsordnungsdebatte wird der Antrag auf Zurückverweisung angenommen.

Der Gesetzentwurf betr. das deutsch-französische Ab­kommen über die Zahlung der elsäß-lothringischen Pen­sionen wird in allen 3 Lesungen angenommen.

Es folgt die 2. Beratung des Gesetzentwurfes betreffend den Uebergang der Eisenbahnen auf das Reich.

Abg. Dr. Becker-Hessen (DVP) berichtet über die Ausschußverhandlungen. Hoffentlich nützten die Länder die gewonnenen Vorteile nicht allzu rücksichtslos aus. Nur in dieser Hoffnung könne der Ausschuß die Annahme des Ge­setzes empfehlen.

Reichsverkehrsminister Dr. Bell: Die Verantwortung für die Vorlage mit Einschluß ihrer gesamten finanziellen Wirkungen übernimmt die Regierung vollkommen. Der Uebernahmepreis war durchaus angemessen. Die Reichsregierung konnte es nicht verantworten, den Antrag scheitern zu lassen. Das Personal verlangte die Uebernahme ans das Reich wegen der Besoldungsreform. Eine einheit­

liche Leitung ist auch erforderlich im Hinblick auf die örtlichen Streiks und Unruhe».

Abg. Gandorfer (Bayr. V.P.) erklärt, daß seine Par­tei gegen das Gesetz stimmen werde.

Der Gesetzentwurf wird angenommen.

Der Gesetzentwurf über die Aufhebung der Gebühren-

freiheit im Post- und Telegraphenverkehr wird in 2. und 3. Lesung angenommen.

Der Gesetzentwurf über die Aufhebung des bayerische« und württembergischen Postregal wird in 2 und 3. Lesung angenommen.

Es folgt die 2. Beratung der Gesetzentwürfe betreffend Telegraphen- und Fernsprechgebühren, betreffend Postge­bühren und betr. das Postwesen des Deutschen Reiches.

Abg. Fischer-Berlin (S) bemängelt eine Reihe von Verteuerungen, durch die besonders das Zeitungsgewerbe aus das Schwerste belastet würde.

Abg. Trimborn (Z) beantragt, die Zeitungsgebühren erst vom 1. Oktober ab in Kraft treten zu lassen.

Reichsminister Giesberts: Diese Vorlagen sind eine Warnungstafel. Wir haben volles Verständnis für die schwie­rige Lage der Presse. Aber ich versuche jetzt nur, das Defi­zit herauszuholen. Mit dem Antrag Trimborn kann ich ein­verstanden sein. Eine Reform des Scheckwesens erstrebe ich schon lange.

Abg. Nuschle (Dem ): Wir sehen in den neuen Ge­bühren eine tätastrophale Belastung des Verkehrs. Die Ge­bühren dürfen nur provisorisch sein. Die Postverwaltung muß zusehen, daß sie neue Ersparnisse macht. Die Telephon­anleihe wird von uns abgelehnt.

Abg. Bruhn (D.N.): Das Zeitungsgewerbe, besonders die kleineren Verlage werden mit dem Ruin bedroht. Der Aufschub bis zum 1. Oktober ist dringend notwendig.

Abg. Most (D.V.P.): Wir können uns nur schwer ent­schließen, den erhöhten Gebühren zuzustimmen.

Der Regixrungsvertreter bittet um Ablehnung der vor­liegenden Anträge.

Ein Vertreter des Reichsfinanzministeriums verteidigt insbesondere die Zwangsanleihe. Bei dem schlechten Stand des Postetats sei eine freie Anleihe unmöglich.

Abg. Zubeil (U.S.P.): Die Vorlage ist unannehmbar.

Abg. Irl (Bayer. Volkspartei) wendet sich gegen die Telephongebührenerhöhung im Interesse der kleinen Gewerbe­treibenden.

Der Antrag auf Streichung der sogenannten Zwangs­anleihe wird abgelehnt mn einer geringen Mehrheit bei schwach besetztem Hause, ebenso in der sogleich vorgeomme- nen dritten Lesung.

Angenommen wird ein Antrag Arnstadt (D.N.), der den periodisch erscheinenden Zeitungen eine Vergünstigung bringt, ebenso der Antrag Trimborn, der die Zeitungsgebührener Höhung bis zum 1. Oktober hinansschiebt.

Die Postgesetze werden in zweiter und dritter Lesung angenommen.

Zu einem Gesetzentwurf über eine Abgabe zum Wahl­kostenausgleich bittet Reichsarbeitsminister Schlicke um Ueber- weisuttg an einen Ausschuß.

Ein Bericht des Ausschusses für Volkswirtschaft betreffend Annahme von Kriegsanleihe an Zahlungsstatt wird erledigt.

Reichsftnanzmimster Wirth erklärt im Laufe der ent­standenen Debatte, über diese Frage im Ministerium in den nächsten Tagen in Besprechungen mit Abgeordneten und Interessentenkreisen eintreten zu wollen.

Nächste Sitzung Montag l Uhr nachmittags: Notetat in Verbindung mit Anträgen.

Schluß 8 Uhr nachmittags.

Vor einer polnische« Invasion?

Berlin, 24. April. Nach Mitteilung der deutschen Ar­beitsgemeinschaft in Meseritz nehmen die Polen in den letz­ten Wochen sine bedrohliche Haltung ein. Die Grenzsperre ist vorläufig bis zum. Mai verlängert worden. Die Re- krntendepots nahe der Grenze sind mit Soldaten überfüllt. Wie festgestellt wurde, haben die Polen alle Jahrgänge von ^892 an eingezogen. Die Uebergriffe der Polen häufen sich immer mehr. Am letzten Sonntag haben in mehreren polnischen Städten Arbeiterdemonstrationen stattgefunden, welche sich gegen die drohende Haltung des Militärs wandten und jedes bewaffnete Vorgehen ablehnten. Die nach Deutsch­land herüberkommenden Polen, namentlich die Agitatoren, die im Grenzgebiet zahllose Versammlungen abhalten, sprechen ganz offenkundig von einer bevorstehende Okkupation.

Eine Bestätigung der Pressemeldung, daß deutsche Trup­penkontingente nach dem Osten in Bewegung gesetzt seien, ist bisher nicht zu erlangen gewesen. Die Regierung be­schränkt sich darauf, zu erklären, daß die Lage als durchaus ernst betrachtet werden müsse. Wir müssen also darauf ge­faßt sein, daß das französische Beispiel bei den Polen Schule macht, wenn nicht rechtzeitig die erforderlichen Gegenmaß­nahmen von deutscher Seile ergriffen werden.