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Nagolder Tagblatt .Der Gesellschafter«
Donnerstag, de« 31. Dezember 1S31.
Anneliese hob ihr Glas. „Auf das Ihre, — und daß Ihnen keine Gräte . . aber da faßte sie sich schon an den Hals und schluckte. „Ich — ich glaube, ich habe eine . . ."
„Brot essen, Fräulein Langhammer, ein ordentliches Stück Brot!" Doktor Bing war aufgesprungen. „Darf ich Ihnen behilflich . . .?" Er begleitete Anneliese hinaus in die Küche.
„Kartoffeln hätten es auch getan", sagte Sauerbrey und nahm die dritte Portion Karpfen, „junge Leute sind immer gleich so aufgeregt."
Er hatte recht, die jungen Leute schienen sehr aufgeregt Zu sein. Es dauerte mindestens eine Viertelstunde, ehe sie
wieder hereinkamen, und ihre Gesichter waren heiß und rot.
„Na, — haben Sie sie?" rief Sauerbrey und berechnete mit einem prüfenden Blick auf den Karpfen, daß noch eine vierte Portion auf ihn kommen könne.
„Ich habe sie", sagte Doktor Bing, „und Sie dürfen uns als erster Glück wünschen."
„Na, so wichtig, um Glück zu wünschen, ist eine Gräte" Sauerbrey blickte auf, sah in zwei strahlende Gesichter und faßte sich an den Hals.
„Hans, Hans!" schrie Anneliese und häufte Herrn Sanerbrey einen Berg Kartoffeln auf seinen Teller. „Er hat wirklich eine Gräte, während ich doch nur so — tat."
Kindermund
Eine Geschichte mit tragischem Ausgang.
Die Ehe ist der Güter höchstes nicht, der Uebel größtes aber sind die Kinder.
Ob, wo, wann und von wem das je gesagt worden ist. weiß ich nicht. Jedenfalls sage ich es hier, und zwar mit Ueberzeugung.
Haben sie eine Ahnung, wieviel Füße drei Kinder haben?
— Sechse? — Bewahre! Die Füße von drei Kindern kann man überhaupt nicht zählen. Und wenn nun diese unzähligen Füße auf den Dielen klappern, dann gibt das ein Trommelwirbel, gegen den der größte Zapfenstreich von zwanzig vereinigten Tambourkorps ein ersterbendes Gemurmel ist.
Ich saß bei einer Arbeit, die keinerlei Störung und Ablenkung vertrug, da erscholl im Nebenzimmer plötzlich jener besagte llebertrommelwirbel. Steil schoß ich vom Stuhl in die Höhe und fuhr hinüber, schalt, verbot, und es trat Stille ein. Kaum aber hatte ich mich mühsam in den Fluß meiner Arbeit zurückgefunden, da setzte drüben ein verstärktes Fortissimo ein, als ob die Hölle platzte. Ergeben ließ ich mein Haupt sinken, und gab den Kampf auf, denn ich bin ein erfahrener Mann.
Auf der Diele nahm ich Ueberzieher und Hut und begegnete einem Blick meiner Frau, der eine reichhaltige Sammlung von Fragezeichen aller Stilarten enthielt.
„Ich gehe spazieren", erklärte ich mit gut gemimtem Gleichmut, „denn bei dem Kinderlärm kann man doch nicht arbeiten."
„Kinderlärm! — Aber erlaube! Erstens lärmen unsere Kinder wirklich niemals, und zweitens arbeite ich doch auch bei dem Lärm." Damit ließ sie triumphierend ein Staubtuch vor meiner Nase tanzen.
„Hm — geistige Arbeit und Staubwischen ist doch schließlich zweierlei."
„Geistige Arbeit — hach — geistige Arbeit! Wie großartig und gehaltvoll das klingt! Uebringens, wenn du durchaus spazieren gehen mußt, könntest du sehr gut die Kinder mitnehmen, damit ich hier Ruhe bekomme."
Wir einigten uns darauf, daß der Junge mitgehen sollte. Ernst hatten wir schnell eingepuppt, und wir zogen ab, Es war ein herrliches Wetter, zum Arbeiten viel zu schade. So söhnte ich mich mit der Störung schnell aus. Am vormittäglichen Himmel stand die schattenhaft blasse Mondscheibe und erregte die Aufmerksamkeit meines Familienfortpflanzungsberufenen. „Papa, was ist denn das?" fragte Ernst, auf den Mond deutend.
Das ist der Mond, mein Junge."
„Der Mond? — Ich denke, der schläft jetzt?"
„Ja, ja, ganz recht, der schläft um diese Zeit; er ist nur eben mal aufgestanden."
Ernst denkt nach. „Ach, jetzt weiß ich schon. Ich muß ja auch manchmal nachts aufstehen." Ich kannte den Vorgang und verzichtete auf eine weitere Erörterung der Angelegenheit.
Das Fenster einer Spielwarenhandlung übte eine magnetische Anziehung aus, der meine Widerstandskraft nicht gewachsen war. Das Hauptstück war ein prächtiges Schaukelpferd. „Papa, was frißlln das Schaukelpferd?"
„Das frißt gar nichts; das ist ja bloß von Pappe."
„Kann man darauf reiten."
„Kleine Jungen können auf dem Schaukelpferd reiten".
„Kann der Mond auch darauf reiten?"
„Na, mein Junge, das sollte dem alten Herrn wohl schwer fallen", erwiderte ich lachend und zog meinen Spröß- ling weiter, denn selbstverständlich hat sich schnell ein größerer Zuhörerkreis angefunden.
Ein Stück Weges weiter begegnete uns das recht appetitliche Fräulein Müller. Ich grüßte. „Papa, was ist denn das für eine Tante?"
„Das ist Fräulein Müller."
„Ist Fräulein Müller auch von Pappe?"
„Nein, die ist nicht von Pappe", sagte ich mit dem Brustton der Ueberzeugug.
„Papa, kann Fräulein Müller auf dem Schaukelpferd reiten?"
„Hoho, das möchte ich selbst mal sehen", lachte ich amüsiert.
„Papa, muß Fräulein Müller auch nachts manchmal aufstehen?"
„Dummer Junge, das geht dich und mich nichts an!" rief ich ärgerlich und zog den Plagegeist um die Ecke.
Der Knabe Ernst fing an, mir fürchterlich zu werden, und da sich auch mein Magen recht energisch meldete, strebten wir den heimischen Penaten zu. Als wir in die unser Familienglück umfassenden heiligen Hallen eintraten, empfing uns der ebenso unverkennbare wie liebliche Duft einer gebratenen Gans. Ich muß gestehen, daß ich für diesen Vogel eine große Verehrung hege; nicht wegen der sagenhaften Kapitolsrettung — ich bin kein Römer —, auch nicht wegen seines Gesanges — der ist minderwertig —, aber wegen des wohlschmeckenden Fleisches, man hat was dran.
Bald saßen wir denn auch voll froher Erwartung um den Tisch, und während ich meine Suppe löffelte, hatte ich genügend Zeit mich auf die kommenden Genüsse würdig vorzubereiten.
Was Ernst betreibt, betreibt er mit Gründlichkeit und Ruhe, und mit sehr viel Ruhe; also auch das Essen. So kommt es, daß er gewöhnlich nachexerzieren muß. Jetzt war er endlich mit mit der Suppe fertig, sah sehr aufmerksam meiner Frau zu, unter den Kunstgeübten Händen die Gans in ihre mehr oder minder beliebten Teile zerfiel, und nachdem er festgestellt hatte, daß der auf ihn entfallende Bratenbissen groß genug sein würde, legte er sich mit der ruhigen Sicherheit des in seinem Besitze Gefestigten in den Stuhl zurück und begann zu plaudern. „Weißt du, Mama, der Mond muß auch manchmal aufstehen, genau so wie ich."
Ich hatte gerade das erste saftige Bratenstück hinter dem Gehege meiner Zähne in Sicherheit gebracht und versuchte zu lächeln. Aber weiß der Teufel, der Bissen kam mir plötzlich unheimlich dick vor. Von unten herauf schielte ich nach meiner Frau und fing einen Blick auf, einen Blick — na, ich bin felsenfest überzeugt, den Blick hat meine Frau sich patentamtliche schützen lassen. Inzwischen faßte Ernst frisch nach, denn die Gelegenheit, daß ihm das Sprechen bei Tisch nicht verboten wurde, mußte er doch wahrnehmen.
„Ja, M..ma, und der Mond kann nicht auf dem Schaukelpferd reiten."
Der Bratenbissen scholl an wie eine Mundbirne, dieses beliebte Folterwerkzeug aus der Zeit der Hexenprozesse. Zu schielen wagte ich nicht mehr, hatte es auch gar nicht nötig, denn messerscharf kam es von meiner Frau herüber: „Ach so, das sind die Früchte der Unterhaltung, die ein gebildeter Mann, ein Geistesarbeiter, mit seinen Kindern pflegt."
„Mama, Papa sagt, Fräulein Müller ist nicht von Pappe!"
Meine Serviette rutschte unter den Tisch, und ich fühlte, daß ich unweigerlich hinterher gerutscht wäre, wenn meine
Frau mich nicht mit einem ihrer gesetzlich geschützten Blicke an die Stuhllehne festgenagelt hätte. *
„Und Papa möchte Fräulein Müller mal auf dem Schaukelpferd reiten sehen.
„Sei still jetzt!" zischte meine Frau den Jungen an. „Ich will nicht wissen, was Dein Herr Papa von Fräulein Müller alles sehen möchte."
„Na ja", sagte Ernst seelenruhig und nahm seinen Gänsebraten in Angriff. „Papa sagt auch, es geht mich nichts an, wenn Fräulein Müller nachts manchmal aufstehen muß."
Nebel, Dunkel, Ohnmacht. — Als ich wieder zu mir kam, waren die Kinder vom Tisch verschwunden, der Gänsebraten auch. — Was ich gesagt habe? — Nichts, gar nichts. Das sagte alles, alles meine Frau. — Ich habe mir aber mit 777 heiligen Eiden zugeschworen, nie wieder mit einem Kinde spazieren zu gehen, es sei denn in Begleitung meiner teueren Gattin. Denn, daß ich auf den Gänsebraten verzichten mußte, hat mein empfindsames Gemüt zu tief verletzt.
Neujahrswunsch
Welchen Wunsch soll ich entgegen tragen Meinem heißgeliebten deutschen Volke?
Fern am Horizonte seh' ich ragen Eine unheilschwang're Wetterwolke.
Nah und näher scheint sie schon zu jagen. Rote Blitze zucken, Donner grollen.
Unsere Saaten wird sie Niederschlagen. Unsres Hauses Grund erschüttern wollen. Schwarze Wasser schon am Ufer nagen, Rllckgehalten kaum von morschen Dämmen, Ohne Zaudern giltts und ohne Zagen Dieser Flut entgegen sich zu stemmen! Deutsches Volk, laß diesen Wunsch dir sagen.
heilerer Leiftenoerr zum Jahreswechsel
Von HansRunge
Genieße, was dir Gott Leschisden, entbehre gern,
Lerne nur, das Glück ergreifen; denn das Glück ist immer dal
(Goethe „Erinnerung".)
Ueb' immer Treu und Redlichkeit! (Hölty, 1779.)
Lompesce mentem! (Beherrsche deinen Unmut!)
(Horaz, Oden.)
Komm denn, Liebckien, küß' mich herzlich! Jugend hat so kurze Zeit! ' ^ (Shakespeare.)
Liegt dir gestern klar und offen.
Wirkst du heute kräftig, frei;
Kannst auch auf ein Morgen hoffen,. ,
Das nicht minder glücklich sei! (Goethe, Temen.)
Ich wünsche, daß Sonntags jeder fein Huhn im Topfe hat)
(Heinrich IV. von Frankreich.)
Charakter bildet sich im Strom der Welt. (Goethe, „Tasso".)
Harret der Dinge, die da kommen sollen! (Lukas LI )
Ls irrt der Mensch, so lang er strebt.
(Goethe, „Faust". 1. Teil.)
Seid einig, einig, einig! (Schiller, „Wilhelm Teil".)
Nichts ist dauernd, als der Wechsel. (Börne, Reden.)
Es ist genug, daß «in jeglicher Tag sein« eigene Plage Hab».
Matthäus 8.)
Unser Schuldbuch sei vernichtet!
(Schiller. „An di« Freud«".)
Jahrmarkt des Lebens!
(„Weisheit Salomons an dt« Tyrannen".)
Alles zu seiner Zeit! (Sprüche Salomonis.)
Humor ist eine Gabe des Herzens. (Sprichwort.)
Hosen azis den Weg gestreut und des Harms vergessen!
(Hölty. 1778.)
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Zumpe macht Karriere
Eines Pechvogels lustige Geschichte von Frih Körner
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„Wir haben es doch bei dem Stahlbeck-Skandal gesehen, der von Berlin immer noch nicht ganz überwunden ist, wohin es führt, wenn die Verbindungen zwischen einer höheren Beamtenschaft — d. h., hier handelte es sich um Kommunalbeamte bzw. Stadtverordnete — und einer Privatfirma zu privat werden."
„Aber ich bitte Sie, Herr Zumpe ... das kommt doch hier nicht in Frage."
„Doch, vielleicht noch viel mehr. Sagen Sie, Herr Brettschneider ... ich meine Sie und Ihre Herren Kollegen im Innenministerium wissen doch so mancherlei, was nicht gut wäre, wenn es eine Privatfirma erführe!"
„Zweifellos! Aber Sie wollen damit doch nicht sagen . . .!"
„Nichts, Herr Regierungsrat . . beschwichtigte Zumpe, „was Ihre Ehrenhaftigkeit oder die Ihrer Herren Kollegen antasten könnte. Aber . . . zum Beispiel, die Stadt Berlin hat die Absicht, einen Hauptbahnhof zu bauen — nur als Beispiel genommen — das ist doch schließlich ein Punkt, wo das Innenministerium auch mitzureden hat."
„Bestimmt, zum Teil wenigstens!"
„Gut! Einige hohe Beamte der in Frage kommenden Ministerien werden zweifellos also orientiert sein, welches Gelände dafür in Frage kommt."
„Ja!"
„Und das trifft in tausend Dingen zu! Zum Beispiel . . . Ihr Ressort ... die Monopolisierung des Versicherungswesens . . . angenommen, es ist so weit, Sie können mb gutem Gewissen .behaupten, das Gesetz kommt. Glauben
Sie nicht, daß dies manchem Börsenspekulanten sehr wichtig sein könnte."
„Vielleicht!"
„Verstehen Sie mich nun richtig? Wie ich aus allem herausgehört habe, sind die Beziehungen zwischen dem Bankhaus Koch und dem Ministerium ziemlich . . . innige, gute!"
„Gesellschaftliche!"
„Und das ist die Gefahr! Herr Regierungsrat, überlegen Sie sich, wie rasch ist ein Wort unbedacht gesprochen, ein andeutendes Wort. Es gibt auch Situationen, die man herbeiführen kann, wo in der Laune manchmal ein Wort mehr gesprochen wird. Sie wissen doch wie es zugeht. Ein Lächeln, eine Andeutung genügt unter Umständen, um sich ein Bild zu machen. Wäre es nicht möglich, daß dieser Koch ein fabelhaftes Geschick hat, sich jeweils von den betreffenden Beamten Kenntnis von dem oder jenem Projekt zu verschaffen?"
Brettschneider sah ihn bestürzt an.
„Ja . . . wenn Sie so sprechen . . . dann . . . Teufel nochmal ... da sehe ich das alles in einem anderen Lichte. Natürlich . . . das ist möglich. Die Gefahr . . . wahrhaftig ... die ist da!"
Hochachtungsvoll blickte er auf Zumpe.
Schüttelte dann den Kopf und sagte: „Unglaublich, lieber, junger Freund, erhalten Sie sich Ihren klaren Blick. Ich danke Ihnen für Ihre Worte. Ich werde mit Witte sprechen! Es wird ganz gut sein, wenn . . . dieser Gefahr, die nicht zu leugnen ist. . . begegnet wird. Ich entsinne mich jetzt verschiedener Fälle, wo Gelände dem Staat, der es dringend brauchte, weggeschnappt worden ist, das er dann für teuren Preis wieder kaufen mußte. Ich muß mir das alles mal genau durch den Kopf gehen lassen."
*
Gegen Mittag speiste Anton zusammen mit seinem Bruder in einem nahegelegenen vornehmen kleinen Restaurant.
Georg schien nicht besonders gutgelaunt.
„Wie mir bekannt geworden ist, Anton," sagte er, seine Suppe löffelnd, „hast du deinen Vorgesetzten zu . . . Bier und Essen eingeladen! Exner hat euch alles heraufgebracht.«
„Stimmt! Donnerwetter, du wirst gut von deinen Spitzeln unterrichtet."
Georg zog die Augenbrauen hoch und sagte scharf:
„Das scheidet für die Zukunft aus! Im Ministerium gibt es das nicht. Du als mein Bruder mußt dich doppelt in acht nehmen."
„Lieber Bruder," entgegnete Zumpe seelenruhig, „laß dir deine Suppe gut schmecken. Ich habe zur Feier meines Antritts mit diesem famosen Regierungsrat eine Stunds gemütlich zusammengesessen bei einem Glase Martins-Bräu — du, das ist vorzüglich — und etwas zum Schnabulieren . . . gut, das ist vorbei . . . Hab' keine Angst, daß sich das wiederholt. Ich will arbeiten und dann ließe es auch mein Geldbeutel nicht zu."
Georg war etwas besänftigt.
„Gut!" sagte er versöhnt. „Deine Erklärung genügt mir. Was ich noch sagen wollte . . . halte Distanz im Verkehr mit Brettschneider. Er ist dein Vorgesetzter, vergiß das nicht! Dir tut etwas Subordination ganz gut! Du hast ein so lautes Wesen! Wenn du den Mund auftust, dann denkt man, ein Ringkämpfer oder Boxer spricht, nicht ein Hilfsarbeiter des Ministeriums."
Zumpe lachte still vor sich hin, dann sagte er bedauernd: „Ha ... ich bin bei dem flüsternden Tenor noch nicht in Schule gewesen. Aber ich werde mir Mühe geben ... zu flüstern!«
(Fortsetzung solgl.)