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Nt. 68 Gegründet 1827
Zum Tode des Reichskanzlers a. D. Müller
Der Abgeordnete Hermann Müller ist eine bekannte parlamentarische Erscheinung der Nachkriegszeit gewesen. Seit dem Sommer 1929, als er sich der ersten lebensgefährlichen Operation unterziehen mußte, hatte er seine alte rische und Spannkraft verloren. In dem müden, bleichen ntlitz sah man seit langem schon die Merkmale des nahen« Len Endes.
Müllers Name wurde zum erstenmal einer über die Parteigrenze hiyausreichenden Oeffentlichkert bekannt, als er zusammen mit dem Zentrumsabgeordneten Dr. Bell den demütigenden Gang nach Versailles zur Unterzeichnung des Friedensvertrags antrat. Sein erster Versuch in der höheren politischen Praxis, den er als Reichsmini st er des Auswärtigen im Kabinett Bauer 1919 bis 1920 anstellte, brachte ihm nicht den Erfolg, den er wohl erwartet hatte. Seine nach dem Kapp- Putsch folgende Kanzlerschaft war nur von geringer Dauer; sie fand ihr Ende mit den Reichstagswahlen, aus denen das erste mittelparteiliche Kabinett ohne die Sozialdemokratie hervorging.
Erst acht Jahre später, nach der Auflösung der Rechtskoalition, zog Hermann Müller wieder in die Reichskanzlei ein, sein Kabinett stand jedoch aus schwachen Füßen. Der ihm zugrunde liegende Gedanke einer Großen Koalition war von vornherein dadurch beeinträchtigt, daß keine Fraktion sich mit dem wirklichen Willen zur Verständigung untereinander zu dieser Regierungsbildung bekannte. Die Pegierungsverhältnisse in Preußen bereiteten auch dem Reichskabinett schwere Stunden. Auch hier zeigte sich, daß Hermann Müller zwar guten Willens war. feste und zuverlässige Verhältnisse zu schaffen, daß sich jedoch sein Wille als nicht stark genug erwies, die parteipolitischen Schwierigkeiten zu meistern. Der Kampf um das Panzerschaff A, der Ende 1928 schärfste Formen annahm, verhängte nicht nur über das Kabinett die Gefahr des Auseinanderfallens, sondern brachte die von Müller geführten sozialdemokratischen Minister, die sich für das Panzerschiff einsetzten, in offenen Gegensatz zu Partei und Fraktion.
Wenig glücklich war seine Arbeit in Genf im September 1928. Sein erster Versuch auf dem schlüpfrigen Parkett des Völkerbunds endete bekanntlich mit jener unerquicklichen „Einigung", in der die von Müller geforderte vorzeitige Rheinlandräumung, die endgültige Reparationslösung und höch überflüssige Kontrollkommission zu einem politischen Ganzen vermengt wurden. Hermann Müller, der stets nüchtern und ohne persönliche Eitelkeit über seine Taten dachte, machte nicht den geringsten Versuch, diesen Mißerfolg, den er als Sachwalter des erkrankten Stresemann erlitten hatte, zu beschönigen.
An der fortschreitenden Wirtschaftskrise und den immer wieder fehlschlagenden Versuchen, die Arbeitslosenversicherung zu reformieren, ist das zweite Kabinett Müller gescheitert, es trat am 27. März 1930 zurück.
Trauerkundgebung im Reichstag
Die Reichstagssitzung am Samstag wurde mit einer Trauerkundgebung eingeleitet. Der Platz des Abg. Müller war mit einem großen Strauß weißer Kalla geschmückt.
Im Auftrag des Reichspräsidenten nahm Staatssekretär Meißner, außerdem alle Mitglieder der Reichsregierung nebst einigen Staatssekretären an der Trauersitzung teil. Präsident Löbe hielt die Gedenkrede, die von den Anwesenden stehend angehört wurde. Das Bild der Persönlichkeit des Dahingeschiedenen und seines Lebens stehe klar und rein vor jedem Auge. So wenig er nach den neuen Aemtern gestrebt habe, so wenig sei er gewillt gewesen, die Verantwortung im Dienst dex Allgemeinheit nicht auf sich zu nehmen. Die bittere Pflicht, den Vertrag von Versailles zu unterzeichnen, habe er auf sich genommen und dafür die Schmähungen getragen, die nach ihm und neben ihm mancher deutsche Außenminister habe erdulden müssen. Es sei ihm die Genugtuung geblieben, an erster Stelle mitzuhelfen bei der Räumung des Rheinlands, bei der Erleichterung der Reparationslasten durch den Neuen Plan.
Reichskanzler Dr. Brüning führte aus, das deutsche Volk habe in Hermann Müller einen seiner Besten verloren. Als Mensch ein makelloser, ehrenhafter Charakter, gewissenhaft und zuverlässig, auch von seinen politischen Gegnern geachtet, als Politiker und Staatsmann in ganz jungen Jahren in den Brennpunkt der Ereignisse gerückt, sei er in der Lage gewesen, sich eine politische Erfahrung zu sammeln, die ihn befähigte, in den schwersten Augenblicken deutscher Geschichte an führender Stelle zu stehen.
Zum Zeichen der Trauer wurde die Sitzung für kurze Zeit unterbrochen. — Die Mitglieder der Regierung begaben sich zu den Borstandsmitgliedern der sozialdemokratischen Fraktion, um ihnen persönlich ihr Beileid auszusprechen.
Beileid des Reichspräsidenten
Der Reichspräsident hat an die Witwe des Reichskanzlers , a D. Hermann Müller nachfolgendes Handschreiben* ge-
Montag, den 23. März 1931
richtet: „Sehr geehrte gnädige Frau! Die Nachricht von dem Tod Ihres Gemahls hat mich tief betrübt, und ich bitte Sie und Ihre Töchter, zu dem schweren Verlust, der Sie betroffen hat, den Ausdruck meines herzlichen Beileids entgegenzunehmen. Ich werde dem Verstorbenen, dessen lauteres Wollen und dessen treffliche Charaktereigenschaften ich hoch geschützt und dessen Mitarbeit zur Ueberbrückung der politischen Gegensätze ich stets gewürdigt habe, ein treues Gedenken bewahren. Mit der Versicherung meiner aufrichtigen Anteilnahme und meiner ausgezeichneten Hochachtung verbleibe ich Ihr ergebener
(gez.) von Hindenburg."
Reichskanzler Dr. Brüning, Reichsaußenminister Dr. Curtius und der preußische Ministerpräsident Braun haben der Frau Müller ihr Beileid ausgedrückt.
Neueste Nachrichten
Der Brief Schermgers
Berlin, 22. März. Im Reichstag machte die Verlesung des Briefs des verurteilten Ulmer Reichswehroffiziers Scheringer durch den kommunistischen Abgeordneten Kippenberger bei der Beratung des Wehrhaushalts tiefen Eindruck. .Reichswehrminister Grüner hatte soeben erklärt, der von ihm veranlaßte Leipziger Prozeß gegen die Ulmer Offiziere sei notwendig gewesen und habe reinigend gewirkt Die Mitteilung, daß die verurteilten Offiziere nun vom Nationalsozialismus zu den Kommunisten übergegangen seien und, wie es in dem Brief heißt, „sich als Soldaken in
Fernsprecher Nr. 29 105. IshrASNA
die Front des wehrhaften Proletariats einreihen für die Revoluiionierung und Bewaffnung der breiten Blaffen" — wirkte verblüffend. Auch der Minister schien überrascht zu sein. Bon anderer Seite wird nun bestätigt, daß der Bries Scheringers echt und mik Kenntnis und Billigung der beiden andere» verurteilten Offiziere Wendk und Ludin geschrieben worden ist.
Scheringer und Wendt sind Söhn« aktiver Offizier«, Ludin izr der Sohn eines Realschulprofeffors in FreiburA. In Zeitungen verschiedener Richtung wird nun die Frag« aufgeworfen, ob dem Reichswehrminister nicht doch Zweiset aufsteigen werden, ob sein damaliges Vorgehen gegen dr« Ulmer Offiziere notwendig gewesen sei; jedenfalls habe e» diese Wirkung weder vorausgesehen noch gewollt.
Notlage der Reichsknappschaft
Berlin, 22. März. Der Borstand der Reichsknapp, schaft hat der Aeichsregierung mitgeteilt, daß die auf 1. April fälligen Pensionen für über 35 000 Rentenempfänger und die Gehälter für etwas 2500 Verwaltungsangestellte der Knappschaft nur in stark beschränkter Höhe ausbezahlt werden können, wenn nicht das Reich einen bedeutenden Zuschuß oder Vorschuß gebe.
Zollermächkigungsgesetz und Brokpreis
Berlin, 22. März. Das Zollermächtigungsgesetz soll in- sofp^n erweitert werden, als dem in dem Gesetz in der bis. herigen Fassung enthaltenen Preisschutz für den Produzenten ein Verbrauch er schütz gegenübergestellt wer- oen soll. Der Brotpreis soll nämlich für die Zollbemessung mit maßgebend gemacht werden.
Wer ist der Kriegsschuldige?
Die Kriegsabsichten Frankreichs
Paris, 22. März. Die Wochenschrift „L'Europe Nou- velle" veröffentlicht Auszüge aus dem 5. Band der französischen Kriegsschulddokumente Nus der Zeit vom 8. Februar bis 10. Mai 1912, aus denen unumstößlich hervorgeht, daß Frankreich bereits im Jahr 1912 einen Durchmarsch französischer Truppen durch Belgien Vorhalle, auch wenn kein offener Kriegszustand zwischen Frankreich und Deutschland bestünde, sondern wenn nur deutsche Truppen in der Gegend von Aachen zusammengezogen würden. Der damalige Außenminister Po in ca re erklärte z. B. damals, England dürfe in einem Kriegsfall nicht neutral bleiben, auch.wenn der Angriff von französischer Seite ausginge. Und weiter: Die Wiedererlangung von Elsaß- Lothringen rechtfertige allein schon in den Augen des französischen Volks eine militärische Aktion, in die die Großmächte sich hineingezogen sehen könnten und die infolgedessen die volle Kraft Frankreichs in Anspruch nehmen könnte.
Deutschfeindlicher Bund in Belgien
Brüssel, 22. März. In Berviers wurde ein „Bund zur Verteidigung der helgischen Ostgrenze" gegründet, da von Deutschland ein Angriff gegen Belgien drohe. Dem Bund gehören verschiedene Verbände, darunter die „Liga der Deutschfeinde" an.
Der Antrag im Prozeß gegen die Madrider Revolutionäre
Madrid, 22. März. In dem Prozeß gegen die Unterzeichner des revolutionären Aufrufs vom Dezember v. I. beantragte der Generalstaatsanwalt gegen den Hauptangeklagten Alcala Zamora eine 15jährige Gefängnisstrafe und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, gegen die übrigen Angeklagten je 3 Jahre Gefängnis mit Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte.
Deutsch-österreichischer Zollzusammenschluß
Anbahnung des wirtschaftlichen Alleuropa
Aus Wien wird halbamtlich gemeldet, daß die wirtschaftlichen Verhandlungen zwischen Deutschland und Oesterreich zum Abschluß eines Vertragsentwurfs geführt haben, der im Rahmen von Briands Alleuropaplan eine enge brüderliche Zusammenarbeit Deutschlands und Oesterreichs auf wirtschafkspolikischem Gebiet herbeiführen werde. Die beiderseitigen Zollsysteme sollen in der Weise vereinheitlicht werden, daß Oesterreich das deutsche System sich zu eigen mache. Durch Einschaltung gewisser Zölle in der Ueber- gangszeit werden Schutzmaßnahmen für die schwächere österreichische Wirtschaft zu treffen sein.
Ueber diesen Zollangleichungsverlrag wurde am 21. März den Regierungen in Paris, London und Rom amtlich Mitteilung gemacht. Die übrigen in Frage kommenden Staaten, sowohl die an Deutschland und Oesterreich angrenzenden, als auch die weiterhin an dem Abkommen interessierten Länder sollen im Laus dieser Woche über den Inhalt des Vertrags unterrichtet werden. Er stellt auf rein wirtschaftlichem Gebiet einen regionalen Zusammenschluß nach den Gedanken Schobers dar und leitet auf das wirtschaftliche Alleuropa hin, indem andern Staaken die Möglichkeit eröffnet wird, sich dem Vertrag anzuschliehen. Im übrigen bleibt Deutschland und Oesterreich das Recht, für sich mit dritten Staaten Handelsverträge abzuschließen.
Im deutsch-österreichischen Warenverkehr sollen also nach dem Vertrag grundsätzlich keinerlei Ein- und Ausfuhrzölle mehr erhoben werden. Ueber die Notwendigkeit und Art besonderer Zwischenzölle für eine Uebergangszeit ist, wie gesagt, eine besondere Regelung vorgesehen, ebenso hinsichtlich der Marenmnsahsteuer und für den Verkehr nnt denjenigen Waren, für die zurzeit Monopole oder Verbrauchsabgaben bestehen. Die Verteilung der eingehenden Zölle soll nach einem besonderen Verteilungsschlüssel vor
genommen werden. Verbote für Einfuhr, Ausfuhr und- Durchfuhr von Waren sollen zwischen beiden Staaten nicht bestehen dürfen. Ausnahmen, die sich aus der öffentlichen Sicherheit und Gesundheitspflege ergeben, werden besonders aufgeführt. Für Fälle von Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung und Anwendung des Wirtschaftsvertrags ist ein gleichttzi^ig zusammengesetzter Schiedsausfchuß in Aussicht genommen.
Die Vertreter der deutschen Länder und die Partei« sichrer wurden am Samstag durch den Reichsaußen- nrinister Dr. Curtius von dem Vertragsentwurf in Kenntnis gesetzt. Die endgültigen Verhandlungen sollen sofort' nach Ostern beginnen, so daß der Vertrag in zwei oder drei Monaten unterzeichnet und Anfang nächsten Jahrs in Kraft gesetzt werden könnte. Oesterreich wird sich bemühen, in die bisher von Deutschland abgeschlossenen Handelsverträge einzutreten. Eine besondere Ausgabe ist noch, wie bemerkt, die Anpassung der inneren Verbrauchsabgaben und Steuern, wozu das österreichische Tabak- und Zündholzmonopol, die Biersteuern, Umsatzsteuer und ähnliches gehören.
Durch die Vereinbarungen wird der innere Markt Deutschlands um 10 Prozent, für Oesterreich natürlich :n sehr viel stärkerem Maße vergrößert. Bestimmend war auch, daß die Bemühungen des Völkerbunds aus handelspolitischem Gebiet bisher gescheitert sind. Außerdem vollziehen sich gerade im Südosten Europas schon seit einiger Zeit wirtschaftspolitische Aenderungen, die !m Augenblick noch nicht klar zu übersehen sind, sicher aber auch für Deutschland große Bedeutung haben. Auch in diesem Zusammenhang wird die handelspolitische Stellung beider Staaten durch das Abkommen zweifellos gestärkt werden.