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Nr. 243 Gegründet 1826 Samstag den 17. Oktober1925 Fernsprecher Nr 29 98. Jahrgang
VersUrsung der Lage durch dkll MchiedMrMg.
Deutschlands »moralische Befriedigung- — Wir »dürfen- am gleiche« Tisch mit den Alliierte« fitze«.
Locarno, 16. Okt. Die Rechtssachverstaybigen arbeiteten heute an den Ostschiedsverträgen. Für 12 Uhr mittags war eine Vollsitzung vorgesehen, sie wurde aber aus unbekannten Gründen auf 4 Uhr nachmittags verschoben. Um 12 V- Uhr hatte Dr. Stresemann im Palast-Hotel eine Besprechung mit Chamberlain und B r i a n d.
Nach einer Meldung der T.U. ist die Krise in Locarno keineswegs überwunden. Es werde von den Besprechungen am Freilag abhängen, ob die Verhandlungen fortgesetzt werden können. Die Lage sei dadurch verschärft, daß Skrzynski auf keinen Fall vom Ostschiedsvertrag abgehen wolle, während von deutscher Seite erkärt worden sei, daß sie keinesfalls den Ostoertrag in Locarno abschließen werde.
Nach Pariser Blättern wende Frankreich die Auslassung der französischen Bürgschaft im Sicherheitsvertrag durch neue besondere Militärverträge mit Polen und der Tschechoslowakei wettmachen.
Mussolini in Locarno
Der italienische Ministerpräsident Mussolini ist gestern abend in Locarno eingetroffen und bei einem faszistischen Freund abgestiegen. Chamberlain und Briand statteten ihm alsbald einen Besuch ab. Heute vormittag 10 Uhr erschien Mussolini in Begleitung des Unterstaatssekretärs Grandi im Esplanade-Hotel, um dem Reich skanz- l e r und Dr. Stresemann einen Besuch zu machen. Der Besuch wurde nachmittags 1 Uhr vom Reichskanzler erwidert. Um 10.45 Uhr erschien Mussolini bei Chamber- lain und Briand im Palast-Hotel. Der Belgier Vander v e l d e beteiligte sich als Sozialdemokrat nicht an der Begrüßung des Faszisten Mussolini.
Konferenzschluß am Samstag?
Der Havasberichterstatter berichtet, die Konferenz werde ein allgemeines Protokoll ausarbeiten, das den Abschluß der Verhandlungen festlege und die vorgesehenen 7 diplomatischen Instrumente als Anhang enthalte. Die verschiedenen Abkommen werden von den Ministern mit ihrer vorläufigen Unterschrift versehen, die nur sie persönlich verantwortlich macht. Die förmliche Unterzeichnung werde sodann die Regierungen binden, um aber die Verpflichtungen der Staaten selbst festzulegen, sei die Bestätigung durch die Parlamente erforderlich. Wahrscheinlich werde der Zeitpunkt der Veröffentlichung Mitte nächster Woche erfolgen, wenn die
verschiedenen Regierungen von dem Morttaut Kenntnis genommen haben. Die Konferenz werde voraussichtlich am Samstag geschlossen.
Unkerzeichnungskonfcrenz in London
Paris, 16. Okt. Der „Qüotidien" will ans Locarno erfahren haben, daß im Dezember in London eine weitere Konferenz für die Unterzeichnung der in Locarno besckstos- senen Verträge stattsinden werde
Briand wird beglückwünscht
Paris, 16. Okt. Briand teilte gestern nachmittag dem Ministerpräsidenten Painleve durch Fernsprecher den „glücklichen Ausgang" der lOtägigen Verhandlungen in Locarno mit. Painlsve übermittelte sofort Briand die Glückwünsche der französischen Regierung. Er erklärte, der Tag der Annahme des rheinischen Sicherheitsvertrags sei ein Datum von geschichtlicher Bedeutung. Er könne hinzufügen, daß auch die Sicherheitsverträge Deutschlands mit Polen und der Tschechoslowakei aus gutem Wege seien.
Briand übersandte den Wortlaut i>es Sichercheitsverrrags sofort durch einen Sonderboten an Painleve.
Die Pariser Blätter rühmen die Geschicklichkeit Briands, dem es gelungen sei, den auf dem Siegerrecht Frankreichs begründeten Vertrag von Versailles unversehrt zu erhalten. Deutschland habe eine „beträchtliche moralische Befriedigung" erlangt, indem die deutsche Abordnung, zugelassen auf dem Fuß der Gleichheit, in Locarno am gleichen Tisch wie die verbündeten Abordnungen sitzen durste und sogar die Regierung in Berlin gebeten worden sei, in das „europäische Konzert" wieder einzutreten. — Welch unverschämter Hohn!
Die Londoner Presse ist sehr befriedigt, daß Deutschland dem Sicherheitsvertrag zugestimmt habe, na mentlich sei es von Wichtigkeit, daß Deutschland nunmehr in den Völkerbund eintreten werde. Der „Daily Telegraph" sogt, Dr. Luther und Stresemann haben durch ihre Haltung in Locarno das Vertrauen in ihre Aufrichtigkeit und in ihren guten Willen gerechtfertigt. Deutschland erreiche durch den Vertrag nicht nur seine Sicherheit, sondern es solle auch die „Zusicherung einer baldigen Räumung Kölns, sowie einer Verminderung der Besatzung" erhalten. Chamberlain habe seine Staatskunst bewährt.
Tagesspiegel
In vielen Betrieben der chemischen Industrie in Bayern haben die Arbeiter die Arbeit zu den bisherigen Löhnen wieder ausgenommen. Die Aussperrung belrisfl also nur noch die Betriebe, in denen die neuen Lohnforderungen aufrechterhalten werden.
Politische Wochenschau.
Wer könnte sich vermessen, zü behaupten, er wisse, was da unten in Locarno los ist? Was weiß einer davon, der sich, sei es aus Interesse an der Sache oder berufsmäßig, täglich durch die spalten- und seitenlangen Berichte der Zeitungen durcharbeiten mußte, die sich oft genug nach wenigen Zeilen, jedenfalls aber von einem Tag zum andern widersprechen; die zum Teil freie Erfindungen der Berichterstatter in Locarno waren, oder sich als Bären erwiesen, die sich die Berichterstatter in den nächtlichen Zusammenkünften am Spieltisch im Palasthotel, dem Absteigequartier Briands und Chamberlains, von gegnerischen Abordnungsmitgliedern untergeordneten Rangs oder von verschmitzten Kollegen aus dem Ententelager aufbinden ließen und die natürlich nur darauf berechnet waren, die deutsche Abordnung aus der Konferenz gegenüber Briand ins Hintertreffen zu dringen. Ganz zu schweigen von jenen Berichten gewisser Berliner Blätter, die lediglich aus parteipolitischen Mixturen zusammengobraut waren und die Briand besondere Freude machten, denn er konnte sie in den Sitzungen und Privat- gesprächen als willkommene Trümpfe gegen die deutschen Unterhändler ausspielen. Die führenden Mitglieder der deutschen Abordnung sollen empört gewesen sein, daß ihnen deutsche Blätter geradezu in den Rücken gefallen sind. Da war es auf der Gegenseite ganz anders. Nicht als ob die Berichte der Pariser und Londoner Blätter mehr der Wahrheit entsprochen hätten, aber diese Blätter wurden von den maßgebenden Stellen ausschließlich und nicht zu kärglich mit solchen Mitteilungen versehen, die geeignet waren, den Standpunkt der Verbündeten mittelbar oder unmittelbar zu stützen und in Deutschland Stimmung für ihr „versöhnliches Entgegenkommen" zu machen. Die verschwiegene Vorbereitung und Leitung, die man „Regie" nennt, und auf die sich namentlich die Franzosen von jeher ausgezeichnet verstehen, hat sich auf der Gegenseite in Locarno wieder gut bewährt. Auf deutscher Seite ist dagegen in dieser Beziehung so gut wie nichts geschehen; allgemein bedauern die deutschen Berichterstatter das Versagen der amtlichen deutschen Pressestelle in Locarno und die Zuaeknöpftheit der führenden Persönlichkeiten. was an den falschen Nachrichten, an der Füh- nmgslosigkeit und dem Avseinnnderfallen der deutschen Presse nicht ganz ohne Schuld ist.
Dies alles vorausgesetzt, läßt sich heute vielleicht folgendes Bits gewinnen: Trotz der Seefahrt der vier Minister am vorigen Samstag und emgegen den vielfach, besonders im Ausland verbreiteten Nachrichten waren die Aussichten für eine Einigung in Locarno gering, als die Konferenz am Montag in die zweite Verhandlungswoche eintrat, so daß selbst Priand von einer Krise sprach. Der bisher behandelte Sicherheits vertrag bot keine Schwierigkeiten mehr, nachdem die juristischen Sachverständigen eine „Formel" ausgetüftelt hatten, die anscheinend beide Teile befriedigte. Aber nun kamen die Hauptsachen, wenigstens die Hauptsachen für Deutschland, die der schlaue Briand in seinem VerhandlungsprogramiH als „N e b e n s r a g e n" oder wie man jetzt auch liest, als „Rückwirkungen" an den Schluß gesetzt hatte. Der Sicherheitsvertrag, mit dem freiwilligen Verzicht Deutschlands auf Elsaß-Lothringen und den damit zusammenhängenden Zugeständnissen war ja doch einseitig eine deutsche Gabe an Frankreich über den Versailler Vertrag hinaus, und es war eine Selbstverständlichkeit, daß Deutschland dafür auch etwas von Frankreich haben wollt«. Die Besetzung des linken Rheinufers, die im Friedensvertrag mit der „Sicherheit" Frankreichs begründet wurde, hat tatsächlich ihren Sinn verloren, wenn der Sicherheitsvertrag unterzeichnet wird; besteht Frankreich dann dennoch auf der Besetzung, so ist es nur ein Beweis, daß es ihm bei der Besetzung in Wirklichkeit nicht um die Sicherheit, sondern darum zu tun ist, im Verfolg der französischen Eroberungspolitik seit Ludwig XIV. sich am Rhein festzusetzen, daß also die Besetzung nicht Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck ist.
Dehsalb forderte die deutsche Abordnung als „Rückwirkungen" des Sicherheitsvertrags die sofortige Räumung des ersten Besetzungsabschnitts (Köln), die vertragsgemäß bekanntlich schon am 10. Januar 1925 hätte erfolgen müssen, ferner eine billige Aenderung der bisherigen unerträglichen Aesetzungsausübung, die nichts anderes als eine Fortsetzung des Kriegs ist, dazu womöglich eine Verkürzung der Besetzungsfristen überhaupt, weiterhin die Wiederherstellung des sogenannten Rheinlandabkommens, das durch die gegenwärtige Saarregierung willkürlich verletzt worden ist, end- A Aufhebung der rein quälerischen Forderungen über die Entwaffnung und die Erdrosselung des deutschen Luftfahrwesens. Von all dem wollte aber Briand nichts hören; zu Mmen war er gern bereit, .zu geben wollte ihm nicht in den Vinn. Er wurde so erbost, daß er nach einer Unterredung mit Stresemann gesagt haben soll: „Wenn die Deutschen auf ihren Bedingungen beharren, dann haben weitere Verhandlungen keinen Zweck mehr." Aber die Deutschen scheinen 6>en doch ihre Bedingungen für die Unterzeichnung des Sicherheitsvertrags zunächst nicht fallen gelassen zu höben, und Vriand und Chamberlain mußten besorgt sein, daß ihnen das wertvolle Sicherheitssell den Bach hinunterschwimme. Möglicherweise haben diese Befürchtungen dazu beigetra- 9en, daß sie gewisse Zugeständnisse bezüglich des Sicherheitsvertrags selbst bezw. des mit ihm verknüpften Eintritts
Deutschlands in den Völkerbund und der SchiedsvertrSge machten.
In dieser „Krise" sandte nun Reichskanzler Dr. Luther den Vorstand der Reichskanzlei, also seinen unmittelbaren amtlichen Mitarbeiter, Staatssekretär Dr. Kempner nach Berlin, angeblich nur um dem Reichskabinett und dem Reichspräsidenten über den Stand der Dinge in Locarno Bericht zu erstatten. Bei Hindenburg war Kempner in schwach einer Stunde fertig, das Kabinett aber brauchte zwei lange Sitzungen, am Dienstag abend und am Mittwoch mittags, um den Bericht entgegenzunehmen, — es wird also schon gestattet sein, zu vermuten, daß nicht nur berichtet, sondern auch besprochen wurde, wenn auch die m G .mtliche Versicherung -er Form nach zutreffen mag, daß Ps „beschlössest" wurde. Aber die Netze Kempners scheint Wunoer gewirkt zu haben. Er war noch nicht wieder in Locarno zurück, als der hohe Rat daselbst am 15. Oktober die Welt schon durch die angeblich gemeinsam vereinbarte Erklärung in Staunen setzte, die achte Vollsitzung der Konferenz habe „Len Gesamttext des Entwurfs eines Sicherheitspakts" sowie den Text von Entwürfen der Schiedsverträge zwischen Deutschland und Frankreich bzw. zwischen Deutschland und Belgien" angenommen. Bei der Verlesung des Textes durften der Tscheche Benesch und der Pole Skrzynski, die auf französische Einladung Mitte voriger Woche in Locarno auftauchten und alsobald eine außerordentliche Geschäftigkeit entwickelten, zuhören, um sich ein Beispiel zu nehmen, wie weit man in einem Schiedsvertrag gehen dürfe und wie weit nicht.
Waren aber die sieben früheren amtlichen Berichte so nichtssagend, als man sie nur ausklügeln konnte, so mutz man beim achten fragen, was er eigentlich mit den sinnreichen Umschreibungen sagen oder verdecken wolle. Der Gedanke scheint zu sein, der Sicherheitsvertrag und die Schiedsverträge gen Westen seien glücklich unter Dach und Fach,— offenbar möchten Briand und Chamberlain der Welt diesen Glauben beibringen. Chamberlain feierte nämlich am 16. Oktober den 62. Geburtstag, und wie könnte der, so meint die Londoner „Times", in Locarno würdiger begangen werden, als wenn die Deutschen dem edlen Lord die Verträge als Geburtstagsopfer zu Füßen legten. In den Geburtstagswein wurde aber mit wünscbenswerter Schnelligkeit von den „politischen Kreisen" in Berlin ziemlich viel Wasser gegossen durch die Feststellung, daß, wie der amtliche Konserenzbericht selber zugebe, di« Unterzeichnung der Verträge auf eine spätere Sitzung verschoben worden sei, weil nämlich — so sagen die politischen Kreise — die endgültige deutsche Zustimmung erst erfolgen kann, wenn über alle Locarnosragen eine Einigung erzielt i st. Diese Fragen sind aber ohne Zweifel besonders jene deutschen Bedingungen, von denen Briand nichts hören wollte. Ohne Räumung keinen Sicherheitsvertrag! mögen die Verbündeten schmeicheln oder poltern. Zum Weltvertrag erfährt man. der deutscherseits beanstandete Art. 16 der Völker
bundssatzung habe eine Auslegung erhalten, wonach dos Durchmarschrecht und ebenso Deutschlands Mithilfe bei der vom Völkerbund über einen Staat verhängten Wirtschaftsblockade der Form nach und tatsächlich wegfalle: die französische Bürgschaft.ftir die östlichen Schiedsverträge werde im Vertrag nicht ausdrücklich angeführt. Aber das sind Selbstverständlichkeiten, keine Gegenleistungen. Als solche müssen von deutscher Seite die Bedingungen aufrechterholteu werden, und ihre Erfüllung muß vertraglich fest gelegt werden. Formeln und Versprechungen von Staatsmännern, selbst wenn Briand und Chamberlain die ihnen e.ü- gezwungenen halben Zusagen un Augenblick ernst me:n-n sollten, dürfen der deutschen Abordnung nicht genügen, denn Staatsmänner sind sterblich und auf einen Briand kann über Nacht ein Poincorö und Millerand folgen. Kein Reichskabinett und kein Reichstag würde einen Sicherheitsvertrog bestätigen, dessen „Rückwirkungen" an Versprechungen geknüpft wäre;. Wir haben unsere Erfahrungen gemacht!
Eine Begleiterscheinung der Konferenz von Locarno ist der Abschluß des deutsch-russischenHandelsver- trag«, wenn man ihn so nennen will, denn er ist eigentlich gar kein Handelsvertrag, dazu ist er für uns viel zu schlecht. Aber die Diplomaten glaubten in ihm gegenwärtigen Augenblick nicht entbehren zu können, — mehr läßt sich vorläufig nicht darüber sagen, solange über den Sicherheitsoertrag noch verhandelt wird. Dagegen ist eine Konferenz zu erwähnen, die mit Absicht sich neben die von Locarno stellt. Das ist der Kongreßdereuropäischen Minder Helten, der am 15. Oktober in Genf zusammengetreten ist, um eine „Front der Minderheiten" zu bilden. Allmählich ringt die von der haßerfüllten Politik der Nachkriegszeit erwachte, vom besiegten Deutschland geweckte europäische Vernunft wieder um Anerkennung, in der Erkenntnis, daß der Friede heute nicht mehr eine rein außenpolitische Angelegenheit ist, sondern daß sein« wertvollsten Grundlagen in den innerpolitischen Verhältnissen der verschiedenen Staaten begründet ist. Bei dem heutigen völkischen Durcheinander in Mittel- und Osteuropa kann die nationale Frage durch eine Neuregelung der staatlichen Grenzen allein nicht mehr gelöst werden; stets wird es Millionen von Menschen geben, die öls Angehörige fremder Nationalitäten leben müssen. Solange aber die herrschenden Staats- völker das Bestreben haben, di« innerhalb ihrer Staatsgrenzen lebenden andern Völker auszurotten oder zu entnatio- nalisieren — wie es z. B. die Italiener, Tschechen, Polen und Serben tun — werden nur Herde der Unzufriedenheit geschaffen, aus denen im gegebenen Augenblick Revolutionen und Kriege empor,züngeln. Man muß sich vor Augen halten, daß die völkischen Minderheiten Europas heutzutage rund 50 Millionen Menschen umfassen. Zwischen allen diesen völkischen Minderheiten hat sich in den Nachkriegsjahren ein immer dichteres Netz von Beziehungen gesponnen, und jetzt baben sie alle zum erstenmal ihre Vertreter zu einem gemeinsamen Kongreß entsandt. Für Deutschland ist diese Taauna darum so besonders beachtenswert, weil uriter allen